Rubén González Cuerva / Alexander Koller (eds.): A Europe of Courts, a Europe of Factions. Political Groups at Early Modern Centres of Power (1550-1700) (= Rulers & Elites; Vol. 12), Leiden / Boston: Brill 2017, X + 263 S., 1 Tab., ISBN 978-90-04-35057-1, EUR 119,00
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Mit dem griffigen Bild "Photography of a Ghost" erläutern Rubén González Cuerva und Alexander Koller in der Einleitung des vorliegenden Bandes die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, Interessengruppen an frühneuzeitlichen Höfen sichtbar werden zu lassen. Der in englischer Sprache veröffentlichte Sammelband verwendet den Schlüsselbegriff "faction", der im Deutschen mit "Faktion" nur unzureichend übersetzt werden kann. Er soll hier aber beibehalten werden, weil der Begriff eine politische Bedeutung impliziert, die die einzelnen Beiträge tatsächlich zugrunde legen und die auch der Intention der Herausgeber Rechnung trägt. Sie betonen, dass "Faktion" und "Partei" bzw. "Parteiung" in frühneuzeitlichen Quellen zwar austauschbar erscheinen, entscheiden sich jedoch für den Begriff "Faktion", um sich klar vom modernen Konzept der (politischen) "Partei" abzugrenzen (4-9). Sie nehmen hiermit Bezug auf die Begriffsdefinition von Simon Adams, der 1982 erstmals eine Definition von "court faction" vorgelegt hatte. Adams' Definition orientierte sich am englischen Hof und wurde mit Blick auf andere - europäische - Höfe stark diskutiert. Im Vordergrund stand dabei stets die Frage, ob es sich bei Faktionen um einen strukturellen Trend [1] oder um ein Krisenphänomen [2] handelte.
González Cuerva und Koller entwickeln die Grundlagen des Sammelbandes, indem sie zunächst skizzieren, dass sie unter frühneuzeitlichen Faktionen informelle Interessengruppen verstehen, die sich um einen oder mehrere zentrale Akteure gruppierten. Anschließend geben sie einen - in aller gebotenen Kürze doch sehr gründlichen - historiografischen Überblick. Hierin wird herausgearbeitet, dass miteinander konkurrierende Faktionen ebenso zum frühneuzeitlichen Hof zu gehören schienen wie offizielle diplomatische Vertreter. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass die Hofgeschichtsforschung Faktionen bislang kaum in ihre theoretischen Reflexionen eingebunden hat.
Insofern eröffnet der Sammelband neue Perspektiven für die Hofgeschichtsforschung. Die einzelnen Beiträge lenken ihr Augenmerk auf frühneuzeitliche Faktionen und die Frage, ob es sich um langfristige Interessengruppen handelte oder vielmehr um Krisenindikatoren mit temporärer Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen jeweils die Rahmenbedingungen, in denen sich Hoffaktionen entfalten konnten: Organisations- und Kommunikationsstrukturen des Hofes, politische und konfessionelle Konstellationen, aber auch die Charaktereigenschaften einzelner Monarchen.
In zehn Fallstudien werden diese Fragen schließlich aufgegriffen. Die Höfe wurden so ausgewählt, dass nicht nur die politisch einflussreichsten Dynastien behandelt, sondern Erbmonarchien genauso berücksichtigt werden wie Wahlmonarchien. Außerdem wird neben römisch-katholischen und protestantischen Höfen mit dem Hof in Istanbul auch ein muslimischer Hof in die Analyse einbezogen. Konkret handelt es sich um die Höfe in London, Paris, Rom, Istanbul, Madrid, Wien / Prag, Brüssel, Venedig, Nancy und Turin.
Ausgehend vom englischen Hof Heinrichs VIII. arbeitet Janet Dickinson wesentliche Elemente frühneuzeitlicher Faktionen heraus. Die Ereignisse im Mai 1536 dienen ihr als Szenerie für die Frage, wie Faktionen entstehen konnten und wie sie sich in akuten Krisen veränderten. Dickinson geht es dabei nicht um den Sturz Anne Boleyns und die Gründe für ihre Hinrichtung, sondern um die Konstituierung der Faktionen für oder gegen Anne. Detailliert beschreibt sie die Möglichkeiten und Grenzen, die es erlauben, einzelne Personen einer Gruppe zuzuordnen und deren Selbstvergewisserung durch Loyalitätsbekundungen und Gunsterweise aufzuzeigen.
