Barbara Müller / Monika E. Müller (Hgg.): Die Hamburger Beginen bei St. Jacobi im Kontext ihrer Handschriften und Kultur (= Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; Bd. 21), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 374 S., 26 Farb-, 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13201-5, EUR 68,00
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Die Beschäftigung mit dem Beginenwesen wurde über Jahrzehnte maßgeblich geprägt durch Herbert Grundmann, der in seiner Habilitationsschrift von einer Zwitterstellung der Beginen zwischen den kirchlichen Ordnungen sprach und es schließlich dem Semireligiosentum, einer geistlichen Lebensform von überwiegend Laien ohne Anschluss an die regulierten Orden und Übernahme approbierter Regeln, zuwies. [1] Die von seinen Schülern fortgeschriebene wirkmächtige Sichtweise, die das Beginentum auf eine quasi unvollkommene Durchgangsstufe des Ordenslebens reduzierte und für die unter Häresieverdacht verfolgte Bewegung einen spätmittelalterlichen Prozess der Verklösterlichung konstatierte, wurde durch die Forschungen des Archivars Jörg Voigt in Frage gestellt und neu akzentuiert. [2] Nachfolgende Arbeiten, somit auch der hier vorzustellende Sammelband, können hinter Voigts neuen Zugriff auf die Spezifika dieser religiösen Lebensweise von Frauen nicht mehr zurück.
Aus der Provenienz des Hamburger Beginenkonvents bei St. Jacobi in der Steinstraße hat sich ein Ensemble von 14 mittelniederdeutschen Handschriften und zwei Inkunabeln erhalten, das 1875 in die städtische Bibliothek überführt wurde und sich heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg befindet. Dass es sich hierbei um eine einzigartige Quelle für das religiöse Leben von Frauen im Spätmittelalter handelt, ist seit langem bekannt. Conrad Borchling machte 1899 auf die Bedeutung im ersten seiner Reiseberichte aufmerksam; [3] einen überlieferungsgeschichtlichen Überblick zu den Handschriften leistete 2015 Hans-Walter Stork als Kurator der Handschriftenabteilung. [4]
Auf Initiative seiner Nachfolgerin Monika E. Müller und der Kirchenhistorikerin Barbara Müller veranstaltete die Bibliothek 2019 einen Workshop zum Beginenkonvent, der eine entscheidende Etappe in der Erforschung der Beginenhandschriften markierte, ohne nach eigener Einschätzung eine vollständige Behandlung aller Fragen zu diesem facettenreichen Ensemble mit Forschungspotential auf lange Sicht für sich beanspruchen zu können.
Die Ergebnisse erschienen 2022 in einem von den Initiatorinnen herausgegebenen Sammelband "Die Hamburger Beginen bei St. Jacobi im Kontext ihrer Handschriften und Kultur". Wie der Einleitung zu entnehmen ist, intendierten sie damit "eine weiträumige Annäherung an die Gebetbücher der Hamburger Beginen, indem deren Lebenswelt mitfokussiert wird". (12) Der umfassenden Perspektive unter Einbeziehung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kirchlich-religiöser Aspekte soll der etwas holprige Zusatz im Buchtitel Rechnung tragen. In der Folge nähern sich insgesamt 10 Beiträge dem Sujet, gegliedert in die Themenblöcke "Historischer Kontext und Lebensumfeld", "Liturgie und Gebet" und "Selbstdarstellung und Selbstverständnis". Die Autor*innen sind durch langjährige Forschungen zum weiblichen Religiosentum ausgewiesen und überzeugen hier mit solider Quellenarbeit und dem weiten Blick auf ordensübergreifende Einflüsse der Devotio moderna im religiösen Profil der Beginenhandschriften.
Jörg Voigts umfassender Forschungsüberblick zum Beginenwesen seit dem 17. Jahrhundert fällt erwartungsgemäß souverän und kenntnisreich aus. Im ersten Themensegment zeigt der Historiker Jürgen Sarnowsky die vielfältigen Momente der Einbindung des Beginenkonvents in das religiöse Leben der Stadt auf; gefolgt von den methodisch versierten und klar strukturierten Ausführungen der Archivarin Sarah Bongermino, die die spätmittelalterlichen Rechnungsbücher des Konvents analysiert und darüber erstaunliche Ergebnisse zu den luxuriösen Konsumgewohnheiten der Hamburger Gemeinschaft um 1500 und ihrer Herkunft aus der gehobenen sozialen Schicht erzielt.
Den größten Raum des Sammelbandes nimmt Themenblock II ein. Dies ist wesentlich den 150 (!) Seiten umfassenden Ausführungen des Historikers Philipp Stenzig geschuldet, der die Marientiden in Cod. Conv. 2, einer der 14 Handschriften, ediert und textliche Zusammenhänge mit niederdeutschen Handschriften aus dem Einflussbereich der Devotio moderna nachweist. In seiner minutiösen Studie geht er terminologisch hinter Voigt zurück, problematisiert die Zugehörigkeit zu den Semireligiosen kaum und bleibt bei unstrittig liturgischer Kompetenz doch mehrfach in ordensgeschichtlichen Zusammenhängen unpräzise. [5] Die Aufnahme einer so raumsprengenden Einzeluntersuchung im Rahmen dieses Sammelbandes darf als unglückliche Entscheidung der Herausgeberinnen gewertet werden.
