Abtei St. Hildegard (Hg.): Hildegard von Bingen. Vollständige Werkausgabe (= Hildegard von Bingen. Werke; 1-10), Beuron: Beuroner Kunstverlag 2018, 10 Bde., 3398 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-87071-356-0, EUR 159,80
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Hildegard von Bingen war eine außergewöhnliche Frau. Als Äbtissin eines Benediktinerinnenklosters auf dem Rupertsberg war sie weit über ihre eigenen Klostermauern hinaus bekannt. Ihr Ruhm strahlt bis heute aus - freilich hat er sich in Kreise hinein verlagert, die auf anderes als die (zeitaufwendige und mühsame) Entschlüsselung ihrer komplexen Visionsliteratur setzen. Wichtiger scheint Hildegard als Projektionsfläche für allerlei postmoderne Wünsche und Sehnsüchte zu sein. Wer Hildegard tatsächlich war, wird sich immer nur annäherungsweise auf der Grundlage derjenigen Informationen entschlüsseln lassen, die sich in ihren eigenen Schriften bzw. in ihren Lebensbeschreibungen und dem Kanonisationsdossier finden lassen. Einige Charaktereigenschaften stechen ins Auge: sie war das, was man heute als durchsetzungsstark und kreativ bezeichnen würde, wobei ihre Kreativität nicht zuletzt aus dem Umstand resultieren könnte, dass ihr eine formale Ausbildung zeitlebens versagt blieb. In der Vita Hildegards (nachzulesen im dritten Band der Reihe) wird über ihren Sekretär gesagt, er habe es gewagt, "im Dienst der Klarheit der grammatischen Struktur, von der sie selbst nichts verstand, Kasus, Tempora und Genera in Ordnung zu bringen, ohne aber ihrer Bedeutung oder ihrem Verständnis etwas hinzuzufügen oder fortzunehmen." Was Hildegard sicherlich nicht war, ist all das, was anachronistisch an modernen Diskursen auf sie rückübertragen wird: antiautoritär, feministisch avant la lettre, eine "geniale" autonome Persönlichkeit, avantgardistische Künstlerin, "alternative" Heilerin.
In den Geschichtswissenschaften war man vornehmlich an ihrem umfangreichen Briefcorpus interessiert. Es dokumentiert Hildegards Kontakte zu den Großen und Mächtigen der damaligen Zeit. Nicht ohne Grund steht Bernhard von Clairvaux am Beginn des umfangreichen, 390 Stücke umfassenden Epistolariums. Hildegard verdankte ihm viel, war es doch Bernhard, der den Glauben an ihr Charisma als echt anerkannte und sie darin bestärkte, ihre Visionen anzunehmen und darin einen Ausdruck göttlichen Willens zu erkennen. Dass er eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts war, dürfte die Akzeptanz des Hildegardschen Schrifttums maßgeblich befördert haben.
Als am 10. Mai 2012 Hildegard von Bingen heiliggesprochen und nur wenige Monate später, am 7. Oktober 2012, als vierte Frau überhaupt (nach Katharina von Siena, Theresa von Avila und Theresa von Lisieux) in den Rang einer Kirchenlehrerin erhoben wurde, rückte Papst Benedikt XVI. die Gewichtungen wieder zurecht. Noch im 13. Jahrhundert waren Bemühungen um eine formelle Heiligsprechung ins Leere gelaufen.
Bei der Konzeptionierung der vorliegenden vollständigen Übersetzung der Werke Hildegards in deutscher Sprache [1] konnte niemand ahnen, dass die offizielle Heiligsprechung Hildegards samt ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin das Erscheinen der Reihe nicht nur begleiten, sondern auch zu einem wachsenden Interesse an den Schriften der neuen Heiligen führen würde. Im Jahr 2010 war mit der Schrift Scivias der erste Band erschienen. Als herausgebende Institution der 10-bändigen Reihe fungiert die Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in Rüdesheim / Eibingen, das Nachfolgekloster der von Hildegard im 12. Jahrhundert gegründeten Klöster Rupertsberg und Eibingen.
