Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang. 1864-1871, München: C.H.Beck 2020, 368 S., 20 s/w-Abb., 5 Kt., ISBN 978-3-406-75542-2, EUR 26,95
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Nicht "alte Forschungsfragen" neu zu beantworten, sei seine Absicht, so der Autor, sondern "uns diese ferne Zeit nahe zu rücken", damit sie uns "noch etwas zu sagen" habe (303). Aber was? Die Auskünfte, welche Jahr der Entstehungsgeschichte des Kaiserreichs entnimmt, sind vieldeutig, doch im Kern sieht er in ihr die von Deutschland ausgehende Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts angelegt. "Preußen hat Deutschland erzwungen. Das ist den Deutschen nicht gut bekommen, und erst recht nicht ihren Nachbarn". So schließt das Buch. Zu den unbeabsichtigten "Folgen der Bismarck'schen Politik" gehöre die "Zerstörungsorgie der Weltkriege" (74) und auch der Genozid an den Juden Europas, "verübt von jenem Deutschen Reich, das 1866 zu entstehen begann" (114). Das heutige Deutschland habe zwar "im Innern nicht mehr viel mit dem von 1871 gemein", gleichwohl bestehe eine "tendenziell beunruhigende Parallelität zwischen den 'Vereinigungsprozessen' von 1870/71 und 1989/90". Beide seien als "technokratischer Beitrittsakt" vollzogen worden (299). Deshalb die heutigen "'Vereinigungsschmerzen'" (300) und das "Unwohlsein", das von Beginn an die "Reichsgründung hinterlassen" habe (295).
Die konträren Geschichtsbilder, die zeitgenössisch und im Rückblick vom Kaiserreich entworfen wurden, untersucht Jahr in einigen Stichproben im Schlusskapitel. Dessen Titel "'Geist der Gewalt'" signalisiert die Hauptlinie, die schon in der Entstehungsgeschichte des Kaiserreichs angelegt gewesen sei und sich dann durch die deutsche Geschichte bis 1945 ziehe. Selbstverständlich weiß Jahr, dass alle Staatsgründungen des 19. Jahrhunderts aus Kriegen hervorgegangen sind. Seine Konzeption zielt jedoch nicht darauf, vergleichend nach deutschen Besonderheiten auf dem Weg zum Nationalstaat zu fragen. Er belässt es bei "Golo Manns Urteil, dass die Reichsgründung ein eigenartiger Vorgang gewesen sei, bei dem 'nichts eindeutig zu benennen' ist". Diese Sicht habe "manches für sich" (295). Reicht sie, um der Reichsgründungszeit die Geschichtslast des 20. Jahrhunderts zuzurechnen?
Die Hauptkapitel sind jeweils einem der drei Kriege gewidmet, die man im Rückblick oft als 'deutsche Einigungskriege' zusammengefasst hat. Dagegen wendet sich Jahr mit überzeugenden Gründen. Sie hatten unterschiedliche Ursachen und Ziele, wenngleich sie letztlich auf je eigene Weise die staatliche Einigung vorbereiteten. Dass es zu den Kriegen gekommen ist und was sie bewirkten, sei "zu keinem Zeitpunkt alternativlos" gewesen (11). Ursachen und Auslöser der Kriege, ihr diplomatisches Umfeld, ihre Strategien und operativer Verlauf werden jeweils dargelegt, und ebenso die Kriegserfahrungen im Militär und in der Zivilbevölkerung.
