Thomas Raabe: Bedingt einsatzbereit? Internationale Rüstungskooperationen in der Bundesrepublik Deutschland (1979-1988) (= Krieg und Konflikt; Bd. 7), Frankfurt/M.: Campus 2019, 400 S., ISBN 978-3-593-51133-7, EUR 39,95
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Die Geschichtsschreibung zur Bundeswehr weist immer noch zahlreiche Desiderate auf. Dazu gehört die Rüstungsgüterbeschaffung, mitsamt den dahinter stehenden Rüstungskooperationen mit anderen NATO-Staaten. Bislang existieren nur zum Beschaffungsdesaster des Schützenpanzers HS-30 [1], zur deutsch-französischen Rüstungskooperation in den frühen Jahren [2] sowie zu den Kampfflugzeugen MRCA [3] und zum Lockheed F-104G Studien [4], ferner eine kaum wahrgenommene Arbeit zu den Fahrzeugfamilien des Kampfpanzers Leopard und des Schützenpanzers Marder [5]. Damit fehlen Studien zu einzelnen Beschaffungsprojekten vor dem Hintergrund sicherheitspolitischer Rahmenbedingungen, unterschiedlicher Vorstellungen der beteiligten Nationen sowie den Ansprüchen, die mit diesen Geräten verbunden waren.
In seiner von Carlo Masala und Sönke Neitzel betreuten Dissertation widmet sich Thomas Raabe unter einem provokanten Titel ausgewählten Rüstungskooperationen der Bundesrepublik. Zu seinen Beispielen zählen der Kampfpanzer 90, das Taktische Kampfflugzeug (TKF, heute Eurofighter), sowie der Panzerabwehrhubschrauber II (heute UH Tiger). Der Autor verschweigt nicht, dass er weitere Projekte betrachtet hat.
Einleitend (13-28) stellt der Autor anhand regierungsamtlicher Verlautbarungen Ziele der deutschen Rüstung dar: In Koalitionsverträgen und Weißbüchern der Bundesregierung ist zu lesen, dass nationale Alleingänge infolge weiter reduzierter Fähigkeiten und Kapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie heute unmöglich, multinationale Rüstungsprojekte aber gleichermaßen durch Kostensteigerungen, Verzögerungen und mangelhafte Fähigkeiten erschwert worden sind (14). In der Bundeswehr hat sich dabei ein "zu spät, zu teuer, nicht zu gebrauchen" eingebürgert. Die Liste schlechter Erfahrungen ist lang. Die Ursachen dafür sind allerdings selten eindeutig: Deutscher Perfektionismus und das bürokratische Beschaffungswesen der Bundeswehr sind nicht die einzigen Gründe. Eine vertragsgerechte, pünktliche Lieferung unter Einhaltung der Preise und der verabredeten Qualität ist zunehmend seltener zu beobachten. Der Autor stimmt indes nicht in die pauschale Kritik der Rüstungslobby ein, sondern konzentriert sich auf bi- und multilaterale Abstimmungen zu Rüstungsprojekten vor der eigentlichen Produktion. Diese Betrachtung ist Aktenschutzfristen geschuldet sowie dem Umstand, dass die untersuchten Systeme heute noch genutzt werden und deswegen Akten nur in Ausnahmefällen bereitgestellt werden.
In seiner Studie rückt der Autor das Zustandekommen und den Verlauf dreier Rüstungsprojekte in den Fokus und konzentriert sich auf die politischen Prozesse. Er will ursprüngliche Konzepte mit der Realisierung der Projekte abgleichen (35f.). Dazu zieht er die grundverschiedene Projekte binationaler Hubschrauber, multinationales Kampfflugzeug und letztlich gescheiterter binationaler Kampfpanzer heran.
