Jens Röhrkasten / Coralie Zermatten (eds.): Historiography and Identity. Responses to Medieval Carmelite Culture (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen; Bd. 68), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2017, 206 S., 14 Farb-, eine s/w-Abb., ISBN 978-3-643-90737-0, EUR 29,90
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Gert Melville, wissenschaftlicher Geschäftsführer und Koordinator der "Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte" (FOVOG), gibt mit seinem Team die Reihe "Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter" in zwei Unterreihen heraus. [1] Knapp ein Dutzend der in den "Abhandlungen" seit 1996 erschienenen 71 Bände widmen sich dem mendikantischen Leben. Die Forschungen hatten vor allem die Franziskaner und Dominikaner, gelegentlich auch die Augustiner-Eremiten, zum Gegenstand. Umso erfreulicher ist es, dass mit dem hier vorgestellten 68. Band der Abhandlungen nun erstmals ein Sammelband zum jüngsten der vier großen Bettelordnen, den Karmeliten, vorliegt.
Der Weg der Karmeliten in die mendikantische Welt war von Anbeginn an schwierig und nicht unangefochten. Zwischen ihrem Herkommen aus einer Eremitengemeinschaft am Berg Karmel bis zu ihrer Etablierung unter den Bettelorden in den mittelalterlichen Städten lagen Welten. Der Wandel von der vita contemplativa zur vita activa erfolgte in einem spannungsreichen Transformations- und Institutionalisierungsprozess.
Die drei anderen Mendikantenorden, im urbanen Umfeld anerkannt und ausgestattet mit Rechten und Zuständigkeiten, ließen ihnen wenig Platz. Sie sahen die gegenüber dem Pfarrklerus behaupteten Rechte in Gefahr, als die vierte Ordensgemeinschaft zusätzlich städtischen Lebensraum und Anteil an der paraparochialen Seelsorge für sich beanspruchte. Erschwerend für die Legitimation der Karmeliten wirkte sich das Fehlen einer charismatischen Gründergestalt aus. Dieser intern und extern als Makel empfundene Mangel führte zu erheblichen Problemen bei der Anerkennung des Ordens und seiner Ausstattung mit päpstlichen Privilegien.
Vor diesem Hintergrund ist die ordensinterne Historiographie der Karmeliten zu verstehen - ihre Identitätssuche und die Herausbildung einer Binnenperspektive, die die historischen Wurzeln bis auf die Propheten Elija und Elisha zurückführte. Was nach innen zur offiziellen Lesart erhoben und gelehrt und nach außen gegen Spötter, Zweifler und Kritiker verteidigt wurde, fand seinen Ausdruck in programmatischen Texten und Darstellungen, in der Visualisierung bei der Gestaltung sakraler Räume und im ikonographischen Repertoire von Handschriften und Drucken. Dass sich die ausgeprägte Geschichtsaffinität der Karmeliten nicht nur in der Zusammensetzung ihrer Klosterbibliotheken spiegelte, sondern auch über die Bibliotheksverwaltung artikulierte, konnte kürzlich exemplarisch erstmals nachgewiesen werden. [2]
Der vorzustellende Sammelband zu Historiographie und historischem Selbstverständnis im Karmelitenorden verfolgt das Ziel, den wissenschaftlichen Diskurs über die mittelalterliche Geschichte des Karmelitenordens zusammenzuführen und auf einen neuen Stand zu bringen. Die aus der Tagung hervorgegangene Publikation wurde von Coralie Zermatten und Jens Röhrkasten herausgegeben - beides durch einschlägige Forschungsprojekte ausgewiesene Wissenschaftler mit langjähriger Erfahrung in der FOVOG.
In der Einführung leistet Zermatten einen Überblick zu den Diskussions- und Problemfeldern, die sich seit dem Mittelalter mit dem Karmelitenorden als einer historischen Ausnahmeerscheinung innerhalb der vita religiosa in der Innen- und Außenwahrnehmung herausgebildet haben und über Jahrhunderte die Auseinandersetzungen inner- und außerhalb des jüngsten der vier großen Bettelorden bestimmten. Die Herausgeberin erläutert die Gliederung des Bandes, der sich in vier Kapiteln der Position der Karmeliten in der mittelalterlichen Gesellschaft, der Herausbildung einer ordensinternen Historiographie auf der Suche nach Identität, der Selbstdarstellung des Ordens in der Ikonographie sowie Fortwirken und Erinnerung der eigenen Geschichte widmet.
Dieser Gliederung kann sich allerdings kaum einer der Autoren vollständig unterordnen, da das Thema zu komplex für eine strenge Disziplinierung ist. Damit kommt es unweigerlich zu Dopplungen und mehrfachen Neuanläufen, die historischen Wurzeln und die Selbstfindung des Ordens im Konzert der anderen Mendikanten und der Weltgeistlichkeit zu skizzieren. Ein klassischer Schwachpunkt von Sammelbänden, die aus Tagungsbeiträgen erwachsen sind und deren Mitwirkende oftmals eng an der Vortragsform festgehalten haben. Man hätte sich hier im Vorfeld eine stärkere Steuerung durch die Herausgeber und bei ihrer Schlussredaktion eine - so mühsame wie verdienstvolle - Gesamtüberarbeitung zur Erstellung von Querverweisungen zwischen den Einzelbeiträgen gewünscht. Den abschließenden Aufsatz von Gert Melville "The Development of the Carmelite Order in the Context of the Late Medieval vita religiosa" hätte man sich an erster Stelle gewünscht, spannt er doch erfreulich klar und in gewohnter Souveränität den Bogen über die Gesamtthematik des Buches.
