Benjamin Schönfeld: Die Urkunden der Gegenpäpste. Zur Normierung der römischen Kanzleigewohnheiten im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert (= Papsttum im mittelalterlichen Europa; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 456 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50913-2, EUR 70,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Judith Werner: Papsturkunden vom 9. bis ins 11. Jahrhundert. Untersuchungen zum Empfängereinfluss auf die äußere Urkundengestalt, Berlin: De Gruyter 2017
Guido Braun: Imagines imperii. Die Wahrnehmung des Reiches und der Deutschen durch die römische Kurie im Reformationsjahrhundert (1523-1585), Münster: Aschendorff 2014
Veronika Unger: Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert. Archiv, Register, Kanzlei, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
John Pollard: The Papacy in the Age of Totalitarianism, 1914-1958, Oxford: Oxford University Press 2014
Clemens Gantner: Freunde Roms und Völker der Finsternis. Die päpstliche Konstruktion von Anderen im 8. und 9. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2014
Mirko Breitenstein / Julia Burkhardt / Stefan Burkhardt u.a. (Hgg.): Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015
Mirko Breitenstein: Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne, Regensburg: Schnell & Steiner 2017
Georg Vogeler: Rechtstitel und Herrschaftssymbol. Studien zum Umgang der Empfänger in Italien mit Verfügungen Friedrichs II. (1194-1250), Berlin: De Gruyter 2019
Nach einer langen Phase historiographischer Vernachlässigung sind die sogenannten Gegenpäpste in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Forschung gerückt: Wenn bereits die Geschichte des Papsttums im Mittelalter von Klaus Herbers den Kirchenspaltungen des 11. und 12. Jahrhunderts die Rolle folgenschwerer Katalysatoren im kirchenrechtlichen und administrativen Bereich zusprach [1], haben die Überblicksdarstellung von Christiane Laudage (2012) und vor allem die beiden von Harald Müller 2012 und 2016 herausgegebene Tagungsbände auf die kaum zu überschätzende Bedeutung mittelalterlicher Schismen mit guten Argumenten aufmerksam gemacht und entscheidende Impulse für deren Erforschung geliefert. [2] Selbst der Begriff "Gegenpapst"- nach Müller geht es dabei um ein Konstrukt, das ein negatives historisches Urteil beinhaltet - ist zum Gegenstand einer terminologischen Dekonstruktion geworden, sodass nun zunehmend von Konkurrenten, Gegnern und Papstprätendenten die Rede ist.
Das beste Zeugnis der Vitalität dieses Forschungsfeldes ist die Münchener Dissertation von Benjamin Schönfeld, die den Urkunden der Gegenpäpste im 11. und 12. Jahrhundert gewidmet ist. Die Studie verfolgt zwei Ziele. Zum einen sollen durch die Urkunden die diplomatischen Umwälzungen während des wibertinischen Schismas (1184-1100) genau beschrieben und die Rolle der Kirchenspaltung für den gleichzeitigen Normierungs- und Formalisierungsprozess im Papsturkundenwesen herausgearbeitet werden. Zum anderen beabsichtigt der Verfasser, aus einer ideengeschichtlichen Perspektive heraus der Frage nachzugehen, inwiefern die Urkunden der konkurrierenden Päpste Rückschlüsse auf ihre Strategien zum Legitimationserwerb erlauben und als Instrumente ihrer Politik betrachtet werden können.
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: Eine Fallstudie über die diplomatische Entwicklung der Papsturkunde während der wibertinischen Kirchenspaltung wird von einem umfangreichen, einleitenden Kapitel und einer auf die Wiedergabe der benutzten Quellenmaterialien zentrierten Appendix umschlossen. Im einführenden Abschnitt ("Grundlagen") werden der Problemhorizont beleuchtet (13-34), der Forschungsstand erörtert (34-58), die Fragestellung präzisiert (58-81) und das methodische Vorgehen erläutert (81-91). Der Verfasser ist sich der aus der Anwendung des Begriffes "Gegenpapst" resultierenden Schwierigkeiten bewusst und plädiert für ein Verständnis der Schismen nicht als Konflikt zwischen Papst und Gegenpapst, sondern als eine noch unentschiedene Auseinandersetzung zweier konkurrierender Papstprätendenten (57). Ihre Briefe und Privilegien werden in Anlehnung an die jüngere Papsturkundenforschung u.a. als Medien zur Übermittlung von legitimationsstiftenden Botschaften verstanden (58).
