Boris Barth / Stefanie Gänger / Nils P. Peterssohn (Hgg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven (= Reihe "Globalgeschichte"; Bd. 17), Frankfurt/M.: Campus 2014, 320 S., ISBN 978-3-593-50171-0, 39,90
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Der hier anzuzeigende Sammelband ist bereits vor einigen Jahren erschienen, dennoch bleibt er für die Debatten innerhalb der (und um die) Globalgeschichte hochaktuell. Die einzelnen Beiträge, insbesondere aber auch die Einleitung, reagieren auf die erste Welle von Kritik, die dem Aufstieg des neuen historiographischen Paradigmas seit den 2000er Jahren folgte. Extrem verkürzt liesse sich das Hauptargument des Editorenkollektivs wie folgt zusammenfassen: Die Globalgeschichte hat nach einigen Nachjustierungen und dem Überwinden diverser Kinderkrankheiten eine neue Entwicklungsstufe erreicht und ist aus diesem Reifungsprozess gestärkt und deutlich differenzierter hervorgegangen. Die Kritiker globalhistorischer Ansätze haben sich zwischenzeitlich dagegen offenbar wenig weiterentwickelt, denn auch die jüngsten Angriffe auf global history in der englischsprachigen Akademie - insbesondere die scharfzüngige Attacke des Princeton Historikers Jeremy Adelman wurde in der Zunft breit rezipiert [1] - repetieren im Wesentlichen die Hauptkritikpunkte der ersten Generation von Globalgeschichtsskeptikern. Neben dem Unbehagen mit der aus der meist eingenommenen Makroperspektive resultierenden Quellen- und Akteursferne der Globalgeschichte wurde insbesondere der vermeintlich teleologische Grundtenor globalhistorischer Forschung beanstandet. Diese sehe ihre raison d'être, so die Kritiker, vor allem als ex post-Legitimierung von aktuellen Globalisierungsprozessen. Die bei einer ganzen Reihe von GlobalhistorikerInnen diagnostizierte Fokussierung auf «connectivities», «entanglements» und Integrationsprozesse wurde von Adelman und anderen Kritikern als naiv und im Lichte der aktuellen weltweiten Renaissance von Nationalismus, Chauvinismus sowie Abschottungs- und Ausgrenzungsrhetoriken auch als wenig relevant kritisiert. Allen diesen Vorwürfen liesse sich mit Verweis auf die Beiträge des vorliegenden Bandes trefflich begegnen.
Die Herausgeber Barth, Gänger und Petersson sowie die übrigen sieben Autorinnen und Autoren kooperierten über einen längeren Zeitraum an der von Jürgen Osterhammel geleiteten Konstanzer Forschungsstelle «Globale Prozesse» und diese Integration in einen gemeinsamen Diskussionszusammenhang macht sich überaus positiv bemerkbar. Die einzelnen Beiträge des Bandes greifen stärker ineinander, als dies bei den meisten Sammelbänden der Fall ist und die überwölbenden gemeinsamen Fragestellungen bleiben jeder Zeit präsent. So ist es den meisten AutorInnen ein Anliegen, von Globalisierungen im Plural zu sprechen und sich damit von der Idee eines monolithischen und kulturneutralen 'Masterprozesses' zu verabschieden. In ihrer Einleitung grenzen die Herausgeber zudem Globalisierungs-geschichte von einer sehr viel breiteren Globalgeschichte ab, die nicht zwangsläufig primär an Verflechtungen interessiert ist, und durchaus auch eine Mikro- oder Mesoperspektive einnehmen kann. (8-11).
