Rezension über:

Moritz Pöllath (Hg.): Didaktische Perspektiven auf die Geschichte und Kultur des Pazifiks, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, 152 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1615-6, EUR 22,90
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Rezension von:
Nicole Garretón
Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Garretón: Rezension von: Moritz Pöllath (Hg.): Didaktische Perspektiven auf die Geschichte und Kultur des Pazifiks, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39218.html


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Moritz Pöllath (Hg.): Didaktische Perspektiven auf die Geschichte und Kultur des Pazifiks

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Der im Wochenschau-Verlag erschienene Sammelband "Didaktische Perspektiven auf die Geschichte und Kultur des Pazifiks" geht auf eine Tagung zurück, die vom Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte und Public History der LMU München veranstaltet wurde. Mit dem Sammelband möchte Herausgeber Moritz Pöllath Beiträge zusammenführen, die den "Austausch zwischen Ozeanien und Europa" (8) thematisieren. Das Anliegen wird damit begründet, dass "historische Verflechtungen zwischen Deutschland und Ozeanien" und deren Potenzial für den Geschichtsunterricht bislang "übersehen" werden (9). Einordnen lässt sich der Band damit in die Debatten um den Einbezug der Global- und Verflechtungsgeschichte in den Schulunterricht, die seit Anfang der 2000er Jahre vorangetrieben wurden und in den vergangenen Jahren zunehmend mit postkolonialen Fragestellungen verbunden worden sind. [1] Die Begründung des Anliegens sowie die konzeptionelle Herangehensweise hätte von einer stärkeren Bezugnahme auf diesen Forschungsstand profitieren können.

Die ersten vier Beiträge des Bands setzen sich mit dem historischen Lernen in der Schule auseinander. Moritz Pöllath möchte mit seinem Tagungsbeitrag zur "Harmonisierung zwischen notwendiger deutscher und europäischer Fokussierung nationaler Lernbedürfnisse und globalgeschichtlicher - pazifischer - Perspektiven auf die Vergangenheit und Gegenwart" anregen (16). Er schließt seine didaktischen Reflexionen an die akademischen Debatten der Pacific Studies an und orientiert sich an den Prinzipien einer "pragmatic rationale" und einer "empowerment rationale" des Politikwissenschaftlers Terence Wesley-Smith. Diese sollen in den deutschsprachigen Geschichtsunterricht übertragen werden. Das erste Konzept versteht Pöllath als pragmatisches Grundprinzip einer Vermittlung von Sachwissen, das zweite setzt er mit dem Prinzip der Multiperspektivität im Geschichtsunterricht gleich und fasst darunter den Einbezug "pazifischer Quellen und Stimmen". (16) Anschließend fokussiert der Beitrag die Inhaltsebene des Geschichtsunterrichts und zeigt Möglichkeiten auf, wie die Auseinandersetzung mit der Geschichte Ozeaniens an klassische Inhaltsfelder des Geschichtsunterrichts anknüpfen kann. Die Vermittlung von Sachwissen und inhaltlichen Anschlussstellen für den Geschichtsunterricht gelingt dabei außerordentlich gut und würde sich insbesondere für eine Lehrer:innenhandreichung anbieten. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Prinzip der "empowerment rationale" fehlt jedoch. Vordergründig werden historische Quellen vorgestellt, welche die Perspektiven deutschsprachiger Reisender, Auswanderer, Forscher und Unternehmer präsentieren. Ansatzpunkte für Perspektivverschiebungen werden nicht genauer ausgeführt (siehe bspw. Anmerkungen zur Erinnerungskultur von Tonga, 23). Leider wird auch die Frage der Periodisierung einer Geschichte des Austauschs zwischen Ozeanien und Europa nur unter dem Stichwort "Großepochen" angerissen, jedoch nicht beantwortet (14-15). Unklar bleibt so, warum der Beitrag sich ausschließlich auf Zäsuren der europäischen Geschichte beschränkt.

Die folgenden beiden Beiträge fordern von einem theoretischen Standpunkt aus eine "Dekolonisierung des Geschichtsunterrichts". Christoph Kühberger leitet aus einer Auseinandersetzung mit Formen der Tradierung von Wissen in Alt-Hawaii die Forderung ab, "traditionelle[n] Formen eines Umgangs mit Vergangenheit" eine gleichberechtigte Stellung in der Wissensproduktion in "den USA, in Europa und wo auch immer" einzuräumen (45). Georg Marschnig resümiert in seinem Aufsatz den Debattenstand zu postkolonialer Theorie in der Geschichtsdidaktik und fordert, in den österreichischen Lehrplan für Geschichte und Politische Bildung (2016) neue Themen aufzunehmen und klassische Themen neu zu perspektivieren. Den Abschluss des geschichtsdidaktischen Teils des Sammelbandes bildet ein wieder von Moritz Pöllath verfasster Beitrag, der Ergebnisse einer Analyse von Geschichts-, Geographie-, Englisch- und Französischlehrplänen aus den Ländern Bayern, NRW, Niedersachsen und Sachsen präsentiert. Daraus zieht der Autor den Schluss, in den Lehrplänen fehle "die enge deutsch-pazifische Geschichte, die von Migration, kultureller Hinterlassenschaft, Kolonialismus und Dekolonisierung sowie biographischen Verflechtungen geprägt ist". Diese Inhalte könnten im Geschichtsunterricht dazu beitragen, so Pöllaths These, gegenwärtige Herausforderungen besser einzuordnen. Zudem ließe sich eine Auseinandersetzung mit Erinnerung und Verantwortung im pazifischen Kontext im Unterricht behandeln (71). Ob sich aus der Lehrplananalyse die inhaltlichen Themen des einführenden Beitrags ergeben haben, bleibt unklar.

