Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte. Band 2: Frühe Neuzeit. 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart: Anton Hiersemann 2017, VIII + 924 S., 7 Kt., ISBN 978-3-7772-1710-9, EUR 364,00
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Bekanntlich braucht 'gut Ding' Weile. Das nun publizierte Handbuch ist zweifelsohne ein sehr gelungenes Ergebnis eines langjährigen Projekts, auf dessen Abschluss viele Historiker ungeduldig gewartet haben. Denn in den letzten fünf Jahren erschienen bereits einzelne Lieferungen, die vom Fachpublikum mit großem, aber nicht unkritischem Interesse aufgenommen wurden. [1] Jetzt liegt der Band zur Frühen Neuzeit komplett vor, als erster des auf vier Bände angelegten Handbuchs.
Der Band wurde in sieben Kapitel aufgeteilt. Die ersten Kapitel umfassen - nach einer Einleitung - die Subepochen der frühneuzeitlichen Geschichte Polens: die Regierung der beiden letzten Jagiellonen (1506-1572), den Anfang der freien Wahlmonarchie und der Herrschaft der Wasa-Dynastie (1573-1609), die Krise des 17. Jahrhunderts (1609-1717) und die Souveränitätskrise des 18. Jahrhunderts, die in der Teilung Polens gipfelte (1717-1795). Die beiden letzten Kapitel sammeln Querschnitte durch die Epochen, und zwar hinsichtlich der Idee der Nation, der Union Polen-Litauen, der sprachlichen, religiösen und kulturellen Sondergruppen, insbesondere der Juden, sowie Essays über die Frage der verfassungsgeschichtlichen Sonderstellung und "Rückständigkeit" Polens, den Sarmatenmythos und neue Zugänge zur Kulturgeschichte.
Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich um kein gewöhnliches Handbuch handelt, in dem das Faktenwissen dargelegt und getrennt von den (in der Tradition kodifizierten und in der Geschichtsschreibung diskutierten) Deutungen besprochen wird. Stattdessen bekommt der Leser einen Sammelband, der auf über 800 Seiten die polnisch-litauische Geschichte durch quellengestützte tiefe Einblicke erzählt. Zunächst liefern Almut Bues und Igor Kąkolewski eine solide Einführung in die materielle und politische Lage sowie die sozialen Strukturen des alten Polens. Karin Friedrich behandelt die Reformation in Polen-Litauen, Karen Lambrecht den Humanismus (vor allem in Krakau) und Kolja Lichy die Verhandlungen und Beschlüsse der Union von Lublin, die Polen und Litauen 1569 fester miteinander verbunden hat. Maria Rhode befasst sich mit den großen Themen des Interregnums, der ersten freien Königswahl und den Wahlkapitulationen. Auf das 17. Jahrhundert wird vor allem aus der Perspektive der Kriege gegen Schweden, Moskau und das Osmanische Reich geschaut (Robert Frost, Bogusław Dybaś). Für das 18. Jahrhundert werden insbesondere die innenpolitische Krise der Herrschaftszeit der Wettiner, politische Reformbemühungen (Wojciech Kriegseisen) und die Geschichte der Teilung Polen-Litauens geschildert (Michael Müller, Yvonne Kleinmann). Die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert skizziert sehr souverän Heinz-Jürgen Bömelburg, der in der Einleitung des Bandes auch einen Überblick über die wichtigsten Quelleneditionen gegeben hat.
Es ist unmöglich, so disparate Forschungsergebnisse und -berichte auf einen Punkt zu bringen. Die Herausgeber haben dies auch nicht erleichtert, weil sie weder eine Einleitung mit Formulierung der Zielsetzung und Thesen noch einen Ausblick mit Resümee geschrieben haben. Diese Funktion erfüllt nur zum Teil ein sehr gelungener Aufsatz von Michael G. Müller und Kolja Lichy, die einen kompetenten Einblick in die politische Theorie des frühneuzeitlichen Polens mit einer Leitfrage zum polnischen Sonderweg liefern. Im Folgenden wird nur auf die Einordnung des Handbuchs in Traditionen der polnischen Geschichtsschreibung und die damit verbundene Prägung eingegangen.
Die Schwerpunkte der Beiträge spiegeln den Zustand der polnischsprachigen Historiographie wieder und liegen vor allem auf der Ereignis-, Politik- und Sozialgeschichte. Die breite Rezeption der polnischen Historiographie der Vor- und Nachkriegszeit bestätigt eine schon von Michael G. Müller aufgestellte These, dass die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die anschließenden 45 Jahre Kommunismus, mit all ihren grauenerregenden Episoden und Folgen, für bestimmte Forschungstraditionen und -ansätze nicht so verhängnisvoll waren. Im Gegensatz zu anderen Ländern des Ostblocks, wo die Geisteswissenschaften stark ideologisiert waren, genossen polnische Historiker der älteren Epochen eine relative Freiheit der Forschung. Insbesondere auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entstanden sehr innovative Studien, die unter dem Einfluss der französischen Historiographie eine Brücke zur modernen Alltags- und Mentalitätsgeschichte schlugen.