Das zweite Kapitel (92-191) bildet den Hauptteil und das eigentliche Zentrum der Arbeit. Nach einem kurzen ereignisgeschichtlichen Überblick über das wibertinische Schisma (92-98) werden ausgewählte äußere und innere Merkmale der Urkunden Gregors VII., Clemens' III., Urbans II. und Paschalis' II. einer sorgfältigen diplomatischen Analyse unterzogen. Bezüglich der äußeren Merkmale (99-127) stellt der Verfasser eine allgemeine Tendenz fest, die von einer beachtlichen Vielfalt der graphischen Ausgestaltungsvarianten in den Urkunden Gregors VII. und Clemens' III. zu einer unverkennbaren Homogenisierung unter Urban II. und Paschalis II. führte: Eine elongierte Gitterschrift mit hervorgehobener Initiale setzte sich anstelle der bis dahin verwendeten Modelle durch, die an Königsdiplome, Inschriften oder Auszeichnungsschriften aus Prachthandschriften erinnerten. Aus dem Eschatokoll verschwanden das noch von Gregor VII. eingesetzte Komma sowie die unter Clemens III. bezeugten Subskriptionen und es festigte sich die symmetrische Struktur mit den beiden graphischen Symbolen Rota und Bene Valete, die die Papstprivilegien nachhaltig prägen sollte. Auch im Bereich der inneren Merkmale (127-144) konstatiert der Verfasser Tendenzen hin zur Verfestigung der Formulare: Wenn in den Intitulationes Clemens' III. noch einige Abweichungen vorkamen, rekurrierten die im Nachhinein als legitim definierbaren Päpste ausnahmslos auf die Formel servus servorum Dei. Ähnliches gilt für die Inscriptiones, denn in den wibertinischen Urkunden ist eine geringere Einheitlichkeit der verwendeten Epitheta nicht zu verkennen. Der Entwicklung der Schrift im besagten Zeitraum wird ein eigener Exkurs gewidmet, in welchem die Ergebnisse einer im Rahmen des BMBF-Projektes "Schrift und Zeichen" digital geführten Analyse zusammengefasst werden (178-191). Daraus geht hervor, dass die geschilderten Tendenzen auch auf die Schrift übertragen werden können. Die "Normierung" bestand in diesem Fall aus einer Reduzierung der Ober- und vor allem der Unterlängen, einer einheitlicheren Behandlung von Schlaufen und Zierstrichen und einer Verfestigung des autorisierten Schreiberkreises. Mehr als ein Instrument im Kampf um Legitimation und Obödienz (so nach Pflugk-Harttung) oder als Produkt differenter Verwaltungssysteme (Kehr) könnte die Urkundenschrift der konkurrierenden Päpste laut Schönfeld als ein "Spiegel ihrer Politik" charakterisiert werden, denn darin kamen in erster Linie die Einflüsse unterschiedlicher kultureller Traditionen zum Ausdruck, die letztlich auf bestimmte politische Akteure wie den römischen Adel, den salischen Herrscherhof, Montecassino und Cluny zurückgehen (191).
Im zweiten Unterkapitel des Hauptteiles beschäftigt sich der Verfasser mit der Frage nach den möglichen Legitimationsstrategien in den Urkunden der im wibertinischen Schisma konkurrierenden Päpste (144-177). Bei aller gebotenen Vorsicht stellt Schönfeld dabei heraus, dass Clemens III. in der eigenhändigen Unterfertigung wahrscheinlich keine legitimitätsstiftende Handlung gesehen und sich vielmehr um die Visualisierung seiner Obödienz durch die Anbringung von Unterschriften hochrangiger Prälaten bemüht haben könnte (167). Anders gestaltete sich die Lage im Umkreis Urbans II.: Hier scheint man sowohl auf die eigenhändige Beteiligung des Papstes als auch auf die Stabilisierung des Schriftbildes gesetzt zu haben, wobei die zunehmende Normierung für eine Erhöhung des Wiedererkennungswertes gesorgt haben könnte (177). Die Legitimationsstrategie Urbans II. erreichte unter seinem Nachfolger eine neue Stufe, denn von Paschalis II. an wurde die eigenhändige Unterschrift des Papstes zum unabdingbaren Beglaubigungsmittel und festen Bestandteil des Eschatokolls. Doch auch die im Umkreis Clemens' III. bezeugte Subskriptionspraxis sollte wenige Jahre später mit der Aufnahme der Kardinalsunterschriften einen gewissen Nachhall finden.
