Frank Reichherzer / Emmanuel Droit / Jan Hansen (Hgg.): Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, VIII + 317 S., ISBN 978-3-11-048180-8, EUR 59,95
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Was haben Spione, Atombunker und das Rote Telefon gemeinsam? Sie alle waren Teil des Kalten Krieges, der Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Zugleich zeigen sich an diesen Beispielen aber auch Momente der Transzendierung des Kalten Krieges - so die Ausgangsthese des von Frank Reichherzer, Emmanuel Droit und Jan Hansen herausgegebenen Sammelbandes.
Dessen Erkenntnisinteresse richtet sich "auf die Reichweite der Ordnung des Kalten Krieges, auf ihre Durchlässigkeit, ihre Dynamiken und damit auf die alternativen Entwürfe sowie die sich daraus ergebenden Reibungen und Wechselwirkungen." (1) Der Kalte Krieg wird dabei als "binäres Ordnungssystem" (4) verstanden. Bipolarität und binäres Denken waren den Herausgebern zufolge einerseits die handlungsleitenden Paradigmen des Kalten Krieges, andererseits erreichten sie jedoch niemals Totalität. Die "Porosität" (1) des Kalten Krieges bildet in der Folge das gemeinsame Leitmotiv der einzelnen Beiträge.
Der Sammelband baut damit auf jüngeren geschichtswissenschaftlichen Studien auf, die den Kalten Krieg vor allem aus kulturwissenschaftlicher Perspektive neu beleuchten. [1] Zugleich reiht er sich ein in die neuere historische Forschung, die sich weniger auf Antagonismen als auf Verbindungen, Austausch und Nischen in den ambivalenten Räumen zwischen den und über die Blockgrenzen hinaus konzentriert. [2] Auf diese Ansätze wird in den einzelnen Beiträgen Bezug genommen.
Im Mittelpunkt der 19 kurzen Essays steht jeweils ein spezifischer Untersuchungsgegenstand: Neben konkreten Akteuren, Räumen und Objekten wie den eingangs genannten Beispielen kann es sich dabei auch um Ideen (z.B. "Eine Welt") oder Phänomene (z.B. "Islamismus") handeln. Gemeinsam ist allen ein gewisser Moment der Transzendierung des Kalten Krieges, auf den sich der Fokus richtet: Hier liegt die Besonderheit in der Beschäftigung mit den einzelnen Themen. Zur Systematisierung der ohne weitere Untergliederung in alphabetischer Reihenfolge abgedruckten Beiträge können den Herausgebern zufolge dabei vier Modi der Transzendierung dienen.
Ein gelungenes Beispiel für die integrative Betrachtung zweier dieser Modi anhand eines Untersuchungsgegenstands stellt der Beitrag von Silvia Berger Ziauddin über "Atombunker" dar. Die Autorin untersucht einen der "wohl prägendsten Räume des nuklearen Zeitalters" (15) am Beispiel der neutralen Schweiz, die allerdings dem Ordnungssystem des Westens zugeordnet wird. Laut Berger Ziauddin reproduzierten Atombunker dort in den 1950er und frühen 1960er Jahren noch die binäre Logik des Kalten Krieges. Bereits um 1970 wurde diese jedoch durch die Integration alternativer Konzepte zumindest modifiziert - wie das Beispiel der kurzzeitigen Umnutzung einer Luftschutzanlage in Zürich durch die "Jungen Linken" in der Folge von 1968 zeigt; erst um 1980 forderte aber etwa die Besetzung der Bunker durch die Punk-Bewegung den Referenzrahmen des Kalten Krieges tatsächlich heraus.
Neben, erstens, Modifikationen und, zweitens, Herausforderungen des binären Ordnungssystems existierten außerdem, drittens, Öffnungen innerhalb dessen. Mit dem "International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA)" beschreibt Isabell Schrickel in ihrem Beitrag etwa eines dieser sogenannten "Fenster im Kalten Krieg" (5). Beim IIASA handelte es sich um ein im Oktober 1972 gegründetes, internationales Forschungsinstitut in Laxenburg bei Wien, an dem sich Wissenschaftler aus Ost und West vor dem Hintergrund einer Wahrnehmung zunehmender Komplexität systemanalytischer Forschung widmeten: Beispielsweise untersuchte man gemeinsam "sauren Regen" als Problem grenzüberschreitender Umweltverschmutzung.