Umso mehr fällt es auf, dass gerade die Aufsätze zur Wirtschaftsgeschichte nicht aus der Feder von Wirtschaftshistorikern stammen, sondern von exzellenten Allgemeinhistorikern wie Almut Bues und Heinz-Jürgen Bömelburg verfasst wurden. Zudem werden weder die Kultur-, Mentalitäts-, Kirchen-, Literatur- noch die Kunstgeschichte mit eigenen Beiträgen gewürdigt, mit Ausnahme des kurzen Beitrags von Karen Lambrecht, der eher den Charakter eines Forschungsüberblicks hat ("Interdisziplinäre Zugänge ...", 831-842). Ein anderer, sehr wertvoller kulturhistorischer Beitrag von Lambrecht über "Humanismus und Renaissance" (145-168) behandelt lediglich den Humanismus in Krakau 1500-1550, und zwar im Kontext des Einflusses der Druckkultur und der italienischen Universitäten (am Rande kann nur darauf hingewiesen werden, dass Breslau um 1500 nicht zum Königreich Polen gehörte, vgl. 147). Fragen der Kulturgeschichte werden ausdrücklich erst im Beitrag von Andreas Lawaty über die "Gesellschaft und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert" behandelt. Zwei Aufsätze von Karin Friedrich geben zwar einen sehr guten und knappen Überblick über die Geschichte der Reformation und Konfessionalisierung in Polen, sie schildern jedoch vor allem eine soziale Geschichte der Prozesse und sind in Fragen der Kirchengeschichte nicht ganz fehlerfrei. So behauptet die Verfasserin, die Bestimmungen der Warschauer Konföderation seien "das politische Ergebnis der Beratung der Vertreter aller Konfessionen, die in Sandomierz [im Jahre 1570 - M.P.] teilgenommen hatten: Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Böhmische und Mährische Brüder" (124). Da weder Katholiken noch Mährische Brüder auf der Synode in Sandomierz präsent waren, handelt es sich offensichtlich um ein Missverständnis.
Die starke Prägung der Beiträge durch die polnische Historiographie bedeutet nicht nur eine methodische Engführung, sondern auch eine bestimmte Akzentsetzung. Vor allem die polnisch-litauische Geschichte wird aus dem polnischen Blickwinkel beschrieben. Die litauische Geschichtsschreibung wird zwar in den Beiträgen von Kolja Lichy und Heinz-Jürgen Bömelburg berücksichtigt, systematisch und tiefgreifend behandelt aber nur Matthias Niendorf die litauische Geschichte. Auffällig ist, dass der Beitrag von Jürgen Heyde über die "Juden in Polen" (741-790) mehr als doppelt so lang ist wie die Geschichte der polnisch-litauischen Unionen von Niendorf. Über die anderen ethnischen und religiösen Gruppen - Ruthenen, Muslime, Armenier, Deutsche, Italiener, Franzosen etc. - berichtet nur ein sehr gut geschriebener, aber knapper Beitrag von Heinz-Jürgen Bömelburg (719-740). Wie der Titel des Handbuchs sagt, geht es um Polen, obwohl das Land in der Frühen Neuzeit ein polnisch-litauischer Doppelstaat war und die beschlossene, aber nie verwirklichte Union von Hadziacz (Vertrag von Hadjatsch, 1658) sogar eine Republik Dreier Nationen entwarf (192, 271, 279, 365, 404, 706).
Wegen der institutionellen und politischen Ausrichtung liegt der Schwerpunkt auf der Geschichte des Adels, während Stadtbürger und Bauern lediglich in den Kapiteln über die Wirtschaft behandelt werden und - wenn man es zugespitzt formulieren mag - als Kontext der politischen Geschichte dienen. In vier großen Kapiteln wird die Geschichte des Aufstiegs und des Verfalls des Adelsstandes behandelt, der seine Dominanz im politischen und ökonomischen Leben den Privilegien aus dem 14. und 15. Jahrhundert zu verdanken hatte. Die "Adelsrepublik" (796, vgl. eine unklare Kritik auf Seite 205) war aber kein Sonderfall in der europäischen Geschichte, sondern - wie in fast jedem Beitrag aus einer anderen Perspektive beleuchtet wird - ein Element im europäischen Puzzle. Weder die Union zweier Nachbarländer noch die institutionellen Formen, die Privilegierung des Adelsstandes oder die innere Staatspolitik, verstanden als Ergebnisse der Aushandlungsprozesse der politischen Kräfte, stützen die Sonderwegs-These (791), die bis jetzt in der Geschichtsschreibung dominiert. Bues, Bömelburg, Kąkolewski, Lichy und Müller bemühen sich sehr erfolgreich, die Strukturen, Institutionen und Entwicklungen Polen-Litauens in einen europäischen Kontext zu stellen. Selbstverständlich ging Polen-Litauen nicht den Weg einer absolutistischen Monarchie, aber die Absolutismus-These wird seit drei Jahrzehnten auch im breiten europäischen Kontext bestritten. Nach Müller und Lichy kann die Konfessionalisierungs-These ebenso wenig die Entwicklung der Adelsrepublik beschreiben bzw. erklären. Nach zwei Dekaden der Diskussionen um die Konfessionalisierung wird auch in Bezug zu anderen Herrschaftsgebieten klar, dass die These, die hier als "Verflechtung von Territorialisierung, konfessioneller Kirchenbildung und Herrschaftsintensivierung" (809f.) definiert wird, breiter und deskriptiver (und nicht eng normativ) verstanden werden sollte. Das Fehlen eines Beitrags über die katholische Kirche ist im Kontext der Konfessionalisierungsdebatte wirklich gravierend und schmerzhaft, weil die These von Müller und Lichy über das Versagen der katholischen Konfessionalisierung (vgl. 810) differenzierter dargelegt werden könnte und sollte.
