Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955, 2. Auflage, Berlin: Rowohlt 2019, 474 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7371-0013-7, EUR 26,00
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Ist nicht alles schon gesagt? Harald Jähner hat für sein Buch "Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955" den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Selten habe ein Sachbuch, so heißt es in der Begründung der Jury, "Anschaulichkeit, dramaturgisches Gespür und Eloquenz so gekonnt in sich vereint". Die Rezensenten sparten ebenfalls nicht mit Lob: "Ein begabter, ja ein begnadeter Erzähler", ließ sich beispielsweise der Deutschlandfunk vernehmen, während in anderen Organen Adjektive wie grandios und großartig nur so purzelten.
Nüchterne Nachprüfung hat angesichts solch wuchtiger Hymnen kaum eine Chance, Gehör zu finden. Dennoch muss sie sein, zwingend sogar. Das Buch heißt "Wolfszeit", weil es so gut klingt. Eine Begründung liefert der Autor nicht, zahlreiche Befunde und Überlegungen, die er präsentiert, widersprechen sogar der vom Buchtitel evozierten These, zwischen 1945 und 1955 seien die Deutschen recht wölfisch miteinander umgegangen. Ähnlich unbekümmert verhält sich Jähner bei der Formulierung der Fragestellung, die dem Buch die diskursive Richtung weisen könnte. Wohin die Reise geht, deutet er mit einigen pauschalen Bemerkungen nur an. Es soll sich aber um Neuland handeln, das er erschließen will. Erst auf einer der letzten Seiten des Buches erfährt man Genaueres. Er wollte zeigen, wie sich die "Mehrheit der Deutschen bei aller hochmütigen Zurückweisung individueller Schuld zugleich einer Mentalität entledigte, die das NS-Regime möglich gemacht hatte". Mehrheit? Hochmütig? Durchgreifender Mentalitätswandel bis 1955? In West und in Ost? Überhaupt das weite Feld der Mentalitäten, das schon die größten Geister zur Verzweiflung getrieben hat? Abgesehen davon, dass daran nun wirklich nichts neu ist und dass dieser Fluchtpunkt im Buch selbst kaum als roter Faden der Argumentation erkennbar ist - so viele höchst vage und strittige Vorannahmen lagen einem Sachbuch selten zu Grunde. Zum Glück gibt es aber den Verlag, der diese Unsicherheiten auf seine Weise behebt und dabei keine Zurückhaltung kennt. Jähners Buch sei die "erste große Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit", in "deren Mittelpunkt die Deutschen in ihrer ganzen Vielfalt stehen". Aha!
Der Anspruch ist also denkbar hoch gesteckt. In zehn Kapiteln und einem kleinen Nachwort, betitelt "Das Glück", nähert sich der Autor seiner Riesenaufgabe, die von der leicht gegenwartstrunkenen Zeitgeschichtsforschung in den letzten Jahren tatsächlich etwas vernachlässigt worden ist. "Das große Wandern", "Tanzwut", "Liebe 47", "Der Kalte Krieg der Kunst und das Design der Demokratie" oder "Der Klang der Verdrängung" - so oder vergleichbar pfiffig und originell sind einzelne Kapitel überschrieben, die den Leser fraglos einnehmen und auch nicht enttäuschen. Farbigkeit und Prägnanz dominieren etwa bei der Beschreibung der katastrophalen Wohnsituation in den zerbombten Städten, bei der Darstellung der großen Wanderungsbewegung und bei der Rekonstruktion des im Krieg strapazierten Familienlebens. Ähnlich lebendig behandelt Jähner die Kehrseite des allgemeinen Elends, die er freilich eher postuliert als analysiert: die "nie gekannte, eruptive Daseinsfreude", die neue deutsche "Welle der sexuellen Abenteuerlust" und die mitunter überbordende "Vergnügungssucht", die sich im rasch reetablierten Karneval ebenso äußerte wie in den vielfältigen Tanz- und Kinoveranstaltungen. Jähner privilegiert hier die Sicht und Erlebniswelt der Frauen, während Männer überwiegend als ausgebrannte Heimkehrerexistenzen erscheinen, die sich ihren Platz in der Gesellschaft erst wieder erobern mussten. Auch wenn es sich dabei fast immer um einen Reigen von Impressionen handelt, haben diese Kapitel ihren Reiz, weil der Autor häufig dramaturgisch geschickt einzelne Protagonisten herausgreift und an ihrem Beispiel den Geist der Zeit aufleben lässt. Beate Uhse und Hans Magnus Enzensberger sind zwei Exempel dafür, die als Umerzieher titulierten Alfred Döblin, Hans Habe und Rudolf Herrnstadt weitere. Bei der Schilderung ihrer Aktivitäten gelingen Jähner biografische Miniaturen von memorabler Eindringlichkeit, die hier - wie auch in den Passagen über das große Verdrängen und das emanzipatorische Potenzial des Nierentisches - mit zugespitzten Beobachtungen gewürzt sind.