Im ersten Sachkapitel "Rüstung und ihre Rahmenbedingungen" beschreibt Raabe, welche Kautelen der deutschen Rüstungsindustrie durch politisch gewollte Kooperationsprojekte auferlegt wurden. Bi-/multinationale Projekten waren dem Umstand geschuldet, dass hochkomplexe Waffensysteme in der Zeit der Blockkonfrontation nicht mehr in nationalen Alleingängen bewältigt werden konnten. Zunehmend wurden sie als Mittel zur Stärkung der (west)europäischen Integration betrachtet. Beachtenswert - und mitunter störend - wirkt sich die unterschiedliche Einbindung der nationalen Rüstungsindustrien "in ihren Umgebungen" aus. Während deutsche Betriebe marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen sind und sich nicht auf staatliche Unterstützungen zurückziehen können, sind französische Rüstungsunternehmen faktisch oder quasi Staatsunternehmen. (Siehe der Zusammenschluss der beiden Panzerhersteller Krauss Maffei-Wegmann und Nexter zum neuen Unternehmen KANT (KMW And Nexter Together).
Im Abschnitt "Politik und Rüstungsmarkt" (81-86) verdeutlicht der Autor, dass auf dem Rüstungsmarkt kein freier Handel stattfindet. Während Handelspartner der Bundesrepublik hier bis 1990 vorzugsweise NATO-Partner oder europäische Staaten waren, wandelte sich dieser Markt infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks grundlegend. Fehlende Absatzmöglichkeiten, auch in Folge internationaler Abrüstung, und vor allem deutsche Außenhandelsbestimmungen begrenzen Exportmöglichkeiten. Andere Staaten sehen dies grundlegend liberaler oder unbedachter: Wer die verkauften Waffen nutzt, scheint dort zweitrangig. Wegen weniger Anbieter und Abnehmer sind Rüstungsgüter von einer "normalen" Preisentwicklung (Nachfrage und Angebot) abgekoppelt. Dies ist eine der wesentlichen, wenngleich nicht neuen Beobachtungen (83).
Im zweiten Kapitel widmet sich Raabe der "Hardware" der drei ausgewählten Waffensysteme. Die Vorgeschichte zum Kampfpanzer 90 führt den Leopard 1 der Bundeswehr auf, der das Ergebnis einer bereits in den 1960er Jahren gescheiterten deutsch-französischen Rüstungskooperation war. Schon damals konnten sich beide Länder nicht auf eine gemeinsame Bewaffnung einigen. Obwohl deutsche Hersteller den ab 1979 in Serienproduktion gehenden Leopard 2 entwickelten, bemühten sich Bundeskanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing, einen gemeinsamen Kampfpanzer auf den Weg zu bringen. Raabe zeigt, wie Politiker ungeachtet des Leopard 2, gleich den nächsten Panzer auf den Markt bringen wollten. Die unterschiedlichen Vorstellungen zum Gerät und das französische Streben nach einem exportfähigen Panzer (143), verurteilten das Projekt von Anfang an zum Scheitern. Übrigens suchte die Bundesrepublik 1979/1980 damals eigentlich einen Panzerabwehrhubschrauber. Man wollte also gar nicht das Gleiche.
Das Taktische Kampfflugzeug (TKF), der heutige Eurofighter, fällt unter die Rubrik: zu spät, zu teuer, zu wenig. Es startete mit sechs interessierten Staaten, darunter Frankreich. Letztlich bauten vier Staaten das Flugzeug unter Ägide einer eigens gegründeten Airbus-Tochter, obwohl "Fertigkäufe" in den USA möglich gewesen wären. Anfangs sollten 800 Exemplare gebaut werden, Großbritannien sah einen Markt für 1.000 Exemplare. Vordringlich war für die beteiligten Nationen nach Auslaufen der Produktion des TORNADO-Jagdbombers der Erhalt von ca. 100.000 Arbeitsplätzen allein in Großbritannien und der Bundesrepublik (161). Die militärische Notwendigkeit des TKF wurde 1984/85 durch den Inspekteur der (westdeutschen) Luftwaffe hinreichend begründet (169/170). Allerdings gab es unterschiedliche Vorstellungen über die Fähigkeiten und Nutzungsmöglichkeiten, über Gewicht, Bewaffnung, Konfiguration und Exportmöglichkeiten etc. Umstritten blieb zudem, welche Nation in dem Projekt die Führungsrolle haben sollte - was letztlich zum französischen Ausstieg führte (192-215). Kurz: Bei diesem multinationalen Projekt ergaben sich Abstimmungsschwierigkeiten wie bei keinem anderen System!