Hans-Joachim Schmidt, seit seiner Dissertation über die Bettelorden in Trier eine feste Größe in der Mendikantenforschung, verlangt dem Leser mit dem an den Anfang gestellten Beitrag über die "Positionierung des Karmeliterordens als Bettelorden" gleich einiges ab und setzt manches voraus, was in Folgeaufsätzen erneut breit ausgeführt wird. Der Mediävist und Anglist Jens Röhrkasten widmet sich der Mendikantenforschung seit langem unter regionalen Aspekten und behandelt auch in diesem Fall die Situation der englischen Karmeliten in der Zeit König Edwards II. Coralie Zermatten setzt sich mit der Marienverehrung als einem zentralen Pfeiler karmelitanischer Spiritualität und ihrer Funktion für die Identitätsfindung des Ordens auseinander. Bei der Suche nach charismatischen Gründungsgestalten im Karmel nahm die Gestalt Marias eine Scharnierfunktion zwischen den alttestamentlichen Propheten und dem Neuem Testament ein. Andrew Jotischky, Professor in Lancaster, verbindet zwei seiner Arbeitsschwerpunkte, Kreuzzugsstudien und die Historiographie im Orden der Weißen Brüder, und kann dabei auf seine zentrale Studie zu exakt diesem Thema zurückgreifen. [3] Mit Kevin Alban und Richard Copsey kommen zwei Karmeliten aus der britischen Ordensprovinz zu Wort. Alban knüpft an das Thema seiner 2010 erschienenen Dissertation zum Ordensbruder Thomas Netter an und präsentiert damit einen der wichtigsten spätmittelalterlichen Theologen Englands mit seinem Kampf gegen Wyclifianer und Lollarden. Auch Copsey stellt eine historische Persönlichkeit in den Mittelpunkt: den bei den Karmeliten in Norwich erzogenen, später zum Protestantismus konvertierten Dramatiker und Humanisten John Bale und seine Bedeutung für die Historiographie des Ordens. In seinem Résumé betont der Autor, welch extremen Glücksfall die Arbeiten Bales für den Karmelitenorden in England zu Beginn des 16. Jahrhunderts dargestellt haben. (166/167)
Die literarische Auseinandersetzung der Karmeliten mit ihren Ursprüngen endete nicht in der Frühen Neuzeit - bis heute sind die Angehörigen des Ordens selbst die produktivsten Autoren und Editoren von Darstellungen und Quellen zur Geschichte des Karmel, wie sich auch an der Auswahlbibliographie (197/198) gegen Ende des Bandes ablesen lässt. Alban und Copsey dienen in diesem Sammelband als Ausweis für die Tradition der ordensgeschichtlichen Binnenperspektive, und auch Edeltraud Klueting TOCarm ist hier zu nennen. Sie hat 2012 mit dem "Monasticon Carmelitanum" Maßstäbe gesetzt und die Kenntnisse zu den Niederlassungen des Ordens in Deutschland auf eine neue Basis gestellt. [4] Mit ihrem Beitrag richtet Klueting ihr Augenmerk auf das ikonographische Konzept des Ordens und dessen Funktion für Selbstfindung und Außendarstellung. Anders als in Köln lässt sich das Bildprogramm in Hirschhorn, Frankfurt am Main und Mainz noch an den Wand- und Deckenmalereien ablesen. Kluetings Erörterung schließt sich an die Darstellung der Kunsthistorikerin Christa Gardner von Teuffels an, die hier ihren Forschungsschwerpunkt zu italienischen Altären auf die Welt der Karmeliten im Kontext ihrer Identitätssuche herunterbricht. Die exzellenten Farbabbildungen visualisieren die Ausführungen beider Autorinnen auf beste. Mit ihren Gedanken betreten sie weitestgehend Neuland. Helmut Flachenecker fügt der ordensgeschichtlichen Regionalforschung einen Mosaikstein mit seiner Spurensuche zur Präsenz der Karmeliten in Franken hinzu. In seiner Skizze stellt der Lehrstuhlinhaber für Fränkische Landesgeschichte in Würzburg die Überreste karmelitanischer Bauwerke vor.
Fassen wir zusammen: Das Florilegium zur vergleichenden Ordensgeschichte fügt der im Aufwind befindlichen Forschung zum vierten Bettelorden eine dicht gefüllte Blüte hinzu. Sie im Einzelnen aufzublättern, ist eine bereichernde Erfahrung, die sich unbedingt lohnt. Für die interdisziplinäre Nutzung sollte das Buch in recht vielen Bibliotheken vorgehalten werden.
Anmerkungen:
[1] http://fovog.de/vitaregdt.html (Zugriff: 15.6.2018).
[2] Annelen Ottermann: Die Mainzer Karmelitenbibliothek. Spurensuche - Spurensicherung - Spurendeutung (Berliner Arbeiten zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; 27), Berlin 2 2018.
[3] Andrew Jotischky: The Carmelites and Antiquity. Mendicants and their Pasts in the Middle Ages, Oxford 2002.
[4] Edeltraud Klueting / Stephan Panzer / Andreas H. Scholten (Hgg.): Monasticon Carmelitanum. Die Klöster des Karmelitenordens (O.Carm.) in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (Monastica Carmelitana; 2), Münster 2012.
Annelen Ottermann