Im zweiten und dritten Teil des Bandes geht es um außerschulische Lernräume und den Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten in deutschen Museen. Im Vorjahr zur Tagung hatte der Historiker Götz Aly mit seinem Buch "Das Prachtboot" (2021) die mediale Aufmerksamkeit auf die deutsche Kolonialvergangenheit im Pazifik gelenkt. Diese Kontroverse wird im Sammelband durch eine Gesprächsrunde mit Hilke Thode-Arora (Museum Fünf Kontinente, München) und Oliver Lueb (Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln) aufgegriffen. Die beiden Ethnolog:innen heben positiv hervor, dass die Auseinandersetzung mit einem kolonialen Unrechtssystem durch Alys Intervention weiter in den Fokus der öffentlichen und politischen Debatte in der Bundesrepublik gerückt sei. Allerdings kritisiert Hilke Thode-Arora die Studie für einen selektiven Umgang mit den historischen Quellen und eine romantisierende Perspektive auf die Gesellschaft der im Fokus stehenden Insel Luf (heute Papua-Neuguinea, 1899 bis 1914 Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea) (75). Die im Gespräch hervorgehobene Tendenz, aktuelle künstlerische Positionen aus den entsprechenden Regionen in Ausstellungen einzubeziehen (81), wird auch im Beitrag von Elfriede Hermann, Hans Reithofer und Christiane Falck zur Ethnologischen Sammlung der Universität Göttingen deutlich. Hervorzuheben ist zudem der Beitrag von Hilke Thode-Arora, die auch an der Diskussionsrunde beteiligt war. Es geht darin um die 2014 präsentierte Ausstellung "From Samoa with Love?" zu den Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich (1895-1911). Thode-Arora erörtert, wie sie in ihrer kuratorischen Arbeit versucht hat, die Agency aller beteiligten historischen Akteure herauszuarbeiten, ohne dabei globale Asymmetrien und koloniale Unrechtsverhältnisse aus dem Blick zu verlieren. So wurden in der Ausstellung Erinnerungen an die Völkerschauen präsentiert, die in Familien damaliger samoanischer Völkerschaureisenden bis heute tradiert werden. Aus diesem Beitrag kann die geschichtsdidaktische Debatte zum Austausch zwischen Ozeanien und Europa viel mitnehmen.

In konzeptioneller Hinsicht fehlt in dem Band eine Klärung der zentralen räumlichen Dimension "des" Pazifiks (wie es im Titel heißt). So werden unterschiedliche Raumkonzepte synonym genutzt, ohne diese definitorisch zu bestimmen. Es geht mal um "Ozeanien" als "Weltregion" (13), dann um den "Pazifik" als "Weltmeer" oder auch literarisch anmutend um den "Ozean der Zukunft und Ozean der Vergangenheit". (13) Die Herausforderungen einer historischen Auseinandersetzung mit einer ganzen Weltregion (oder einem Weltmeer?) werden nicht adressiert. Wünschenswert wäre auch ein engerer Bezug der Beiträge auf eine gemeinsame Problemstellung gewesen. Eine Stärke liegt dagegen in der Zusammenführung von Beiträgen zum schulischen und außerschulischen historischen Lernen. Insgesamt stellt der Sammelband einen interessanten neuen Impuls für die Diskussion über den Einbezug global- und verflechtungsgeschichtlicher Perspektiven in den Geschichtsunterricht dar.


Anmerkung:

[1] Susanne Popp: Antworten auf neue Herausforderungen. Welt- und globalgeschichtliche Perspektivierung des historischen Lernens, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), 491-507; Philipp Bernhard / Susanne Popp / Jutta Schumann: Ein geschichtsdidaktisches Plädoyer für die obligatorische Verankerung globalgeschichtlicher Perspektiven in den Geschichtscurricula, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (2021), 18-32; Bernd-Stefan Grewe: Entgrenzte Räume und die Verortung des Globalen. Probleme und Potenziale für das historische Lernen, in: Geschichte im interdisziplinären Diskurs, hgg. von Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer /Anke John u.a., Göttingen 2016, 297-320.

Nicole Garretón