Tilmann Lahme: Golo Mann. Biographie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, 551 S., ISBN 978-3-10-043200-1, EUR 24,95
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Welch ein Fortschritt!, wird jeder Leser ausrufen, der die 2004 von Urs Bitterli veröffentlichte Golo Mann-Biografie studiert und enttäuscht zur Seite gelegt hat [1] - und der jetzt zu Tilmann Lahmes Erstlingswerk (einer Kieler Dissertation) greift. Lahme hat sich diesen Fortschritt hart erarbeitet und sich nicht damit begnügt, den reichen Nachlass mit den Tagebüchern und Briefen im Schweizerischen Literaturarchiv und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach auszuwerten. Das Verzeichnis der konsultierten Archive reicht vom Archiv der Guggenheim Foundation in New York bis zur Zentralbibliothek Zürich und umfasst 32 archivische Einrichtungen, ganz zu schweigen von den Schätzen, die sich noch in Privatbesitz befinden: Den Briefen Golo Manns an Karl Dietrich Bracher, an Harry Pross oder Eberhard Jäckel, um nur einige aus der Reihe von zwei Dutzend zu nennen, die Lahme ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.
Tilmann Lahme hat freilich nicht nur große Umsicht und Findigkeit bei der Suche nach neuen Quellen bewiesen und damit - en passant - vermutlich auch einen beeindruckenden Briefbestand zusammengetragen, der zur Basis zahlreicher Editionen werden kann, die Golo Manns Rang als klugen politischen Beobachter und noblen Menschen weiter befestigen dürften. [2] Lahme hat es auch verstanden, das umfangreiche Quellenmaterial intellektuell zu bändigen und in eine Darstellungsform zu bringen, die in ihrer Mischung aus leisen Tönen und entschiedenen Urteilen höchsten Maßstäben genügt. In fünf großen, der Chronologie folgenden Kapiteln wird dabei der Lebensbogen gespannt von der Kindheit und Jugend Golo Manns bis 1933 über die Jahre der Emigration und der zögerlichen Rückkehr nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Höhepunkten seines Schaffens als politischer Publizist, Gelehrter und Schriftsteller, das in der deutschen Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts und im "Wallenstein" gipfelte und in zahlreichen, oft biografischen Essays und schließlich in seinen Erinnerungen ausklang.
Wer Bitterlis Biografie noch in frischer Erinnerung hat, wird viel Bekanntes im neuen Golo Mann finden - und zugleich auf fast jeder Seite Neues entdecken, wie Gustav Seibt mit Recht geschrieben hat. [3] Das gilt vor allem für den Menschen Golo Mann, der - anders als bei Bitterli und in zahlreichen Nachrufen und Gedenkartikeln - in seiner ganzen traurigen Größe zutage tritt. Lahme skandalisiert hier nichts, er verschweigt aber auch nichts - weder das Leiden am übermächtigen, steril-kalten Vater und an der maskulin-herrischen Mutter, noch die Ängste, Phobien und Depressionen, die Golo Mann periodisch außer Gefecht setzten und zeitweise nur durch Alkohol und Tabletten einzudämmen waren, und auch nicht Golo Manns Homosexualität, die durchaus ihre "Realisierungs"-Chancen fand, wenn auch auf dezentere Art als bei seinem Bruder Klaus, der sich keinerlei Hemmungen auferlegte.
Viel Neues bietet Lahme außerdem über den homo politicus und engagierten Zeitgenossen Golo Mann. Schon als Schüler in Salem an Politik und gesellschaftlichen Fragen interessiert, erwies sich Golo Mann bald als eigenständiger politischer Kopf, der sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Hitler und dem Nationalsozialismus auf fast quälerische Weise um ein eigenes Urteil bemühte. Dass er dabei weit nach links driftete und sogar in einer linksradikalen Studentengruppe aktiv wurde, verschwieg der spätere Konservative gern, wird von Lahme aber ebenso unaufgeregt aufgedeckt und erklärt wie die demokratische Läuterung, die nach 1933 einsetzte und rasch auch zum vollständigen Bruch mit Marx führte.
