Thomas Großbölting / Stefan Lehr (Hgg.): Politisches Entscheiden im Kalten Krieg. Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West (= Kulturen des Entscheidens; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 273 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36327-0, EUR 70,00
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Im Oktober 1962 hielt die Welt den Atem an: Bis an die Zähne mit Atomraketen bewaffnet standen sich die USA und die Sowjetunion dreizehn Tage lang Auge in Auge gegenüber und warteten darauf, dass der Andere zuerst blinzelte - so jedenfalls die verbreitete Erzählung.
Wie kein anderes Ereignis verbinden wir die Kubakrise heute mit der Frage nach der Kultur des politischen Entscheidens im Kalten Krieg: In unserer Erinnerung sind es dabei oft "große Männer" wie Kennedy und Chruschtschow, die angesichts der drohenden atomaren Vernichtung allein und von einem Moment zum anderen über "Wohl und Wehe" (7) der Welt entschieden. Der Sammelband "Politisches Entscheiden im Kalten Krieg" zeigt jedoch, dass das gesamte Thema ungleich facettenreicher ist.
Ein Sonderforschungsbereich (SFB 1150) an der Universität Münster untersuchte zwischen 2015 und 2019 "Kulturen des Entscheidens". Als zweiter Band der gleichnamigen Reihe, 2020 bei Vandenhoeck&Ruprecht erschienen, greift der von Thomas Großbölting und Stefan Lehr herausgegebene Sammelband das Thema im Kontext des Kalten Kriegs auf - entgegen der populären Wahrnehmung jedoch "als explizites Moment der Analyse" (9). Wie die Herausgeber betonen, ist Entscheiden als "zentraler Modus von Politik" (8) ein "hoch voraussetzungsvoller und sozial wie auch kulturell bedingter Prozess" (13), der in seinen kollektiven und individuellen Formen historisch zu untersuchen ist: Neben dem Was des Entscheidens, richtet sich das Interesse damit vor allem auf das Wie.
Die Beiträge des Sammelbands untersuchen die Praxis und Performanz, die Legitimation und die Narrative des politischen Entscheidens im Kalten Krieg anhand eines breiten, aber exemplarischen Spektrums an Settings in Ost und West. Im Fokus stehen die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion sowie ergänzend mit je einem Beitrag die DDR und Tschechoslowakei. Dabei wollen die Verfasserinnen und Verfasser unter anderem prüfen, "ob sich die in Ost und West prägenden Kulturen des Entscheidens parallel zueinander entwickelten oder sich kontrastiv aufeinander bezogen". (10)
Gegliedert ist der Band in drei Teile. Den Anfang bilden zwei einleitende Beiträge aus der Vogelperspektive. Zum einen beschreibt Stephan Merl Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion seit 1917. Zum anderen beleuchtet Gabriele Metzler die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1989 unter dem Stichwort der "Kanzlerdemokratie": Sie betont anhand einer Analyse der Kanzlerschaften von Adenauer bis Kohl den Vorrang von Abstimmung und Vermittlung im Entscheidungsprozess - ungeachtet eines mitunter anderweitigen öffentlichen Verständnisses in der Konzentration auf die Person des Regierungschefs.
Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf Orte und Machtzentren des politischen Entscheidens: So untersucht Svenja Schnepel das Bundeskanzleramt in den langen 1960er Jahren als "Maschinenraum der Macht". Mit Blick auf die Machtzentrale der SED zeigt Rüdiger Bergien, inwiefern sich Entscheidungsprozesse im Lauf der Zeit veränderten: Im Gegensatz zu den mitunter stundenlangen Politbürositzungen unter Walter Ulbricht fanden in der Ära Honecker kaum mehr Diskussionen statt, bereits vorbereitete Entscheidungen wurden oft lediglich bestätigt. Die informelle "Telefonpolitik" im Vorfeld war dabei im eigentlichen Sinn entscheidend. Vergleichbare Befunde arbeitet Stefan Lehr hinsichtlich des Präsidiums der Kommunistischen Partei in der Tschechslowakei von 1969 bis 1989 heraus: Die Politbürositzungen dienten auch hier in der Regel eher der Inszenierung von Entscheidungen. Nikolay Mitrokhin beschließt diesen Abschnitt und untersucht die Funktionsweise der sowjetischen Partei- und Staatsbürokratie.