Der Autor erzählt. Deshalb lässt er möglichst die Beteiligten sprechen. Dafür hat er eine Vielzahl von veröffentlichten Quellen genutzt, insbesondere Briefe, Tagebücher und andere Ego-Dokumente. In ihnen kommen alle zu Wort, die an den Kriegen in irgendeiner Weise beteiligt waren, aber auf Anton von Werners "bis heute erinnerungsprägende[m] Bildnis der Kaiserproklamation" zu Versailles fehlen "die Frauen, die Zivilisten, die Politiker, die Dichter, die Friedfertigen, die Machtlosen und die Armen" (7). So bedeutsam Bismarcks Rolle in den drei Kriegen gewesen ist, an der Entstehung des Nationalstaates waren viele beteiligt, wenngleich in höchst unterschiedlichen Formen. Indem Jahr das weite Spektrum der Akteure ausleuchtet und auch den vielen Widerstrebenden das Wort gibt, baut er einer Sicht vor, welche die Kriege triumphalistisch auf die Reichsgründung zulaufen lässt. Preußen siegte, aber es hätte auch anders kommen können. Und viele bedauerten den Sieg.
Dass aus einer Bundesexekution 1864 ein "Kabinettskrieg Österreichs und Preußens gegen Dänemark" (39) hervorging, sei auf eine "unheilvolle Kombination aus nationalistischem Eifer, zynischer Machtpolitik und verzerrter Wahrnehmung der Machtverhältnisse" (75) zurückzuführen und bereitete den Krieg von 1866 vor. Auch er begann als Bundesexekution, und wie immer man ihn nenne - "'Deutschen Krieg', 'Deutsch-Österreichischen Krieg', 'Preußisch-Österreichischen Krieg', 'Bruderkrieg', 'Sezessionskrieg' oder 'Bürgerkrieg'" (104) - er blieb ein Kabinettskrieg. In ihm hing Preußens militärischer Erfolg "am seidenen Faden" (119), eine Einschätzung, mit der sich der Autor auf Moltke stützen kann. Zu den Gründen, warum der Krieg relativ rasch beendet wurde, gehörte die Cholera, die im Militär und in der Zivilbevölkerung viele Tote hinterließ. Wie ablehnend große Bevölkerungsgruppen das politische Ergebnis dieses Krieges beurteilten und warum, legt Jahr ausführlich und quellenintensiv dar. Noch "Anfang 1870 [sei] weiterhin kein Weg hin zu einem auch den Süden umfassenden Nationalstaat erkennbar" gewesen (170). Wenn er die antipreußische Haltung partikularistisch nennt, folgt er allerdings dem üblichen Sprachgebrauch, der die lange staatenbündisch-föderale Tradition in der deutschen Geschichte aus nationalstaatlicher Perspektive abwertet. In der Wertung partikularistisch steckt der Überlegenheitsanspruch des Nationalstaats.
Bismarcks Rolle zunächst 1866 beim Ende des österreichisch-preußischen Dualismus und dann 1870/71 in der kleindeutschen Einigung schmälert Jahr nicht, doch er betont, die Idee Nation sei für Bismarck "nicht mehr als ein Instrument in seinem Werkzeugkoffer [gewesen], mit dem er den Umbau der europäischen Ordnung betrieb." (178) Dass dieser Umbau gelang, sei "nicht zuletzt" einem "Übermaß" an Kriegsglück zu verdanken gewesen (216).
Forschungskontroversen diskutiert Jahr nicht. Das Buch ist für ein breiteres Publikum geschrieben, dem das Geschehen, von dem hier berichtet wird, fern gerückt ist. Selbst Geschichtsstudenten und Gymnasiasten mit Leistungskurs Geschichte, so eine Umfrage von 2004, wussten wenig darüber (296). Die Lehrerfahrungen des Rezensenten stimmen damit überein. Wer sich informieren will, erhält von Jahr ein kundiges Angebot, das ein weites Panorama entwirft und nationalen Heldenerzählungen ein Bild entgegenstellt, das die Offenheit des Geschehens hervorhebt. Die Kriege, die in den Nationalstaat führten, werden als ein leidvolles Geschehen präsentiert. In der Einleitung heißt es: "Mein Blick auf den Nationalstaat und vor allem auf den Nationalismus ist ein kritischer" (12). Das Buch zeugt davon. Es handelt in den ersten drei Kapiteln vom kriegerischen Weg in den deutschen Nationalstaat und im vierten, warum er besser nicht beschritten worden wäre. Oder nicht so, wie es geschehen ist.
Dieter Langewiesche