Im zweiten Beitrag stellt David Potter ebenfalls eine Krise in den Vordergrund: Nach dem Tod Heinrichs II. sprach theoretisch alles dafür, dass sich Antoine de Bourbon im französischen Machtkampf durchsetzen würde. Seine familiäre, aber auch seine politische Position als Gouverneur von Guyenne hätten es ihm ermöglichen müssen, eine breite Gefolgschaft hinter sich zu vereinen. Weshalb er trotz dieser Vorzeichen scheiterte, erörtert Potter, der aus dem Einzelfall schließlich allgemeine Erkenntnisse zu den Grenzen politischer Mobilisierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ableitet.
Maria Antonietta Visceglia schließt mit ihrem Beitrag über den Papsthof in Rom an Potters Ausführungen an. Sie zeigt, inwiefern das französische Machtvakuum nach dem gewaltsamen Tod Heinrichs III. den Papst in den 1590er-Jahren in Zugzwang brachte. Sie stellt zunächst die spezifischen Elemente des Papsthofes vor, der durch die Wahl des Konklaves regelmäßig neue Familien in Machtpositionen brachte. Ausgehend von der Konkurrenz einzelner römischer Adelsfamilien und ihrer Verortung innerhalb der französischen oder spanischen Faktion gelingt es ihr überzeugend die besonders wandelbare, ja geradezu fragile Situation der römischen Machtstrukturen herauszuarbeiten und konkrete Faktoren für den Erfolg einzelner Interessensgruppen zu benennen, die von der Länge des Pontifikats, über die Anzahl der Kardinäle und die Einflussmöglichkeiten der Kardinalnepoten bis hin zur Bedeutung institutioneller Akteure wie etwa der Inquisition reichten.
Ähnlich wie Visceglia mit den Auseinandersetzungen der Faktionen in Rom argumentiert, setzen sich die Beiträge von Martínez Millán zum Habsburger Hof in Madrid und Rubén González Cuerva und Pavel Marek zum Habsburger Hof in Wien bzw. Prag mit konkurrierenden Hoffaktionen auseinander. Während Millán die kastilische Faktion als Gegenpart zur ebolistisch-päpstlichen Faktion um Königin Isabella in den Vordergrund rückt, befassen sich González Cuerva und Marek mit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nachdem sich Kaiser Karl V. 1555 nach Yuste zurückgezogen hatte und die Herrschaft an seinen Bruder Ferdinand bzw. seinen Sohn Philipp II. übergegangen war. Das in zwei Linien aufgeteilte Haus Habsburg versuchte seine dynastischen Verbindungen durch ein Netz von Hofstaatsangehörigen und Amtsträgern sicherzustellen, die am Wiener / Prager Hof als "partido español" bzw. als "faccíon española", am Hof in Madrid wiederum als kaiserlich-päpstliche Faktion bekannt waren (130f.). Beide Beiträge verdeutlichen einerseits, wie die nur ansatzweise in den Quellen greifbaren Mitglieder von Hoffaktionen die politischen Entscheidungen zu beeinflussen verstanden, andererseits aber auch, welche Ausmaße die Netzwerke einzelner Akteure innerhalb der europäischen Höfe erreichten. Gleichzeitig zeigen González Cuerva und Marek, dass man es sich zu einfach macht, wenn die Zusammensetzung der einzelnen Hoffaktionen auf gemeinsame Herkunft - "spanisch" oder "deutsch" - reduziert wird. Zwar lässt sich Herkunft oft als ein konstituierendes Merkmal von Faktionen erkennen, allerdings spielen andere Merkmale wie beispielsweise die konfessionelle Zugehörigkeit in der Frühen Neuzeit eine entscheidende Rolle.
Ein weiterer Beitrag nimmt mit dem Hof in Brüssel erneut einen Habsburger Hof in den Blick, andere untersuchen aber auch kleinere Dynastien in Nancy und Turin. Der Sammelband zeichnet sich durch diese heterogene Zusammenstellung europäischer Fallstudien aus. Die oft genug in den Quellen nur indirekt zu fassenden Hoffaktionen werden in einer Dichte lebendig gemacht, die auf weitere Folgestudien hoffen lässt. Mittlere und kleinere Höfe des Alten Reiches bieten hier Potential, um die europäische Vernetzung der Hofgesellschaften, aber auch informelle Machtkonstellationen aus ihrem Schattendasein zu befreien.
Anmerkungen:
[1] Robert Shephard: Court Faction in Early Modern England, in: Journal of Modern History 64 (1992), 727, 741.
[2] David Starkey: From Feud to Faction. English Politics "circa" 1450-1550, in: History Today 32 (1982), Nr. 11, 16. Janet Dickinson greift die Frage der Definition von "Faktion" unter dem Titel "Redefining Faction at the Tudor Court" im ersten Beitrag noch einmal explizit auf (20-25).
Britta Kägler