Wissenschaft als Ressource des politischen Entscheidens steht im Mittelpunkt des dritten und letzten Teils: So analysiert Matthias Völkel den Aufstieg und Fall der Kybernetik in der Sowjetunion. Zwar verband sich nach anfänglicher Ablehnung damit in den 1960er Jahren die Hoffnung auf eine umfassende Rationalisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Allerdings verdeutlicht der Blick auf konkrete Anwendungsmöglichkeiten, dass die Kybernetik als wissenschaftliche Ressource des politischen Entscheidens in der Sowjetunion praktisch kaum genutzt wurde. Daneben befassen sich zwei weitere Beiträge von Svenja Schnepel und Matthias Glomb mit wissenschaftlicher Expertise in der westdeutschen Politik - zum einen mit Bezug auf Atomwaffen, zum anderen hinsichtlich der Bildungsplanung.
Den Abschluss des Sammelbands bildet ein Beitrag von Sonja M. Amadae, der ein wenig aus der Reihe fällt: Zeitgleich und in enger Wechselwirkung zum Kalten Krieg bildete sich vor allem in den USA unter anderem auf Grundlage der Spieltheorie eine neue Wissenschaft des decision making heraus. Anhand von Neuerscheinungen der historischen Forschung und mit klarem Bezug zur Gegenwart beschreibt die Verfasserin, inwiefern die damals gebildeten Kategorien von Rationalität unser Denken und Handeln heute immer noch prägen.
Der Sammelband ordnet sich ein in die neuere historische Forschung zum Kalten Krieg, die New Cold War Studies: Politik im Kalten Krieg wird verstanden als totale Politik, der verengte Blick auf die internationalen Konstellationen soll um die Perspektive auf politische Kultur insgesamt in Ost und West erweitert werden. Dies gelingt durch den Zuschnitt der Beiträge gut. Mit dem Fokus auf den Modus des Entscheidens steht die Publikation darüber hinaus in enger Nähe zu zwei jüngst erschienen Sammelbänden zur Planung in Europa im Kalten Krieg [1] sowie im deutsch-deutschen Kontext [2]: Diese beziehen sich vor allem auch auf Wissenschaft und Experten als Ressourcen der Politik. Eine inhaltliche oder analytische Abgrenzung zwischen diesen beiden verwandten Modi der Politik im Detail erfolgt jedoch in dem hier besprochenen Sammelband leider kaum.
Alles in allem bieten die Beiträge interessante Einblicke in die Kulturen des politischen Entscheidens im Kalten Krieg in Ost und West - gerade wenn eine Auswertung der Quellen den Blick hinter die Kulissen erlaubt wie Rüdiger Bergien zeigt. Allerdings überwiegt der Fokus auf die Fallbeispiele, eine vergleichende oder verflochtene Betrachtung findet sich nur in der knappen Einleitung. Antworten auf die Fragen nach Parallelen, Divergenzen und Bezügen in Ost und West - wie etwa Unterschiede in Bezug auf die öffentliche Beobachtung oder Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Bedeutung wissenschaftlicher Expertise - kommen so etwas kurz.
Dennoch erweitert der Sammelband unser Verständnis der Gegenwart gerade in Bezug auf unsere Vorstellung von Rationalität im Zuge politischen Entscheidens erfolgreich: Wer entscheidet was und wie, welche Rolle spielen Experten und Wissenschaft, wie werden Entscheidungen inszeniert? Diese Fragen sind heute nach wie vor aktuell, nicht zuletzt, wenn Muster des Kalten Kriegs wieder aufleben.
Anmerkungen:
[1] Michel Christian / Sandrine Kott / Ondrej Matejka (eds.): Planning in Cold War Europe. Competition, Cooperation, Circulations (1950s-1970s), Berlin / Boston 2018.
[2] Elke Seefried / Dierk Hoffmann (Hgg.): Plan und Planung. Deutsch-deutsche Vorgriffe auf die Zukunft, Berlin / Boston 2018.
Liza Soutschek