Christoph Jahr: Paul Nathan. Publizist, Politiker und Philanthrop 1857-1927, Göttingen: Wallstein 2018, 302 S., ISBN 978-3-8353-3297-3, EUR 29,90
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Hannah Arendts polemisches Urteil, dass die Juden "keine politische Tradition oder Erfahrung" besäßen, hat in den jüdischen Studien ebenso Kritik hervorgerufen wie es durch die historische Forschung zur Geschichte jüdischer Diasporapolitik weitgehend widerlegt ist. [1] Tiefere Erkenntnis birgt indes ihr Resümee, dass gerade die Juden Westeuropas in Philanthropie und Wohltätigkeit ein Medium gefunden hätten, um neben ihrem Streben nach kultureller Assimilation zugleich Solidarität mit ihren weltweit bedrängten Glaubensgenossen zu demonstrieren. "Die Wohltätigkeit, dieses Überbleibsel der einstmals selbstständigen Gemeinden", resümierte Arendt, "hatte 200 Jahre lang so viel Kraft bewiesen, dass sie die Zerstörung des Zusammenhalts des in der ganzen Welt verstreuten jüdischen Volks verhinderte." [2]
In keiner Person scheint Arendts Einschätzung eine treffendere Bestätigung zu finden, als in dem deutsch-jüdischen Politiker und Philanthropen Paul Nathan. Das jedenfalls legt die Biografie nahe, die der Berliner Historiker Christoph Jahr im letzten Jahr vorgelegt hat. Publizist, Politiker und Philanthrop, 1857-1927 lautet der Untertitel des Buches, dessen Verdienst über die bloße Schließung einer Forschungslücke weit hinausgeht. Nachdem der befreundete Ernst Feder bereits zwei Jahre nach Nathans Tod ein Lebensbild unter dem Titel Paul Nathan. Politik und Humanität veröffentlicht hatte, war es still um ihn geworden. Zu Unrecht, wie Christoph Jahr nun in seiner gründlich recherchierten Monografie darlegt, für die er Archive in Berlin, Moskau, Jerusalem und New York aufgesucht hat.
Den Beginn der in sieben Teile gegliederten Gesamtschau bildet eine Darstellung von "Zeit und Mensch". Hier wird Nathan als der 1857 geborene Sohn einer jüdischen Familie des deutschen Großbürgertums vorgestellt, der zu seiner Herkunft anfangs auf Distanz gegangen war. Allein in der "vollständigen Akkulturation der Juden" wollte er "die Gewähr ihrer Gleichberechtigung" erkennen (11). Die Vorstellung einer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk war ihm zeitlebens fremd.
Seine politische Heimat fand der deutsche Patriot und Weltbürger im Liberalismus. Detailliert zeigt Jahr in seinem Porträt von Nathan als Politiker, wie dieser sich als "typischer Vertreter des 'Honorationenliberalismus' des späten 19. Jahrhunderts" (11) zuerst von Ludwig Bamberger und Eduard Lasker inspirieren ließ, um fortan "alle Wendungen des Linksliberalismus" mitzumachen (121). 1921 trat er schließlich zur SPD über. Anhand seiner "zwanzigjährige[n] Laufbahn als Stadtverordneter" (127) belegt der Autor sowohl Nathans sozialpolitisches Engagement wie auch sein Scheitern auf der großen Bühne der Politik: Als Kandidat für ein Reichstagsmandat war Nathan allen Mühen zum Trotz niemals aufgestellt worden.
In welch hohem Maße Nathan sein politisches Engagement wiederum in den "Kategorien publizistischer Wirksamkeit" verhandelte und stets erwog, wie er seine Aktivitäten "als Politiker und Philanthrop [...] publizistisch unterstützen konnte" (87), ist Gegenstand eines eigenen Kapitels. Es zeichnet den allmählichen Aufstieg Nathans als Publizist nach, der ihn 1883 schließlich für 18 Jahre lang zum Redakteur der Nation - "das wichtigste publizistische Organ des sezessionistischen Nationalliberalismus" (88) - machte. Am Aufstieg der Zeitschrift hatte Nathan einen nicht unwesentlichen Anteil. Dieser redaktionellen Tätigkeit entsprang ein enger Kontakt mit den publizistischen und politischen Größen des Kaiserreichs, wie Maximilian von Harden, Theodor Mommsen, Rudolf Virchow und Hugo Preuss. Dennoch war Nathan auch selbst prägend in der politischen Debatte geworden (95).