Die sogenannte "Forschungsbasis" (197-370) bildet mit ihrem 130-seitigen Verzeichnis aller erhaltenen Urkunden der sogenannten Gegenpäpste zwischen Benedikt X. und Calixt III. (203-331) einen fast eigenständigen Teil der Arbeit, durch welchen ein altes Forschungsdesiderat erfüllt wird. Die Einträge sind chronologisch geordnet und umfassen Urkundenregest, Initium, Datum, Ausstellungsort, Überlieferungsstatus sowie Angaben zu Editionen, Drucken und Abbildungen. Von den 62 noch im Original überlieferten Stücken werden auch eine Transkription des Verfassers und Informationen zu graphischen Symbolen, Subskriptionen und Datierung angegeben. Aufgelistet sind nach dem Modell der Pontificia-Bände auch Spuria, Deperdita sowie Nachrichten über kirchlich, rechtlich und politisch relevante Kontakte. Insgesamt besteht das Verzeichnis aus 275 Einträgen: das Produkt einer akribischen und verdienstvollen Grundlagenforschung, auf welche künftige Historikerinnen und Historiker mit Dankbarkeit zurückgreifen werden. Ein weiteres Verzeichnis beinhaltet die Regesten von 188 in Abbildung zur Verfügung stehenden Urkunden "legitimer" Päpste, die im Zuge der Untersuchung zusätzlich herangezogen wurden (332-370). Die Arbeit beschließen ein 50-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis (371-421), eine Zusammenstellung von Intitulationes, Inscriptiones und Protokollschlusselementen in den Originalen der im wibertinischen Schisma konkurrierenden Päpste (422-436), ein Abbildungsverzeichnis (436), eine Liste der Jaffé-Konkordanzen (437-446) und ein Personen- und Ortsregister (447-456).
Ohne Zweifel handelt es sich bei der vorliegenden Dissertation um eine sehr gelungene Leistung, die sich als Standardwerk der Papstdiplomatik für die Jahre 1084 bis 1100 und als unersetzliches Hilfsmittel für die Erforschung der sogenannten Gegenpäpste des 11. und 12. Jahrhunderts durchsetzen wird. Wie der Verfasser selber zugibt, sind dadurch nicht alle Fragen beantwortet worden und vor allem für die Pontifikate Gregors VII., Clemens' III. und Urbans II. (ganz zu schweigen von der hier nicht berücksichtigten Amtszeit Alexanders II.) bleiben noch viele Punkte ungeklärt, in erster Linie hinsichtlich des Einflusses lokaler Traditionen unterschiedlicher Art auf die Gestaltung der Papsturkunden. Gerade die lokalen Zusammenhänge und diplomatischen Traditionen hätten vielleicht stärker einbezogen werden können (was Ravenna anbelangt, sind zum Beispiel die Urkundeneditionen von Ruggero Benericetti und auch dessen Schlüsse bezüglich der beiden Schreiber namens Deusdedit nicht erwähnt worden), denn Letztere dürften mehr als Legitimationsstrategien das Werden der Papsturkunde in der unstabilen Phase des Investiturstreites beeinflusst und geprägt haben. Doch dank der soliden und informationsreichen Arbeit von Benjamin Schönfeld wird die Bewältigung dieser Aufgaben den künftigen Papsturkundenforscherinnen und -forschern sicherlich leichter fallen. Der Grundstein ist gelegt. Nun kann darauf gebaut werden!
Anmerkungen:
[1] Klaus Herbers: Geschichte des Papsttums im Mittelalter, Darmstadt 2012 (Besondere wissenschaftliche Reihe: BWR 2012).
[2] Christiane Laudage: Kampf um den Stuhl Petri. Die Geschichte der Gegenpäpste, Freiburg i. Br. u.a. 2012; Harald Müller / Brigitte Hotz (Hgg.): Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien u.a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa; 1); Harald Müller (Hg.): Der Verlust der Eindeutigkeit. Zur Krise päpstlicher Autorität im Kampf um die Cathedra Petri, München 2016 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien; 95).
Étienne Doublier