Emilio Gentile: 25 luglio 1943 (= 10 giorni che hanno fatto l'Italia), Bari / Roma: Editori Laterza 2018, XXV + 288 S., ISBN 978-88-581-3123-7, EUR 23,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Emanuela Scarpellini: L'Italia dei consumi. Dalla Belle Époque al nuovo millennio, Bari / Roma: Editori Laterza 2008
Kilian Bartikowski: Der italienische Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933-1943, Berlin: Metropol 2013
Michele Battini: Peccati di memoria. La mancata Norimberga italiana, Bari / Roma: Editori Laterza 2003
Die Geschichte des Faschismus steckt noch immer voller Rätsel. Selbst wichtige Etappen und Wendepunkte liegen im Dunkeln und bieten Stoff für vielfältige Spekulationen, die gerade in Italien oft ins Kraut schießen und ihrerseits Gegenstand eingehender Erforschung sein sollten. Das gilt auch für den 25. Juli 1943, also für den Sturz Mussolinis, die Etablierung einer neuen monarchischen Regierung und die daraus resultierende Kapitulation Italiens vor den Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition im September 1943. Nach mehr als 70 Jahren intensiver Studien verfügen wir über eine Flut einschlägiger Schriften, außerdem über die Memoiren fast aller Protagonisten und schließlich über einige aussagekräftige Tagebücher von Zeitzeugen, die Aufschluss geben über die Geschehnisse in der denkwürdigen Sitzung des Faschistischen Großrates am 24./25 Juli, in der Mussolini eine bittere Abstimmungsniederlage erlitt.
Wesentliche Fragen sind dennoch bis heute offen geblieben: Was bewog die Kritiker Mussolinis aus den Reihen der faschistischen Partei zu ihrem Vorstoß gegen den "Duce"? Handelten sie in Abstimmung mit dem König und den führenden Militärs, die schon seit längerem auf eine Entmachtung des Diktators hinarbeiteten? Warum wies Mussolini seine Widersacher nicht in die Schranken? Wieso fügte er sich widerstandslos dem Machtwort des Königs, als dieser ihn seines Amtes als Ministerpräsident enthob und anschließend verhaften ließ?
Emilio Gentile, der - nach Renzo De Felice - namhafteste Faschismusforscher Italiens, widmet sich diesen Fragen in seinem neuesten Buch. Er stellt dabei die gesamte Forschungs- und namentlich die Erinnerungsliteratur mit skrupulöser Genauigkeit und imponierender Umsicht auf den Prüfstand und bringt so Licht in das Halbdunkel der Legenden und Einseitigkeiten, die häufig nur einem Zweck dienten: die eigene Geschichte im Faschismus zu beschönigen und die eigene Biografie fit zu machen für die Zeit danach, was in vielen Fällen nicht zuletzt wegen der stupenden Leichtgläubigkeit von Historikern auch gelang.
Das prominenteste Opfer dieser peniblen Dekonstruktionsleistung Gentiles ist der ehemalige Außenminister Dino Grandi, der sich mit einer Unzahl von Veröffentlichungen und Interviews zum eigentlichen Gegenspieler Mussolinis und zum Totengräber des Faschismus stilisierte. Nichts falscher als das, so der italienische Historiker, der bis zu seiner Emeritierung an der römischen Universität "La Sapienza" lehrte. Die Initiative zur Einberufung des Großrats ging nicht von Grandi aus, sondern von Carlo Scorza, dem Generalsekretär der faschistischen Partei, und von einigen führenden Parteifunktionären, die sich davon eine Revitalisierung des Regimes und eine Mobilisierung der letzten nationalen Kraftressourcen erhofften. Auch der König sollte durch die Übernahme des militärischen Oberbefehls in die Pflicht genommen werden, während man den "Duce" angesichts der ungeheuren Fülle seiner Ämter zwar entlasten, aber mitnichten entmachten wollte; er und der Faschismus sollten unangetastet bleiben. Dino Grandi kam erst vier Tage vor der Sitzung des Großrats ins Spiel, wobei er nicht annähernd so energisch und zielstrebig agierte, wie er später glauben machen wollte. Nicht einmal die Resolution, die im obersten Leitungsgremium des Regimes eine Mehrheit fand, stammte von ihm allein. Sie war ein Gemeinschaftswerk mit Giuseppe Bottai, der nicht im entferntesten daran dachte, Mussolini damit zu Fall zu bringen. Das taten auch die übrigen führenden Faschisten nicht, die den Antrag unterstützten - selbst Grandi wohl nicht.
