Sybille Steinbacher (Hg.): Rechte Gewalt in Deutschland. Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Bd. 16), Göttingen: Wallstein 2016, 252 S., ISBN 978-3-8353-1952-3, EUR 20,00
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Die letzten Jahre haben es deutlich gezeigt: Deutschland hat ein Rechtsextremismus-Problem. Während der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015 schnellte die Zahl rechtsextrem motivierter Straftaten rapide in die Höhe. Allein 2015 verzeichnete das Bundesamt für Verfassungsschutz mehr als 21.000 solcher Delikte - gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um mehr als 30 Prozent. [1] Schon zuvor wurde die Öffentlichkeit 2011 durch das Bekanntwerden der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufgeschreckt. Der NSU hatte zwischen 1998 und 2011 mindestens zehn Menschen ermordet und war auch für mehrere Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich, ohne dass die Behörden den Tätern auf die Spur kamen. Vor diesem Hintergrund fand im Oktober 2015 im Rahmen der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte eine Tagung statt, auf der sich Experten aus Wissenschaft, Politik und Journalismus mit dem Rechtsextremismus in Deutschland auseinandersetzten. Ihre Beiträge sind in dem vorliegenden Band dokumentiert, der sich in drei Teile gliedert.
Im ersten Teil geht es um die "Fakten und offenen Fragen zum NSU-Komplex". Hajo Funke skizziert die Entwicklung der rechten Szene seit den 1980er-Jahren und zeigt die wesentlichen Faktoren auf, die ihre Radikalisierung förderten und so die Entstehung des NSU ermöglichten. Den staatlichen Behörden wirft er vor, die Aufklärung der Verbrechen des NSU aktiv behindert zu haben. Da diese "Aufklärungsblockade" sich zu einer regelrechten "Staatsaffäre" (13) ausgeweitet habe, fordert Funke entschlossene politische und gesellschaftliche Reformen, um dem Rechtsextremismus in Deutschland wirksam entgegentreten zu können. Die Kritik am Verhalten der Behörden steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Katharina König, die sich mit dem NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags beschäftigt, sowie desjenigen von Dirk Laabs, der die Rolle des Verfassungsschutzes hinterfragt. Besonders kritisch sehen die drei Autoren die Rolle der V-Leute, die eigentlich die rechte Szene im Auftrag des Verfassungsschutzes und der anderen Sicherheitsbehörden ausspionieren sollten. Tatsächlich aber kamen die V-Leute ihrem Auftrag nur sehr zögerlich nach. Sie nahmen viel mehr Schlüsselpositionen in rechten Parteien und Gruppen ein und nutzen die von den Behörden gezahlten, üppigen Honorare, um ihre Organisationen zu finanzieren und neue Strukturen aufzubauen. Hier zeigt sich deutlich, dass nicht nur in Bezug auf den NSU noch vielen Fragen offen sind, sondern auch das Handeln der Sicherheitsbehörden kritisch hinterfragt werden muss; Aufklärung ist dringend geboten.
Im zweiten und dritten Teil weitet sich die Perspektive. Die Autoren befassen sich mit verschiedenen Aspekten des Rechtsextremismus in Deutschland. Ulrich Chaussy schildert anschaulich, wie die Behörden bei der Aufklärung des Oktoberfestattentats 1980 versagten. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur NSU-Affäre. Seine These, der damalige Chef des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz Hans Langemann habe in "Panik" (104) gehandelt und die Ermittlungen deshalb bewusst sabotiert, um "politische[n] Schaden" (105) vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß abzuwenden, der 1980 für das Amt des Bundeskanzlers kandidierte, überzeugt jedoch nicht, da Chaussy schlüssige Beweise schuldig bleibt. Seine These ist somit Spekulation, und er begeht damit einen der Fehler, vor denen Tanjev Schultz in seinem Beitrag warnt. Der frühere Redakteur der Süddeutschen Zeitung und jetzige Professor für Journalismus setzt sich kritisch der Rolle der Medien im Umgang mit dem Rechtsextremismus auseinander. Da ihre Berichterstattung großen Einfluss auf die Bevölkerung hat, ist es umso wichtiger, dass Journalisten bei ihrer Arbeit die Regeln ihres Handwerks einhalten. Eindringlich ermahnt er Journalisten, umfassend und gründlich zu recherchieren, ihre Quellen stets kritisch zu prüfen sowie in der Berichterstattung die Fakten deutlich von Hypothesen abzugrenzen. Anhand der Berichte über den Tod eines kleinen Jungen im sächsischen Sebnitz 1997, der zunächst fälschlicher Weise als rechtsextrem motivierter Mord dargestellt wurde, sowie der Berichte über die Mordserie des NSU, bei der auch die Medien über Jahre hinweg die Verbindungen zum rechten Milieu nicht erkannten und stattdessen von mafiaähnlichen Kämpfen innerhalb der türkischen Migrantenszene ausgingen, zeigt Schultz, welche negativen Folgen die Nichteinhaltung dieser Regeln für die öffentliche Wahrnehmung und Meinung haben kann.