Die Vielfalt der von Hildegard gepflegten literarischen Gattungen lässt noch heute erstaunen: ihre theologische Botschaft vermittelt sie in Briefen, Gesängen, Homilien, vor allem aber in Visionsschriften. Das Unerhörte wird bei ihr in die Formel "bei Gott ist alles möglich" gegossen und nimmt bereits in ihrem Erstlingswerk, dem Scivias, dessen Abfassung sich über ein Jahrzehnt (1141-1151) erstreckte, eine bedeutende Rolle ein. Hildegard beschreibt darin ein Ereignis, das sich 1141 in ihrem 43. Lebensjahr ereignete, eine Vision - "ein feuriges Licht mit stärkstem Leuchten, das aus dem offenen Himmel kam" -, in deren Verlauf eine Beauftragung erfolgte: das, "was du siehst und hörst", sollte niedergeschrieben, Hildegard somit zur Prophetin gemacht werden. Die Lektüre des Scivias (und dies gilt für alle Visionsschriften Hildegards) ist nicht leicht und bedarf der "ruminatio", d. h. des langsamen, bedächtigen und konzentrierten Lesens. Für das Verständnis (und auch die Lust am Lesen) zentral ist dabei die Arbeit der Übersetzerinnen, die insgesamt Hervorragendes geleistet haben. Ihre Arbeit war zeitraubend, mitunter undankbar und fast immer schwierig, denn Hildegard pflegte einen souveränen und kreativen Umgang mit Sprache. Unsagbares musste mit den begrenzten Mitteln irdischer Sprache zum Ausdruck gebracht werden. So werden nicht nur wirkmächtige und originelle Bilder, sondern auch Wortschöpfungen geprägt, die sich ausschließlich in ihrem Werk finden (etwa "flammanter" ["wie eine Flamme"] oder "cherubizare", das in der Übersetzung als "cherubizieren" erscheint).
Die Übersetzungen sind ausgesprochen lesefreundlich angelegt. Wer einmal in der Verlegenheit war, Hildegard aus dem lateinischen Original ins Deutsche zu übersetzen, weiß die Kärrnerarbeit zu schätzen. Wenn, was häufiger geschieht, Hildegard im Ungefähren bleibt (und sich somit auch die Übersetzung schwertut), sind die fraglichen lateinischen Begriffe zumeist in Klammern mitgeliefert. Dies gilt auch für etwas freiere Übersetzungen - auch hier wird der prägnante lateinische Ausdruck in Klammern hinzugefügt.
Die Übersetzungsbände dienen dem einfacheren Zugang zum Hildegardschen Œuvre, sind aber keine "wissenschaftlichen" Ausgaben im eigentlichen Sinne. Der Fußnotenapparat ist auf ein absolutes Minimum reduziert, mitunter wurde ganz auf ihn verzichtet. Auch Indices finden sich nicht durchgehend. Man gewinnt den Eindruck, dass sich im Verlauf des Projekts diejenigen Stimmen zunehmend durchsetzen konnten, die über die bloße Übersetzung hinaus ein Mehr an zusätzlicher Information favorisierten. Deutlich zeigt sich dies an den Einleitungen, die vor allem für all diejenigen von zentraler Bedeutung sind, die nur oberflächlich mit den Werken Hildegards und der Zeit, in der sie lebte, vertraut sind - also fast alle. Herausragend in dieser Hinsicht sind die mit enormem Sachverstand verfassten Einführungen von Ortrun Riha zu den von ihr auch übersetzten Schriften Causae et Curae und Physica. Mit Blick auf die der Physica beigegebenen Rezepturen warnt Riha gar zu Recht vor Versuchen, das niedergeschriebene Wissen in die Praxis überführen zu wollen. Denn nicht alle Bezeichnungen lassen sich klären: viele sind mehrdeutig, viele kommen nur einmal vor (hapax legomenon). Auch wird an manchen Stellen nicht recht ersichtlich, "was" "wogegen" eingenommen wurde: "Retrospektive Diagnosen sollte man nicht stellen wollen" (14).
