Moritz Pöllath: Eine Rolle für die NATO out-of-area? Das Bündnis in der Phase der Dekolonisierung 1949-1961 (= Militärhistorische Untersuchungen; Bd. 15), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2017, VIII + 428 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-71501-7, EUR 79,95
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William H. Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, New York: Columbia University Press 2018
Nicolas Badalassi / Sarah Snyder (eds.): The CSCE and the End of the Cold War. Diplomacy, Societies and Human Rights, 1972-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019
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Oliver Bange: Sicherheit und Staat. Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin: Ch. Links Verlag 2017
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James P. Hubbard: The United States and the End of British Colonial Rule in Africa, 1941-1968, Jefferson, NC: McFarland & Company 2011
Sarah-Jane Corke: U.S. Covert Operations and Cold War Strategy. Truman, Secret Warfare and the CIA, 1945-53, London / New York: Routledge 2008
Mit dem Abzug der Bundeswehr aus Prizren ging im Herbst 2018 der längste Auslandseinsatz der deutschen Streitkräfte zu Ende. Nach knapp zwei Jahrzehnten markierte der Abschied vom KFOR-Einsatz im Kosovo eine historische Zäsur: Ohne UN-Mandat hatte sich die Regierung Schröder 1999 an der NATO-Militärintervention gegen Jugoslawien beteiligt. Die völkerrechtlich prekäre Legitimation der Luftschläge wurde vom damaligen Außenminister Joschka Fischer hilfsweise mit der Parole "Nie wieder Auschwitz" unterfüttert: Europa dürfe nicht untätig zusehen, wie ethnische Säuberungen die Existenz der albanischen Kosovaren bedrohten. Die humanitäre Intervention der Atlantischen Allianz avancierte so zum ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1994 Out-of-area-Einsätze innerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit unter dem Vorbehalt eines Parlamentsbeschlusses gebilligt hatte. Bereits 1992 war man im NATO-Rat übereingekommen, das Bündnis auch außerhalb des Vertragsgebiets militärisch agieren zu lassen, wenn die Vereinten Nationen oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Brüssel vorstellig würden.
Moritz Pöllath nimmt diese Spur auf und verfolgt sie zurück in die Anfangsjahre der NATO. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei den Interessen jener NATO-Mitglieder, die noch Kolonien in Übersee besaßen und deren Gebaren ein ums andere Mal mit der sicherheitspolitischen Agenda der Allianz kollidierte. Für Pöllaths historisch informierte politologische Argumentation von zentraler Bedeutung ist das Spannungsverhältnis zwischen Artikel 4 und 5 des NATO-Vertrags. Denn während Artikel 5 präzise die Beistandspflicht im Fall eines Angriffs auf ein Mitglied des Bündnisses definiert, lässt Artikel 4 generell Konsultationen zu, sofern ein NATO-Staat die politische Unabhängigkeit oder territoriale Unversehrtheit einer Vertragspartei bedroht sieht. Das ermöglichte tendenziell weite Spielräume. Wie sich die Krisen der Dekolonisation auf die allianzinternen Konsultationen auswirkten, möchte Pöllath näher untersuchen.
Um "die richtige Balance von Disziplin und Solidarität" (55) zu wahren, mussten die europäischen Kolonialmächte - Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Portugal - Auguren gleich das antikoloniale Moment der jeweiligen US-Administration korrekt einzuschätzen versuchen. Die Truman-Doktrin, der Pöllath einen defensiven Charakter attestiert, eröffnete ihnen die Möglichkeit, unter dem Signum der Eindämmung sowjetischer Expansionsbestrebungen in Washington Verständnis für spätkoloniale Ansprüche zu wecken. Indem der Wandel in Afrika und Asien ins Koordinatensystem des ideologischen Schlagabtauschs zwischen den Supermächten eingeordnet wurde, gelang den Kolonialmächten in den 1950er Jahren immer wieder die Versicherheitlichung der Debatten über die Dekolonisierung. Als der NATO-Rat 1953 auf Drängen Londons die Politik Gamal Abdel Nassers diskutierte, war klar, dass Fragen der Kolonialpolitik auch in der NATO ein Forum fanden. Als "globales Werkzeug" (119) sollte die NATO gewissermaßen den Dekolonisationsprozess abfedern. Frankreich hatte bereits im Jahr davor einen entscheidenden Erfolg erzielt, als der NATO-Rat mit seiner Indochina-Resolution einer "gedanklichen Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs" (135) zustimmte, während sich die USA - mit folgenschweren Konsequenzen - allmählich der Sicherheit Südostasiens annahmen. Dennoch ließen die Kolonialnationen nicht davon ab, "aus ihrem Grab heraus" (152) zäh den Status europäischer Mächte mit globalen Ambitionen zu verteidigen.