Auch dass es sich bei der Einberufung des Großrats um eine konzertierte Aktion mit der Krone und den Militärs gehandelt hat, wie Grandi und später auch Mussolini behaupteten, verweist Gentile in das Reich der Phantasie. Der König erfuhr von der Sitzung erst, als sie bereits im Gang war, er griff aber entschlossen zu, als sich ihm die Chance für die Absetzung des "Duce" bot. Grandi hatte darauf ebenso wenig Einfluss wie die anderen Mitglieder des Faschistischen Großrats; einige erhielten die Nachricht vom Sturz des Diktators erst durch das Radio.
Und Mussolini? Wie erklärt sich dessen Passivität während der Sitzung im Großrat und nach der Abstimmungsniederlage? Der "Duce" wusste von der grassierenden Unzufriedenheit und Kriegsmüdigkeit im Volk. Ihm stand klar vor Augen, dass es auch in seiner Partei gärte, und ihm war nicht verborgen geblieben, dass sich im Großrat etwas zusammenbraute. Grandi selbst hatte ihm ja die Resolution zur Kenntnis gebracht, die er am 24./25 Juli zur Abstimmung stellen wollte. Es wäre für Mussolini ein Leichtes gewesen, die Sitzung des Großrats abzusagen oder zu unterbrechen, als sich die Diskussion nicht so entwickelte wie erwartet. Er hätte seine Kritiker nach Hause schicken oder verhaften lassen können; seine Wachmannschaften standen Gewehr bei Fuß, ganz zu schweigen von den Revolutionären in der faschistischen Partei und von der mit modernen Waffen ausgerüsteten Elite-Division "M", die nur auf ein Zeichen zum Losschlagen wartete.
Mussolini gab dieses Zeichen nicht, sondern ließ den Dingen ihren Lauf. Emilio Gentile hat auch dafür eine Erklärung, die freilich nicht annähernd so überzeugend ausfällt wie seine luzide Rekonstruktion der Ereignisse um den 24./25. Juli. In seinen Augen wusste Mussolini im Sommer 1943, als die alliierten Truppen bereits auf Sizilien gelandet waren, nicht mehr weiter. Er hatte resigniert und suchte einen Ausgang aus der Geschichte, die nur noch Niederlagen für ihn bereit zu halten schien. Er habe, so Gentile, eingesehen, dass sein Charisma aufgebraucht und sein Projekt einer faschistischen Erneuerung Italiens gescheitert war; daher habe er sich voller Zorn und Bitterkeit in sein Schicksal gefügt.
Man wird diese Überlegungen nicht einfach als verfehlt abtun können. Akzeptieren muss man sie freilich ebenso wenig. Dagegen sprechen nämlich gewichtige Gründe, die in der Summe eine andere These als plausibel erscheinen lassen: Mussolini war mit seinem Latein noch nicht am Ende, er hatte noch immer große Pläne für sein Land und war zuversichtlich, binnen kurzem auch seinen Verbündeten Hitler davon überzeugen zu können, wie der gemeinsame Endsieg zu erringen war - nach einem Arrangement mit Stalin, der dafür riesige territoriale Zugeständnisse erhalten sollte, und nach einer Verlegung der "Achsen"-Streitkräfte in den Mittelmeerraum, wo er die Anglo-Amerikaner stellen und schlagen wollte. Er hatte darüber anscheinend auch schon mit dem König gesprochen und dessen Segen erhalten, so dass er sich auch nach der Abstimmungslage im Großrat sicher fühlte und nicht eine Sekunde mit seiner Entmachtung rechnete. Mussolini wähnte den Monarchen auf seiner Seite und hielt ihn im Übrigen für viel zu schwach und schlau, als dass er es gewagt hätte, gegen ihn, den "Duce", vorzugehen.
Weshalb es anders kam und sich der König am Ende doch zum Handeln entschloss, als ihm der Zufall, sprich: die Niederlage Mussolinis im Großrat, in die Hände spielte - diese Frage spart Gentile ganz aus. Sie kann wohl auch erst nach der Öffnung der Archive des ehemaligen Königshauses geklärt werden. Bis dahin bleibt die Politik des Monarchen eines der vielen Rätsel, die es in der Geschichte des Faschismus noch immer gibt.
Hans Woller