Dass er sich schließlich auch jüdischen Themen zuwandte, war vor allem den engen Grenzen der Mehrheitsgesellschaft geschuldet. Sie hatte die Hoffnung auf Emanzipation und Akkulturation immer wieder enttäuscht. Der Berliner Antisemitismusstreit blieb für Nathan jedoch nicht das einzige Schlüsselereignis, das sein andauerndes "Schreiben gegen den Antisemitismus" antrieb. Eindrücklich zeigt Jahr, wie dem "vom Geist der bürgerlich-liberalen Aufklärung" (103) geprägten Nathan vor allem die Wiederkehr der antisemitischen Ritualmordlegenden zum Thema wurde. "Ist das Mittelalter vernichtet?" (107), lautete die gleichbleibende Frage, mit der Nathan anlässlich der Ritualmordprozesse von Tisza-Eszlár (1882) und Xanten (1891/92) gegen die fortdauernde Wirkung vormoderner Stereotype angeschrieben hat.
Bei der nur publizistischen Bekämpfung des Antisemitismus blieb es indes nicht. Es ist das große Verdienst von Jahrs Studie, dass sie von Nathan ausgehend zugleich die Bedeutung des Hilfsvereins der deutschen Juden als "globale[m] Netzwerk der humanitären Hilfe" (9) aufarbeitet. Bereits 1901 von Nathan und James Simon gegründet, stellte der Hilfsverein viele Jahre lang finanzielle Mittel in Millionenhöhe für die bedrängten Juden des zaristischen Russlands bereit, die spätestens mit dem Pogrom von Kischinew (1903) ins Zentrum jüdischer Politik rückten. Zugleich hebt der Autor hervor, wie es dem Hilfsverein in Zusammenarbeit mit den Reedereien Hapag und Lloyd gelang, in Deutschland seit den 1890er Jahren ein "geregeltes und zuverlässiges System der Durchschleusung" (211) russischer Juden auf ihrem Weg in die Vereinigten Staaten zu organisieren. Auch dass sich das humanitäre Engagement des deutschen Patrioten Nathan zu Beginn des Ersten Weltkriegs zudem mit den Kriegszielen des Kaiserreichs amalgamierte, bleibt in Jahrs historischer Kontextualisierung nicht ausgespart.
Allein auf die Juden des Zarenreichs war der Blick des Hilfsvereins aber nicht gerichtet. Vielmehr hatte er unter Nathans Regie "ein umfangreiches Netzwerk an Schulen und Kindergärten bis zu Lehrerseminaren" aufgebaut (187), das sich ähnlich dem Vorgehen der Alliance Israelité Universelle über Osteuropa und den Balkan bis ins Osmanische Reich erstreckte. Unter der Überschrift "Wohlfahrt für Palästina" wird zudem das herausragendste Projekt des Hilfsvereins vorgestellt: Der Aufbau des Technikums in Haifa. Historische Relevanz gewinnt die Darstellung vor allem, weil sie den Gegensätzen unterschiedlicher jüdischer Selbstverständnisse nachspürt, die entlang des Aufbaus dieser prestigeträchtigen Bildungseinrichtung im Haifa des frühen 20. Jahrhunderts kollidierten. Schließlich entfachte sich an der Frage der zukünftigen Unterrichtssprache - Deutsch oder Hebräisch - jener "Sprachenstreit", der gleichsam eine Trennlinie zwischen Befürwortern und Widersachern des zionistischen Projekts einer Nationalisierung und Territorialisierung der Juden bloßlegte.
Derartige Darlegungen machen Jahrs Monografie zu Leben und Werk Paul Nathans auch für die jüdischen Studien allgemein bedeutsam. Besticht an dessen philanthropischem Engagement doch nicht allein, dass gerade Nathan und der Hilfsverein "ein Werk in Gang gesetzt" hatten, hinter das selbst die Bemühungen des deutschen Zionismus zur Förderung des jüdischen Kulturlebens in Palästina zurücktraten (196). Mit dem Blick auf die Bedeutung der Wohltätigkeit der deutschen Juden öffnet sich zugleich eine Dimension jüdischen politischen Handelns, die in der Fokussierung auf die osteuropäischen Ursprünge der Diasporapolitik bisher unterbelichtet blieb. Auch deshalb ist die Lektüre von Christoph Jahrs Biografie ein Gewinn.
Anmerkungen:
[1] Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, 2., erw. Aufl., New York 1958, 23. Als Reaktion darauf: Yosef Hayim Yerushalmi: "Diener von Königen und nicht Diener von Dienern". Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden, München 1995; vgl. aber auch: Carole Fink: Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878-1938, New York / Cambridge 2004.
[2] Hannah Arendt: Der Zionismus aus heutiger Sicht, in: dies.: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt/M. 1976, 127-169, hier: 144 f.
Lutz Fiedler