Besonders eifrig auf Prestigeerhalt bedacht waren just die kleinen Kolonialstaaten Portugal, Belgien und die Niederlande. Das lusitanische Regime Salazars kämpfte mit harten Bandagen um den indischen Außenposten Goa, während Jawaharlal Nehru mit gleicher Beharrlichkeit gegen das anachronistische "Überbleibsel kolonialer Fremdherrschaft" (183) auf dem Subkontinent polemisierte. Einen Punktsieg landete Lissabon, als John Foster Dulles 1954 zum großen Verdruss Delhis Goa als portugiesische Provinz bezeichnete. Salazars Taktieren stand dem britischen Außenamt als abschreckendes Beispiel spätkolonialer Intransigenz vor Augen, bestand dort doch 1959 nicht von ungefähr die Furcht, "als Hindernis weiteren Fortschritts womöglich mit den Portugiesen in einen Topf" [1] geworfen zu werden. In London schuf man nämlich ein "informelles Machtgebilde" (228), mit dem sich subtiler Einfluss in Übersee ausüben ließ als mit direkter Kolonialherrschaft. Wenig subtil geriet indes das Suezabenteuer 1956, als Großbritannien im Verein mit Frankreich und Israel die Uhr in Ägypten zurückdrehen und Nasser nach der Verstaatlichung des Suezkanals in die Schranken weisen wollte. Pöllath schreibt es vor allem dem sowjetischen Bluff der Drohung mit einem Atomkrieg zu, dass die Invasoren klein beigeben mussten, nachdem sie zuvor die NATO bewusst im Dunkeln über ihre Absichten gelassen hatten. Ironischerweise erarbeitete etwa zeitgleich ein Komitee der drei Weisen Gedanken zur Weiterentwicklung des Konsultationsmechanismus innerhalb der NATO. Das Suezfiasko markierte einen Wendpunkt, da sich Washington nun mit einer engen Interpretation des Bündnisvertrags durchsetzte, welche die Verteidigung des Westens gegen die Sowjetunion unangefochten zum primären Ziel der NATO deklarierte. Im Kreml versuchte man, mithilfe antikolonialer Rhetorik und punktueller Rüstungshilfe für Staaten der "Dritten Welt" aus den Wirren der Dekolonisation Profit zu schlagen. Indonesien, das wegen der Zukunft West-Neuguineas im Clinch mit den Niederlanden lag, wusste diese Situation zu nutzen und akzeptierte Waffenlieferungen aus den USA und der Sowjetunion. Drohungen Den Haags mit einem NATO-Austritt verfingen nicht. Ein gewichtigeres Faustpfand vermochte Portugal in die Waagschale zu werfen: die logistisch bis in die 1950er Jahre hinein unentbehrlichen Azoren. Doch auch dies vermochte letztlich nichts gegen die antikolonialistische Überzeugung auszurichten, die 1961 mit John F. Kennedy ins Weiße Haus einzog. Ende des Jahres marschierte Indien in Goa ein, und 1962 mussten die Niederlande nolens volens in den immerhin vertraglich ausgehandelten Anschluss West-Neuguineas an Indonesien einwilligen. Im "gedankliche[n] Nullsummenspiel" (349) des Kalten Kriegs erschien es der Mehrzahl der NATO-Mitglieder opportun, historischen Ballast abzuwerfen und so Unabhängigkeitsbewegungen ins westliche Lager zu lotsen.
Pöllath bringt die Bedeutung der NATO im Prozess der Dekolonisation folgendermaßen auf den Punkt: Im Wechselspiel von Konflikten und Komitees, die sich deren Entschärfung annahmen, stießen die Kolonialmächte in der Ära Eisenhower kaum auf nennenswerten Widerstand, zumal Kolonialstreitigkeiten zu Bedrohungen stilisiert werden konnten, die zwar out of area lagen, doch das Potential besaßen, die grand strategy der Allianz zu durchkreuzen. Insbesondere auf Betreiben der USA und Kanadas wurden koloniale Anliegen regelmäßig an den Politischen Ausschuss und ins Komitee für Afrika delegiert und mithin ein Stück weit entschärft. Von Großbritannien gingen dabei die wenigsten Impulse aus, die NATO für koloniale Projekte zu instrumentalisieren. Ob dies jedoch, wie von Pöllath vermutet, mit der löblichen Vorbereitung auf eine "postkoloniale Rolle" (366) zusammenhing oder nicht vielmehr mit den im Vergleich etwa zu Portugal ganz andersgearteten Machtressourcen der Briten, sei dahingestellt.
Anhand eines kleinen Ausschnitts der westlichen Sicherheitspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg präpariert Pöllath plausibel das Spannungsverhältnis zwischen dem recht schlanken Regionalpakt von 1949 und dem globalen Anspruch einiger seiner Mitglieder heraus. Die Debatten über die Grenzen des Bündnisgebiets und über mögliche Auswirkungen von Out-of-area-Konflikten auf die Bündnissolidarität waren so etwas wie ein Vorspiel zu den Kontroversen über die Rolle der NATO in der unübersichtlichen Welt nach dem Kalten Krieg. In dem bewegten Jahrzehnt nach Gründung der Allianz wurde, wie Pöllath anschaulich skizziert, darüber diskutiert, wie weit die Eindämmungsstrategie geographisch reichen sollte. Heute streift der Blick von Brüssel aus besorgt um die Welt und führt zu der Frage, ob die NATO nur noch als globale Sicherheitsagentur eine Zukunft hat.
Anmerkung:
[1] Ronald Hyam / Wm. Roger Louis (eds.): The Conservative Government and the End of Empire 1957-1964, Part I, London 2000, 125.
Gerhard Altmann