Lorenz Peiffer / Arthur Heinrich (Hgg.): Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Nordrhein-Westfalen, Göttingen: Wallstein 2019, 808 S., ISBN 978-3-8353-3397-0, EUR 49,00
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Im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen waren bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 die meisten jüdischen Sporttreibenden in "bürgerlichen paritätischen Turn- und Sportvereinen" (40) Mitglied. In der Regel spielte die Jüdischkeit keine große Rolle. Mit der fortschreitenden "Arisierung" auch des Sports gründeten ausgeschlossene Sportler und Sportlerinnen sowie Funktionäre zahlreiche neue Vereine. Diese jüdischen Vereinigungen schlossen sich neutralen, zionistisch oder assimilatorisch ausgerichteten Verbänden an. In einigen Fällen gab es Verbindungen zum Arbeitersport.
Schon 1925 war in Essen der Verband jüdisch neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschlands (Vintus) entstanden, da der Westdeutsche Spielverband jüdischen Sportvereinen die Teilnahme an seinem Spielbetrieb verweigerte. Diese Vereinigung spielte eine große Rolle.
Dies und andere sporthistorische Ereignisse sind Gegenstand eines von dem Sportwissenschaftler Lorenz Peiffer und dem Zeit- und Sporthistoriker Arthur Heinrich herausgegebenen voluminösen historischen Handbuchs für Nordrhein-Westfalen. Es ist das Ergebnis dreijähriger Recherchen und beruht auf ihrer Untersuchung des Engagements aktiver jüdischer Sportler und Sportlerinnen sowie von Vereinsfunktionären. Peiffer hat auf seine Erfahrungen mit der Pilotstudie zur Geschichte des jüdischen Sportlebens in Niedersachsen und Bremen zurückgreifen können (vgl. meine Rezension in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8).
Nordrhein-Westfalen war keine Hochburg des jüdischen Vereinssports. Weder der Vintus noch der mit dem Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten (RjF) verbundene Sportbund Schild oder die im Deutschen Makkabikreis zusammengeschlossenen zionistischen Sportvereine hatten bis 1933 eine große Bedeutung. "Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme gab es in Westfalen und im Rheinland neun jüdische Sportvereine in Aachen, Bochum, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Gelsenkirchen, Jülich und Köln, die sich im Vintus organisiert hatten, sowie die Sportgruppe Bonn des RjF und die drei Makkabivereine Bar Kochba Duisburg, Bar Kochba Köln und Bar Kochba Remscheid." (48) Die Namensgebung der letztgenannten Vereine erfolgte in Erinnerung an Simon Bar Kochba, den Heerführer des letzten großen Aufstandes gegen die römische Besetzung Palästinas (132-135).
Peiffer und Heinrich stellen insgesamt 136 Vereine vor. Die Auslöschung der Erinnerungen daran geschah in einem ersten Schritt mit dem ab 1933 erfolgten Ausschluss der jüdischen Sportler und Sportlerinnen aus den allgemeinen Vereinen und Verbänden und in einem zweiten Schritt mit der Auslöschung der Spuren der jüdischen Sportler und Sportlerinnen. Sie ist beschämender Weise für den Deutschen Fußballbund durch Carl Koppehel in der 1954 publizierten Geschichte des Verbandes fortgesetzt worden. Die Tilgung der Erinnerung erfolgte ebenso in Festschriften, in denen Juden (und Jüdinnen?) nicht mehr erwähnt werden. Auch "ältere Bilder wurden manipuliert", um Personen unkenntlich zu machen bzw. diese "vollständig aus den Bildern zu entfernen." (42) Beim Bildvergleich einer Festschrift von 1932 mit der Festschrift von 1938 konnte u.a. dokumentiert werden, dass ein jüdisches Mitglied herausretuschiert worden war. (750)
Die Novemberpogrome 1938 bedeuteten das Ende des jüdischen Sportlebens auch in Nordrhein-Westfalen. Das ausführliche Handbuch soll auch dazu dienen, "der lokal- und regionalhistorischen Forschung Anhaltspunkte für weitere und vergleichende Studien zu geben" (69). Aufgrund weitgehend fehlender historischer Aufarbeitung des regionalen Sports musste wesentlich auf zeitgenössische jüdische Tageszeitungen und Blätter der Synagogengemeinden zurückgegriffen werden. Hier ließen sich ebenso Informationen zu den Sportvereinen finden, wie in regional- und lokalhistorischen Publikationen sowie in der Sekundärliteratur.