Der Panzerabwehrhubschrauber II (PAH II) ist das dritte Fallbeispiel zu den Irrungen und Wirrungen der Rüstungsgüterentwicklung und -beschaffung ab 1982. Obwohl es italienische und amerikanische Muster (u.a. AH-64 Apache) als gute und schnell realisierbare Kooperationsprojekte gab (294), wollte Frankreich mit Deutschland gemeinsam einen mehrrollenfähigen Hubschrauber entwickeln und produzieren. Die Regierung Schmidt bewertete dies 1982 noch als nicht finanzierbar. Nach dem Regierungswechsel 1982 wandelte sich das: Der Helikopter sollte gebaut werden, obwohl die Bundesrepublik einen Panzerabwehrhubschrauber suchte, während Frankreich an einen Hubschrauber mit Kanonenbewaffnung für andere Aufgaben dachte (298). Der letztlich beschaffte Unterstützungshubschrauber Tiger weist heute in seinen deutschen und französischen Varianten erhebliche Unterschiede auf und dem deutschen PAH fehlen derzeit funktionstüchtige Panzerabwehrraketen und eine Maschinenkanone. Kurzum: Der deutsche Tiger erfüllt nur wenig von dem, was er heute können müsste. Und zudem einigten sich verschiedene NATO-Staaten dann darauf, einen vom Tiger abgeleiteten NH-90 zu bauen, dessen Leidensgeschichte seit Jahren Gegenstand der Berichterstattung ist.
Raabe beschreibt die Fallbeispiele entlang einschlägiger Akten des Bundesministeriums der Verteidigung sowie der anderen mit Rüstungsfragen befassten Bundesministerien. Es lässt zwischenstaatliche Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse plausibel nachvollziehen. Doch obwohl ständig unterschiedliche Anforderungen der beteiligten Nationen bei Waffensystemen auftauchen, gelingt es der deutschen Seite zu keiner Zeit, Forderungen eines Gegenübers in die eigenen Vorstellungen einzubinden, ohne Kostenexplosion, Verzögerungen und Fähigkeitseinbußen zu verhindern. Die Beispiele lassen multinationale Rüstungsgüterbeschaffung immer mehr als politisch fragwürdiges Zuschussgeschäft unter Inkaufnahme von Qualitätsabstrichen erscheinen.
Thomas Raabe entschlüsselt das Problem der Rüstungsgüterbeschaffung auf eindringliche Art.
Anmerkungen:
[1] Dieter H. Kollmer: Rüstungsgüterbeschaffung in der Aufbauphase der Bundeswehr (1953-1961). Der Schützenpanzer HS 30 als Fallbeispiel, Stuttgart 2002 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Band 93)
[2] Florian Seiller: Rüstungsintegration. Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1950 bis 1954, München 2015 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses; Band 9)
[3] Alfred Mechtersheimer: MRCA Tornado. Rüstung und Politik in der Bundesrepublik, Opladen 1982
[4] Claas Siano: Die Luftwaffe und der Starfighter. Rüstung im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Militär, Berlin 2016 (Schriften zur Geschichte der deutschen Luftwaffe; Bd. 4)
[5] Thomas Haslinger: Bundeswehr und Ausrüstung: Die Beschaffung der Fahrzeugfamilien des Kampfpanzers LEOPARD 1 und des Schützenpanzers MARDER in den 1960er Jahren im Spannungsfeld zwischen Politik, Bundeswehr und Rüstungsindustrie, Diss. Phil Universität München 2005. Online: https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19709/1/Haslinger_Thomas.pdf
Heiner Möllers