Besonders überzeugend ist die Darstellung der Historikerin Martina Wehrli-Johns zum religiösen Profil der Hamburger Beginen im Milieu der spätmittelalterlichen Reformkultur, die sich an die grundlegenden Arbeiten Christian Schmidts anlehnt. [6] Wie Bongermino und andere diagnostiziert auch sie weiteren Bedarf bei der Erforschung der Beginenhandschriften, mit deren Inhalten und Vorbesitzern sie sich ausführlich beschäftigt. Wehrli-Johns Vergleich des Ensembles mit Handschriften der Lüneburger Frauenklöster wird ergänzt durch den Blick von Petra Bernicke auf den kleinen Essener Frauenkonvent. Bei dem für sich genommen ausgezeichneten Aufsatz der Historikerin, der die von ihr untersuchten Handschriften mit den Hamburger Gebetbüchern in Bezug setzt, irritiert das weitgehende Fehlen einer Einbindung in das Gesamtthema des Bandes! Den 2. Themenabschnitt beschließt die Musikwissenschaftlerin Martina Bick mit ihrer Untersuchung zur Musikpraxis bei Beginen, bei der sie in Ermangelung entsprechender Belege parallele und vergleichbare Überlieferungen in den Liederbüchern der Lüneburger Frauenklöster und anderer Gemeinschaften heranzieht. Interessant sind ihre Ergebnisse zu den Auswirkungen der Klosterreform auf die musikalischen Aktivitäten und den Reflex der liturgischen Erneuerung in einer Intensivierung der Handschriftenproduktion.
Das Augenmerk der Beiträge des dritten Themenkomplexes gilt der Selbstwahrnehmung der geistlichen Frauen. Der Essay der Historikerin Hedwig Röckelein, die die Beginenhandschriften im Kontext der norddeutschen Architekturgeschichte untersucht und den opulenten Bau der Hamburger Beginen als Vorausnahme des himmlischen Jerusalems interpretiert, hebt sich gegenüber anderen Beiträgen auch durch die Aussagekraft der Schwarzweißabbildungen im Text heraus. Bei Monika E. Müller liegt der Fokus auf einer der seltenen Darstellungen einer Begine, der Tibbeke in Cod. Conv. 8, und ihrer Funktion als Widerspiegelung von Individualität und Selbstbewusstsein. Einer analogen Fragestellung geht die Kirchenhistorikerin Gia Toussaint für die Nonnen des Medinger Klosters bei der Untersuchung einer der Konventshandschriften nach und ordnet die Selbstdarstellungen vor dem Hintergrund der Reformierung der Heideklöster ein.
Alle Einzelbeiträge des Tagungsbands demonstrieren eindrucksvoll, vielfach unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsbeiträge und mit Eröffnung ganz neuer Facetten, das enorme Forschungspotential der Hamburger Gebetbuchhandschriften. Sie werden künftig als gelungene Zugänge zum Beginenwesen und den religiösen Lebensformen von Frauen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit berücksichtigt werden müssen.
Defizite und Kritik beziehen sich vor allem auf den Eindruck des Sammelbands als Ganzem: Die Gattung 'Tagungsband' im Anschluss an Symposien erfreut sich in der geisteswissenschaftlichen Forschung größter Beliebtheit, doch scheitern die allseitigen Erwartungen daran allzu oft an der Realität: Tagungsbände degenerieren immer wieder zu rein buchbinderischen Synthesen, in denen die Vorträge 1:1 abgedruckt werden und weitgehend zusammenhanglos nebeneinander stehen, ungeachtet unweigerlicher Wiederholungen, Querbezüge, aber auch unterschiedlicher Sichtweisen. Herausgeberische Zusatzleistungen wie Zusammenfassungen, Einführungen, redaktionelle Nachbearbeitung und Registererstellung könnten Abhilfe leisten, und der damit erreichte Mehrwert für Synthese und Orientierung würde den unstrittig hohen Aufwand rechtfertigen. Wie bedauerlich, dass dies wie vielerorts auch bei vorliegendem Sammelband versäumt wurde.
Anmerkungen:
[1] Herbert Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Berlin 1935 (Historische Studien; 267). Zugl.: Leipzig, Univ.,. Habil.-Schr., 1933.
[2] Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich, Köln u. a. 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe; 32). Zugl.: Jena, Univ., Diss., 2009. Die Ergebnisse des Aachener Beginen-Symposiums von 2012 sind in dem u.a. von Voigt herausgegebenen Sammelband enthalten: Jörg Voigt [u.a.] (Hgg.): Das Beginenwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Fribourg / Stuttgart 2015 Neuzeit (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte; 20).
[3] Conrad Borchling: Mittelniederdeutsche Handschriften in Norddeutschland und den Niederlanden. Erster Reisebericht, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philol.-hist. Klasse, Geschäftliche Mittheilungen 1898, Göttingen 1899, 79-316, hier: 97-115. [online]
[4] Hans-Walter Stork: Die Handschriften des Hamburger Beginen-Konventes in den Sammlungen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg - ein überlieferungsgeschichtlicher Überblick, in: Voigt 2015 (Anm. 2), 199-233.
[5] Vgl. dazu auch die Rezension von Letha Böhringer, in: Historische Zeitschrift 316 (2023), 733-736, hier: 734f.
[6] Christian Schmidt: Gebetszyklen der Hamburger Beginen im Kontext der Gebetbuchkultur der Lüneburger Frauenklöster, in: Voigt 2015 (Anm. 2), 234-255.
Annelen Ottermann