Der Liber divinorum operum darf wohl als bedeutendste, von Hildegard verfasste Schrift gelten, bietet sie doch eine Ganzheitsschau auf das sichtbare und unsichtbare komplexe Gefüge des Daseins. Unverständlich ist es daher, dass ausgerechnet dieser Schrift lediglich fünf schmale Seiten "Einführung" gewidmet werden. Was den Band jedoch vor allen weiteren Übersetzungen der Reihe auszeichnet, ist der Bildteil, der die 10 farbigen Miniaturen aus einem um 1220/30 auf dem Rupertsberg entstandenen Codex des Liber enthält. Heute wird die Handschrift in Lucca (Biblioteca Statale, codex 1942) aufbewahrt.
Sowohl das theologische Corpus als auch die kompositorische Tätigkeit versteht Hildegard als Ausfluss ihrer visionären Begabung. In den seit langem andauernden Streit darüber, ob die "Seherin vom Rupertsberg" tatsächlich die 77 ihr zugeschriebenen Gesänge und den Ordo virtutum verfasst hat, leitet Barbara Stühlmeyer im vierten Band der Reihe ebenso konzise wie kompetent ein. Deutlich wird, dass Hildegard für die Tagzeitenliturgie, die Eucharistiefeier, für stark nachgefragte Feste und für Feste komponierte, die noch nicht über eigene Gesänge verfügten (wie etwa im Fall der Hll. Rupert und Disibod). In der Übersetzung erscheinen die einzelnen Gesänge in Strophenform begleitet vom entsprechenden lateinischen, neumenunterlegten Äquivalent. Das Schriftbild der letzteren ist so gestaltet, dass sie für die Aufführungspraxis vergleichsweise unkompliziert Verwendung finden könnten. Der Strom an Informationen zu den Gesängen verkümmert zum Rinnsal mit Blick auf den Ordo virtutum, ein liturgisches Spiel, dessen Konzeption auf eine Aufführung durch den von Hildegard geführten Konvent selbst hindeutet. In der Einleitung wird auf die "hohe pastoralpsychologische Relevanz" (11) des Spiels hingewiesen - und der Leser fragt sich: worin liegt diese Relevanz begründet? Ausgeführt wird diese Behauptung nämlich nicht und vier Zeilen für ein Werk solcher Bedeutung sind deutlich zu wenig.
Neben der Visionstrilogie, neben natur- und heilkundlichen Schriften, den geistlichen Gesängen und dem geistlichen Tugendspiel hat Hildegard eine Fülle weiterer, "kleinerer" Schiften verfasst. Dazu gehören etwa die "Auslegung einiger Evangelien" (Explanatio quorundam evangeliorum), ein kleiner benediktinischer Regelkommentar (De regula Sancti Benedicti), eine Auslegung des athanasianischen Glaubensbekenntnisses (Explanatio Symboli sancti Athanasii) und zwei Viten (Vita sancti Disibodi; Vita sancti Ruperti). Vielleicht am interessantesten sind die Antworten auf 38 Fragen der Mönche von Villers (Solutiones triginta octo quaestionum), die dem Zwischenbereich von akademischer Quaestiones-Literatur und kontemplativem Ordensschrifttum zuzuordnen sind. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass "eine Detailuntersuchung zu den theologischen Inhalten der Solutiones weitere Querverbindungen zwischen Hildegards Anthropologie, Kosmologie und Tugendlehre aufdecken könnte." (IX, 16).
Auch in diesen Texten beruft sich Hildegard auf visionäre Botschaften: alles, was sie (auf Bitten verschiedener Mönchs- und Nonnenklöster hin) schreibt, ist Ausfluss einer geistigen Schau. Dies hat zwei Vorteile: zum einen wird damit die Wahrheit der mitgeteilten Inhalte verbürgt, zum anderen werden die Texte mit dem Nimbus eine prinzipiellen Unhinterfragbarkeit ausgestattet.