In mehrfacher Hinsicht lesenswert und hoch informativ ist auch der Beitrag von Claudia Luzar über "Rechtsextreme Gewalt und ihre Opfer". Die Politikwissenschaftlerin widmet sich zunächst der von Öffentlichkeit und Wissenschaft meist zu wenig beachteten Opferperspektive. Am Beispiel rechtsextrem motivierter Straftaten in Dortmund veranschaulicht sie, unter welchen Folgen die Opfer zu leiden haben, welche Verarbeitungsstrategien ihnen zur Verfügung stehen und wie diese auch vom gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst werden. Rechtsextreme Gewalt ist darüber hinaus auch immer Teil eines Kampfes um die Kontrolle von Territorien, z.B. von Stadtteilen. Anhand derselben Beispiele zeigt Luzar, wie es Rechtsextremisten durch die Kombinationen legaler und illegaler Vorgehensweisen quasi ungehindert gelingen konnte, in einigen Dortmunder Stadtteilen Fuß zu fassen. Das zeigt, wie wichtig es ist, auch im Alltag ein wachsames Auge zu haben, um der Ausbreitung rechtsextremer Strukturen so früh wie möglich entgegenwirken zu können.
Überdies findet der Leser nicht weniger interessante Aufsätze über den Zusammenhang von rechter Ideologie und Gewaltbereitschaft (Samuel Salzborn), die Rolle von Frauen in der rechten Szene (Juliane Lang) sowie über Möglichkeiten, wie man rechtsextreme Haltungen abbauen könnte (Kurt Möller). Die verschiedenen Beiträge decken ein breites Themenspektrum ab. Obwohl sie auf den ersten Blick relativ unverbunden nebeneinander stehen, zeigen sich schon nach kurzer Lektüre zahlreiche Verbindungen zwischen den einzelnen Texten. Auch wenn die einzelnen Aufsätze kurz und kompakt gehalten sind und hinsichtlich der inhaltlichen Tiefe variieren, wird deutlich, wie komplex und facettenreich das Problem Rechtsextremismus in der Gesellschaft ist. Gleichzeitig werfen sie viele Fragen auf, die in diesem Band zwangsläufig unbeantwortet bleiben müssen. So wäre es beispielsweise interessant, systematisch der Frage nachzugehen, wie die Rechten das Internet nutzen, um ihre Ideologie zu verbreiten und sich zu organisieren, und welche Möglichkeiten es gäbe, dem entgegenzuwirken. Mindestens ebenso wichtig wären vertiefte Analysen des "soziale[n] Rechtsextremismus" (Armin Pfahl-Traughber, 215), d.h. der einschlägigen Einstellungen und Aversionen in der Bevölkerung. Der Sammelband dient somit als hervorragende Einführung in den Themenkomplex Rechtsextremismus in der Gesellschaft und setzt Anreize für weitergehende Forschungen auf diesem Feld - Forschungen, die gerade anhand der zunehmenden Akzeptanz rechter und fremdenfeindlicher Positionen in Teilen der Gesellschaft nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch geboten sind.
Anmerkung:
[1] www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/zahlen-und-fakten-rechtsextremismus/rechtsextremistische-straf-und-gewalttaten-2017 (letzter Aufruf: 24.11.2018).
Richard Büttner