Der Leser lässt sich davon leicht mitreißen. Wenn er mit den Dingen einigermaßen vertraut ist, beginnt er sich aber spätestens nach der Hälfte des Buches zu fragen, ob es mit diesem hübschen Parlando sein Bewenden haben kann. Jähner ist schließlich nicht der erste, der über die Nachkriegsgeschichte schreibt. Legionen von Historikerinnen und Historikern haben sich dazu in grundlegenden, auch schriftstellerisch ambitionierten Werken geäußert und dabei einen Forschungsstand (z.B. Christoph Kleßmann, Hans Günter Hockerts, Wolfgang Benz, Hans-Peter Schwarz, Edgar Wolfrum) konstituiert, den Jähner ebenso souverän ignoriert wie das methodische Einmaleins, das jeder Geschichtsschreibung - auch der auf ein breiteres Publikum zielenden - zugrunde liegen muss. Er hält sich einfach an die Quellen, genauer an Zeitschriften und insbesondere einige Hände voll Tagebücher, Briefeditionen und Erinnerungen, die er oft und oft zum Ausgangspunkt seiner eigenen Reflexionen und zur Basis seiner Thesen macht, obwohl diese Dokumente fast ausschließlich von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen und Künstlern aus dem urbanen Milieu (häufig aus Berlin) stammen. Das sogenannte flache Land kann so schon wegen der Quellenauswahl ebenso wenig in den Blick geraten wie Industrieregionen mit starker Arbeiterschaft (etwa das bisschen Ruhrgebiet) oder mittelständisch geprägte Landesteile, von der SBZ/DDR ganz zu schweigen; die 17 Millionen Brüder und Schwestern bleiben auch historiografisch "drüben".
Diese hochgradige Einseitigkeit wird noch dadurch verstärkt, dass Jähner um die großen politischen Fragen und um zahlreiche nicht weniger wichtige wirtschaftliche und soziale Probleme einen weiten Bogen macht. Kein Wort zu Parteien und Verbänden, keine Silbe zum brennenden Thema der Sozialisierung, zum Marshall-Plan und zum "Wirtschaftswunder", keine Andeutung über die Kirchen und zur Konjunktur von Gläubigkeit und Frömmigkeit. Nicht einmal die deutsche Teilung mit ihren dramatischen Folgen für Millionen Menschen findet Erwähnung. Sogar zu Kriegsängsten und zur Furcht vor Moskau und kommunistischer Überwältigung, die im Westen Deutschlands grassierte, schweigt der Autor - und das alles, obwohl er über "Deutschland und die Deutschen" schreibt.
Nur noch am Rande sei erwähnt, dass die Deutschen in der Nachkriegszeit, folgt man Jähner, weitgehend unter sich blieben und ihre diversen "Wunder" also aus eigener Kraft schafften. Früher sprach man mit Blick auf die Jahre 1945 bis 1949 von der "Besatzungszeit", und auch die halbe Dekade danach galt als Bewährungsphase, in der die Deutschen unter alliierter Vormundschaft standen. Stichwort: Besatzungsstatut, das die Souveränität noch immer stark beschnitt. Jähner schildert zwar das aufreizend lässige Erscheinungsbild amerikanischer GIs und die bezwingende Wirkung, die von ihnen ausgegangen sein soll. Dass Politik und Gesellschaft aber auch sonst maßgeblich von den Amerikanern und von den anderen drei Siegermächten bestimmt wurden, erfährt der Leser nur in einer winzigen Passage: "Verantwortlich für die deutschen Geschicke ab 1945 waren [...] gleich vier politische Zentren: Washington, Moskau, London, Paris". Die Lizenzierung der Parteien, die Neugestaltung der Presselandschaft, die Bodenreform, die Entnazifizierung, die Kriegsverbrecherfrage, die Bereinigung der Naumann-Affäre und und und - es gab so gut wie keinen Bereich, in dem nicht strukturelle und personelle Eingriffe der Alliierten zu verzeichnen waren. Namen wie Lucius D. Clay, der amerikanische Militärgouverneur, und John Jay McCloy, der amerikanische Hohe Kommissar, die in keiner historischen Darstellung der Nachkriegszeit fehlen dürften, sucht man in der "Wolfszeit" vergeblich. Der deutsche Münchhausen-Mythos ist offenbar unausrottbar.
Ist das ein Trend, Jähners Buch mithin ein Symptom für eine neue nationale Selbstbezogenheit? Wollen wir wirklich nicht mehr wissen, dass das zarte Pflänzchen der Demokratie auch deshalb Wurzeln schlagen und gedeihen konnte, weil es in einem schützenden Gewächshaus gepflanzt worden war, das die westlichen Alliierten errichtet hatten und so lange betrieben, bis unsere Demokratie robust genug war, um raueren Winden stand zu halten? Beunruhigende, eigentlich längst abgetane Fragen, die da von einem preisgekrönten Buch provoziert werden!
Hans Woller