Schließlich gab es, viertens, zeitgenössische Diskurse, die sich vollständig vom binären Ordnungssystem des Kalten Kriegs als Referenzrahmen lösten. Ein Beispiel bietet der Beitrag von David Kuchenbuch über "Die 'Eine Welt'". Ähnlich dem Begriff der "Interdependenz" (siehe dazu den Beitrag von Martin Deuerlein) war die Vorstellung von "Einer Welt" eng mit der Wahrnehmung einer zunehmenden weltweitenden Vernetzung und Abhängigkeit seit Ende der 1960er Jahre verbunden und stellte ein vom Kalten Krieg weitestgehend unabhängiges Ordnungssystem dar.
Der Fokus auf diese vier graduell variierenden Modi findet sich auf unterschiedlicher Weise in den Beiträgen wieder und bietet in allen Fällen einen Mehrwert im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse des Sammelbandes. Wie ein roter Faden zieht sich daneben die aus den Kultur- und Literaturwissenschaften stammende sogenannte Figur des Dritten durch die Essays, die die Herausgeber den Autoren explizit als "heuristische Hilfe" (6) mit auf den Weg gegeben hatten. Dahinter steht die Idee, dass das "Dritte" immer schon Teil eines binären Systems ist, dass der Blick darauf jedoch häufig erst dessen inhärente Dynamik offenbart.
Neben etwa den "Blockfreien/Bündnisfreien", die Jürgen Dinkel als beinahe schon klassische Dritte des Kalten Krieges untersucht, ist ein ganz anders gearteter Dritter der "Islamismus", den Grischa Sutterer betrachtet. Islamismus, spätestens seit der Iranischen Revolution 1979 verbunden mit dem bärtigen Gesicht Khomeinis, bedeutete ab den späten 1970er Jahren eine Herausforderung für die universalen ideologischen Ansprüche beider Blöcke und stellte die bipolare Weltordnung in Frage. In der Tendenz entwickelte sich der ehemalige Dritte in einer Neuausrichtung der globalen Auseinandersetzung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem Zweiten; statt die binäre Logik also letztendlich aufzubrechen wurde diese damit lediglich neu aufgeladen.
In den meisten Fällen bietet die Figur des Dritten einen deutlichen Gewinn für die Analyse - insbesondere wenn die Beiträge dessen Potential voll ausschöpfen können. Unterschiede werden etwa anhand zweier Essays zum Thema Experten deutlich: So arbeitet Phillip Wagner anhand der Person des polnischen Stadtplaners und Grenzgängers Wacław Ostrowski die Rolle des Experten als möglicher Agent einer Transzendierung der Blockkonfrontation heraus. Sophia Dafinger stößt hingegen am Beispiel US-amerikanischer Luftkriegsexperten an Grenzen des Ansatzes - nicht zuletzt, da deren Wirken tatsächlich vor allem im Rahmen des binären Freund-Feind-Denkens verordnet war. Trotz aller möglicher Formen der Porosität des Kalten Kriegs war die Bipolarität eben auch eine Realität, wie hier deutlich wird.
Am Ende der Lektüre zeigt sich, dass das Konzept des Sammelbands insgesamt aufgeht und für eine neue Betrachtung des bereits vielfach erforschten Themas Kalter Krieg fruchtbar gemacht werden kann - gerade auch, weil es die Grenzen des Kalten Kriegs zwar hinterfragt, aber nicht völlig aufweicht. Die einzelnen Essays des im open peer review-Verfahren [3] entstandenen Sammelbandes erinnern vor allem durch die Konzentration auf einen spezifischen Untersuchungsgegenstand an die Beiträge einer Enzyklopädie. Hypertextuelle Verweise, die als Navigationshilfen fungieren und einen individuellen Lektüreweg ermöglichen, unterstützen diesen Eindruck. Dadurch und die Orientierung der Essays an übergreifenden Konzepten behält der Leser das Erkenntnisinteresse im Blick und es entsteht ein kohärenter Gesamteindruck. Anhand der diversen Beispiele wird die Reichweite des Kalten Kriegs dabei tatsächlich oft auf gewinnbringende Weise neu ausgelotet und unser Bild davon geschärft.
Anmerkungen:
[1] Z.B. David Eugster / Sibylle Marti (Hgg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015.
[2] Vgl. Simo Mikkonen / Pia Koivunen (eds.): Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe. New York / Oxford 2015.
[3] Der Entstehungsprozess kann auf der Verlagsseite eingesehen werden unter https://opr.degruyter.com/den-kalten-krieg-vermessen/.
Liza Soutschek