Der letzte Band der Reihe - Frucht aktuellster Forschungen - bildet eine Art Quintessenz des Hildegardschen Œuvres. Auf die Bitten ihres langjährigen Mitarbeiters, des Mönches Volmar, reagierend, schreibt sie ein an die eigene Schwesterngemeinschaft gerichtetes prophetisches Vermächtnis nieder. Erst mit der kritisch-lateinischen Edition des umfangreichen Briefes durch José Luis Narvaja 2014 wurde deutlich, dass dieses Opus als Einheit zu begreifen ist und sich (wie bisher in der Forschung und Editionspraxis verbreitet) eine Unterteilung in Einzelbestandteile verbietet. Vorliegende Übersetzung beruht auf dieser Edition, fügt freilich eine leserfreundliche Kapitelzählung und Überschriften (als Ergänzung der Übersetzerin leicht erkennbar) hinzu. Anders als in den neun vorhergehenden Übersetzungsbänden hat man sich hier dazu entschlossen, eine umfangreiche Einleitung vorzuschalten, die Genese und inneren Zusammenhang dieser "neu entdeckten Vision" beschreibt. Überliefert ist sie im heute in Wiesbaden aufbewahrten Riesenkodex, die (ebenfalls auf der Höhe der aktuellen Forschung) als "autorengeleitete Gesamtausgabe der Werke Hildegards" (28) begriffen wird. Das Literaturverzeichnis (146-159) umfasst die lateinischen Werkausgaben, die deutschen Übersetzungen und ausgewählte Sekundärliteratur und gilt für alle 10 Bände gleichermaßen.
Vorliegende Übersetzungsausgabe reagiert auf das wachsende Interesse an Hildegard und ihrer Zeit. Sie ist zuverlässig, gut lesbar - und eröffnet Zugang zu einer Gefühls- und Gedankenwelt, die fremd geworden sein mag, die aber nach wie vor einiges zu aktuellen historisch-politisch-theologischen Diskursen beizutragen hat. Tolle et lege!
Anmerkung:
[1] Hildegard von Bingen: Wisse die Wege - Scivias (= Hildegard von Bingen Werke; 1), Neuübersetzung von Mechthild Heieck, mit einer Einführung von Sr. Maura Zátonyi OSB, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 32013 (1. Auflage: 2010). Hildegard von Bingen: Ursprung und Behandlung der Krankheiten - Causae et curae (= Hildegard von Bingen Werke; 2), vollständig neu übersetzt und eingeleitet von Ortrun Riha, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuron 32016 (1. Auflage: 2011). Hildegard von Bingen: Das Leben der Heiligen Hildegard von Bingen - Vita Sanctae Hildegardis (= Hildegard von Bingen Werke; 3), übersetzt von Monika Klaes-Hachmöller. Mit einer Einführung von Michael Embach, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 2013. Hildegard von Bingen: Lieder - Symphoniae (= Hildegard von Bingen Werke; 4), neu übersetzt und eingeleitet von Barbara Stühlmeyer, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 22018. Hildegard von Bingen: Heilsame Schöpfung. Die natürliche Wirkkraft der Dinge - Physica (= Hildegard von Bingen Werke; 5), vollständig neu übersetzt und eingeleitet von Ortrun Riha, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 22016 (1. Auflage 2012). Hildegard von Bingen: Das Buch vom Wirken Gottes - Liber divinorum operum (= Hildegard von Bingen Werke; 6), Neuübersetzung aus dem Lateinischen von Mechthild Heieck. Einführung von Sr. Caecilia Bonn OSB, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 22013. Hildegard von Bingen: Das Buch der Lebensverdienste - Liber vitae meritorum (= Hildegard von Bingen Werke; 7), übersetzt und eingeleitet von Sr. Maura Zátonyi OSB, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 2014. Hildegard von Bingen: Briefe - Epistolae (= Hildegard von Bingen Werke; 8), übersetzt und eingeleitet von Sr. Walburga Storch OSB, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuron 2012. Hildegard von Bingen: Katechesen - Kommentare - Lebensbilder. Opera minora (= Hildegard von Bingen Werke; 9), hg. v. der Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuron 2015. Hildegard von Bingen: Prophetisches Vermächtnis - Testamentum Propheticum (= Hildegard von Bingen Werke; 10), übersetzt und eingeleitet von Sr. Maura Zátonyi OSB, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim / Eibingen, Beuron 2016.
Ralf Lützelschwab