Nach einer ausführlichen Einführung in die Geschichte der drei jüdischen Sportverbände vor und nach 1933 bis zum Niedergang 1938 wird darauf Ort für Ort und Verein für Verein - von Aachen bis Wuppertal - eingegangen. Im ersten Fall von Aachen werden für den - nichtjüdischen - Verein Alemannia Aachen die Namen von 15 jüdischen Sportlern und Sportlerinnen genannt, die meist zur Flucht gezwungen oder Opfer der Shoah geworden sind. Für den 1906 gegründeten Jüdischen Turnclub - der dem Vintus angehörte - werden auf zwei Seiten zum Beispiel die Namen von zahlreichen Vereinsmitgliedern genannt - soweit bekannt mit der ausgeübten Sportart und dem Lebensweg: Flucht nach Palästina oder Deportation in ein Vernichtungslager.
In der Stadt Wuppertal konnte, als Besonderheit, der Verein Hakoah Wuppertal eine eigene Turnhalle benutzen: "Ein ehemaliger 'großer Fabrikraum', den ein Glaubensgenosse zur Verfügung gestellt hatte" (718). Das hebräische Wort 'Hakoah' bedeutet 'Die Kraft'.
Wie in Aachen und Wuppertal hat es auch in anderen großen Städten vielfältige sportliche Aktivitäten gegeben, die anschaulich präsentiert werden: So wurden z.B. in Dortmund angefangen vom Jüdischen Turnverein Dortmund über den Jüdischen Sportclub Bar Kochba Dortmund und die Jüdische Sportgemeinschaft Dortmund bis zu Hakoah Dortmund unterschiedliche Sportarten angeboten: Turnen, Fußball, Leichtathletik, Handball, Wassersport, Tischtennis, Schach, Ringen, Kegeln und Boxen. Ein anderes Beispiel ist Duisburg, wo für den Jüdischen Turn- und Sportverein (Jtus) Duisburg auf vier Seiten (243 ff.) für die Zeit 1927-1933 die Mitglieder namentlich genannt werden. Bar Kochba Duisburg wollte explizit "nicht ein Verein für Juden, sondern ein jüdischer Sportverein" (248) sein. Für den Jüdischen Turn- und Sportverein Makkabi Düsseldorf braucht es schließlich sogar rund 15 Seiten (300 ff.) für die Aufzählung der Mitglieder. Als ein "historischer Sonderfall" wird von Florian Lueke auf die Entwicklung im ehemaligen Fürstentum und Land Lippe - heute: Kreis Lippe - eingegangen.
Abschließend werden ausgewählte Sportler, wie der Boxer, Boxobmann und Arzt Rolf Bischofswerder, Franz Orgler, Erich Schild bzw. Eric Schildkraut, Erich Klaber, Erich Gottschalk - "der (fast) vergessene Fußballmeister aus Bochum" (793 ff.), Paul Eichengrün sowie Julius und Robert Goldschmidt kurz portraitiert. An den biografischen Beiträgen waren neben den beiden Autoren Henry Wahlig und Marcel Schmeer beteiligt.
Das umfassend recherchierte historische Handbuch enthält mehrere Fotos von Aktiven sowie Dokumente. Der Band ist rundum zu loben und sollte dazu anspornen, neben den bisher untersuchten Ländern Niedersachsen und jetzt Nordrhein-Westfalen auch die Geschichte des jüdischen Sports in der Zeit des Nationalsozialismus in den anderen Ländern der Bundesrepublik zu erforschen.
Kurt Schilde