Die Widerlegung der Sonderwegs-These, die schon im Untertitel signalisiert wird, kann als die zentrale These des Bandes und wichtigster wissenschaftlicher Gewinn des Handbuchs gelten. Sie wird am Fallbeispiel Polen-Litauen aufgestellt, aber kann modellhaft auf andere Gebiete Osteuropas ausgedehnt werden bzw. auch gewisse Erklärungsdefizite der Meistererzählung der Frühneuzeitforschung entblößen.
So wertvoll die einzelnen Beiträge und so gründlich die Studien auch sind, hat die gewählte Darstellungsart doch auch große Mängel. Erstens bietet der Band keine systematische Darstellung der polnisch-litauischen Geschichte. So kann zum Beispiel im Vergleich zu anderen Kapiteln das Fehlen einer Untersuchung der Politik von Sigismund I. und Sigismund II. August nicht unbemerkt bleiben. Zweitens beinhalten die Beiträge zwangsläufig viele Wiederholungen, wenn der Leser beispielsweise mehrmals belehrt wird, wie groß das Territorium des Doppelstaats war. Drittens finden sich auch Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten zwischen den einzelnen Beiträgen, die naturgemäß dem originalen Charakter der Aufsätze folgten. Wenn Kąkolewski der These von Tadeusz Manteuffel aus dem Jahr 1948 folgt, indem er die Herrschaftsgebiete des Hochadels (Magnaten) mit den "Territorialstaaten des Reichs" vergleicht (73), dann bestreiten Müller und Lichy genau dies (813: "das ständepolitische Eigenleben in den Teilländern des Unionsstaates und dessen Landschaften war [...] nicht stark genug ausgeprägt und fest genug institutionalisiert, damit auf solcher Grundlage regionale Machtträger ein Projekt von Territorialisierung und partikularer Staatsbildung erfolgreich hätten betreiben können"). Sehr deutlich kommt diese ungeplante Diskussion bei der Person von Andrzej Frycz Modrzewski (Andreas Fricius Modrevius) zur Sprache, der abgesehen von den Herrschern zu den am häufigsten zitierten Personen gehört. Für Kąkolewski und Friedrich war Frycz Modrzewski ein Befürworter der "Adelsideologie" und ein Sprecher der adligen "Exekutionsbewegung", (106, 129-130), während der Humanist für Müller und Lichy "eine adelsskeptische und adelskritische politische Reflexion" betrieb und "von einem gemeinsamen Regiment der 'Edlen und Gebildeten'" (804) träumte. Beide Behauptungen sind wohl richtig, aber wenn sie ohne Kommentar und Auslegung nebeneinandergestellt werden, können sie auch irritierend wirken.
Eine letzte Bemerkung betrifft nicht Autoren und Herausgeber, sondern den Verlag und die Distribution. Der Preis von 364 Euro bedeutet, dass der Band wohl nur in einer oder zwei Bibliotheken in Polen zu finden sein wird. Die polnischen Bibliotheken und Leser verlieren dadurch die Gelegenheit, die wertvollen Beiträge zu lesen und zu diskutieren, ersparen sich aber gleichzeitig auch eine gewisse Enttäuschung, weil der teure und wertvolle Band schon bei der ersten Lektüre auseinanderfällt. Nach dem zahlreichen Nachschlagen, das zur Erstellung der Rezension nötig war, hatte der Rezensent keinen Band mehr in den Händen, sondern wieder eine Sammlung von Einzellieferungen.
Anmerkung:
[1] Vgl. eine Rezension von Eduard Mühle im Jahrbuch für Geschichte Osteuropas 62 (2014), 131-133.
Maciej Ptaszyński