Größere und kleinere Entdeckungen dieser Art ließen sich noch viele nennen. Sie zeigen Golo Mann - etwa in seinem frühem Plädoyer für eine neue Ostpolitik und eine Aussöhnung mit Polen - als weitsichtigen Analytiker, der sich nicht scheute, unbequeme Forderungen zu erheben, ohne dass man freilich sagen könnte, er sei seiner Zeit immer voraus gewesen und habe immer richtig gelegen. Auch Golo Mann ließ sich von Ressentiments und Stimmungen leiten, wenn auch weit seltener als sein Vater und sein Onkel Heinrich, ganz zu schweigen von seinen älteren Geschwistern Erika und Klaus, die einander auch an politischer Exzentrik überboten. Beispiele dafür sind seine wohlwollenden Urteile über Francos Spanien, sein Eintreten für Hans Filbinger im Marinerichterskandal und sein beherzt-halbherziges Engagement für Franz Josef Strauß, wobei sich Golo Mann hier sogar für billige Wahlkampfzwecke einspannen ließ, die ihm nicht recht sein konnten - und es auch nicht waren.
Bliebe der Historiker Golo Mann, der sich schwertat mit seinen Zunftkollegen, die es ihm freilich auch nie leicht machten. Lahme berichtet hier von manchen Skandalen und gescheiterten Berufungen (etwa in Kiel, wo Hans Rothfels eine unrühmliche Rolle spielte). Gestützt auf profunde Quellenkenntnis vermeidet er aber wohlfeile Schwarz-Weiß-Urteile, die den borstigen Emigranten nur in der Rolle der erneut verfolgten Unschuld zeigen. Golo Mann hatte immer einflussreiche Fürsprecher, deren Pläne er aber nicht selten erschwerte oder ganz durchkreuzte, weil er sich zierte und Sonderkonditionen verlangte, die im universitären Alltag schwer zu erfüllen waren. Zudem konnten er (und seine Familie) auch austeilen und zu bedenklichen Mitteln greifen, wie sich nicht zuletzt im giftigen Streit mit Adorno und Horkheimer zeigte, wo beide Seiten einander nichts schenkten.
Lahme hält auch hier die nötige Distanz zu seinem Helden, der schließlich wohl selbst einsah, dass er für die "Professorerei" nicht recht geschaffen war. Nur einmal stellt sich die Grundsympathie, die der Autor für Golo Mann fraglos empfindet, als kleines Hindernis heraus - bei der Frage nämlich, wie das historiografische Werk Golo Manns im Kontext der Geschichtswissenschaft nach 1945 zu beurteilen sei. Lahme bleibt hier (und nur hier) merkwürdig unentschieden, im Grunde weicht er der Frage sogar aus. Woraus schöpfte Golo Mann? Worauf stützt er sich etwa bei seiner deutschen Geschichte? Wo liegt das innovative Potenzial seiner Bücher und Essays, die fast alle zu Long- und Bestsellern wurden? Was davon wirkt weiter und ist wirklich originell - eine zentrale These, eine methodische Neuerung? Wie kommt es, dass Golo Mann keinen Nachfolger, keine Schüler hatte? Lag es nur an der selbstreferentiellen akademischen Zunft, die den genialen Außenseiter ohne Stallgeruch nicht hochkommen ließ und ihm seine publizistischen Erfolge neidete? Oder auch - wenigstens ein bisschen - an Golo Mann selbst und an seinem Werk, das bei aller wissenschaftlichen Takelage letztlich doch ganz im Zeichen der persönlichen Selbstvergewisserung und privaten Gewissenserforschung in schwierigen Zeiten stand?
Anmerkungen:
[1] Vgl. Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biografie, Berlin 2004.
[2] Ein erster Band mit Briefen ist bereits erschienen: Golo Mann: Briefe 1932-1992, hg. von Tilmann Lahme / Kathrin Lüssi, Göttingen 2006.
[3] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27.3.2009, 16.
Hans Woller