Während das Bemühen um grössere Differenzierung und Nuancierung in nahezu allen Beiträgen zu spüren ist, wählen die einzelnen Autorinnen und Autoren dennoch sehr verschiedene Zugänge. Die Beiträge von Boris Barth zu den weltweiten Verflechtungen der Finanzwirtschaft und Jürgen Osterhammel zum «Sport in der Weltarena» gleichen am ehesten der konventionellen Vorstellungen von Globalgeschichte, da sie eine Makroperspektive einnehmen und hauptsächlich auf der Synthese von Sekundärliteratur basieren. Andere Beiträge wählen eine begrenzte Fallstudie um ein überwölbendes globalhistorisches Problem zu erhellen oder eine Methode zu testen. Besonders gut gelungen ist dies Bernd Stefan Grewe, der in seinem Beitrag einen spektakulären Goldraub auf einem britischen Schiff in den 1960er Jahren als Ausgangspunkt nimmt, um kenntnisreich die Möglichkeiten und Grenzen der global commodity chain analysis auszuloten. Einen vergleichbaren Versuch der Versöhnung von Mikro- und Makroperspektiven unternimmt Niels Pettersson. In seinem Falle wird das Potential der Globalgeschichte für die Bereicherung der Geschichte der Arbeit anhand der Diskussionen in Grossbritannien um gleiche Bezahlung für Seeleute aus Aussereuropa untersucht. Pettersons Beitrag illustriert mustergültig die Persistenz und Wirkmächtigkeit nationaler Institutionen und Bezugsrahmen in einer sich globalisierenden Welt.
Zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt Martin Rempe in seinem Kapitel zu «Musikermobilität und Musikaustausch im 20. Jahrhundert». Entgegen landläufiger Annahmen, so sein Fazit, sei die transregionale Zirkulation von Musikern und Musikstilen bis weit in die zweite Hälfte den 20. Jahrhunderts immer wieder konterkariert worden durch Abschottungsversuche nationaler Musikergewerkschaften einerseits und das Bemühen von Schallplattenfirmen, 'authentische' 'lokale' Musik für bestimmte Regionen zu produzieren und dort gezielt zu vermarkten andererseits. Noch weiter entfernt sich Jan C. Jansen vom unter vielen GlobalhistorikerInnen so populären Verflechtungs- und Integrationsparadigmata: Sein Beitrag zur «demographischen Entmischung» nordafrikanischer Gesellschaften seit der Dekolonisation verfolgt das explizite Ziel «Löcher im Netz, Momente der Entflechtung [und] Deglobalisierung» (295) zu thematisieren und damit ein anderes Licht auf Migrationsprozesse zu werfen.
Sven Trakulhun und Valeska Huber wollen ihre Beiträge dagegen in der jüngst lebhaft diskutierten «globalen Ideengeschichte» verortet wissen. Während Trakulhun die selektive Anverwandlung westlichen Wissens durch buddhistische Reformer im Siam des späten 19. Jahrhunderts beleuchtet, weiss Hubers quellengesättigte Studie zur angestrebten Verbreitung von Basic English als globale lingua franca während der 1920er bis 1950er Jahre ihre case study geschickt mit globalhistorischen Metadebatten zu verknüpfen. Die verbleibenden beiden Beiträge schliesslich nehmen sich primär wirtschaftshistorischen Fragen an. Christoph Dejungs Kapitel zum Baumwollhandel im kolonialen Indien erlaubt interessante Einblicke in die Grenzen kolonialstaatlicher Macht und den überraschend grossen Handlungsspielraum internationaler privater Handelsfirmen und indigener Akteure. Er leistet damit zweifellos einen wichtigen Beitrag zu laufenden Debatten unter auf Südasien spezialisierten Wirtschaftshistorikern. Der Erkenntnisgewinn im Bezug auf breitere globalhistorische Fragestellungen ist im Vergleich dazu weniger spektakulär, wiewohl seine Anregung, die Zwischenkriegszeit als eine Periode der «Enteuropäisierung des Globalen» zu lesen, (99-104) durchaus bemerkenswert ist. Stefanie Gängers Beitrag über den weltweiten Export der im Andenraum beheimateten und als Malaria-Prophylaxe genutzten Chinarinde bereichert den Band in doppelter Hinsicht. Er beschäftigt sich nicht nur als einziger mit Lateinamerika - einer in der global history eher unterbelichteten Region -, er demonstriert auch überzeugend, dass globalhistorische Fragen und Methoden auch wichtige Einsichten in die Geschichte der frühen Neuzeit generieren können.
Insgesamt ist hier ein sehr empfehlenswerter Sammelband gelungen, der die Vielfalt der Debatten und Methoden in der noch jungen Subdisziplin spiegelt und, wichtiger noch, deren Dynamik und Wandlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis stellt. Man darf ihm daher auch fünf Jahre nach seinem ersten Erscheinen weiterhin viele Leserinnen und Leser wünschen.
Anmerkung:
[1] Siehe https://aeon.co/essays/is-global-history-still-possible-or-has-it-had-its-moment (29.06.19).
Harald Fischer-Tiné