Siegfried Lautsch: Grundzüge des operativen Denkens in der NATO. Ein zeitgeschichtlicher Rückblick auf die 1980er-Jahre und Ausblick, 2. erweiterte Auflage, Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag 2018, 332 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-945861-58-5, EUR 24,80
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Nach seinem vielbeachteten Buch "Kriegsschauplatz Deutschland: Erfahrungen und Erkenntnisse eines NVA-Offiziers" aus dem Jahr 2013 hat Siegfried Lautsch sich in seiner 2017 erschienenen zweiten Arbeit, die nun bereits in zweiter, erweiterter Auflage vorliegt, dem operativen Denken in der NATO zugewandt. Als Absolvent der Frunse-Militärakademie und vormaliger Leiter der operativen Abteilung im Kommando des Militärbezirks V kann der ehemalige Oberst der Nationalen Volksarmee (NVA) und seit 2007 Oberstleutnant a. D. der Bundeswehr in operativen Fragen als ausgewiesener Fachmann gelten.
Als solcher geht er auch an sein Thema heran, und so handelt es sich weniger um eine zeitgeschichtliche Darstellung als in erster Linie um ein militärisches Fachbuch. Den Gegenstand des operativen Denkens definiert Lautsch mit "Theorie und Praxis der Vorbereitung und Durchführung von Operationen operativer Verbände der Streitkräfte" (24). Sein erklärtes Ziel ist es dabei, "Erfahrungen und Erkenntnisse für Ausbildung und Einsatz vor allem für militärische Führer verfügbar zu machen und so deren Kompetenz in den militärischen Kernfähigkeiten zu erweitern" (13).
Dazu präsentiert und erläutert Lautsch in 14 Kapiteln Begriffe, Grundsätze und Probleme des operativen Denkens. Als Quellenbasis dienen ihm primär Dienstvorschriften der U. S. Army, der Bundeswehr und der NVA. Im Mittelpunkt steht die Analyse des US-amerikanischen Field Manuals 100-5 "Operations" von 1986, der bundesdeutschen Heeresdienstvorschrift HDv 100/100 "Truppenführung" von 1987 sowie der DV 046/0/001 "Gefechtsvorschrift der Landstreitkräfte der NVA" von 1983. Auf dieser Basis werden die Phasen des Führungsprozesses, Kriegsarten, Ebenen der Kriegführung, Elemente der Operation, die Führung der Truppen sowie die verschiedenen Gefechtsarten dargestellt. Vor seiner resümierenden "Bewertung" und der Formulierung von "Erkenntnisse[n] und Lehren" geht Lautsch in Kapitel 12 außerdem noch auf grundlegende Entwicklungstendenzen des operativen Denkens seit dem Ende des Kalten Krieges ein. Der um zahlreiche Schaubilder und Kartenskizzen ergänzten Darstellung schließt sich ein Anhang mit neun Dokumenten an. Auffällig ist, dass der Band kein Quellen- und Literaturverzeichnis, kein Abkürzungsverzeichnis und kein Register enthält.
Kennzeichnend für den Band ist die handbuchartige Darstellung der operativen Vorstellungen und Normative. In oft sehr allgemein gehaltenen Formulierungen referiert der Autor Kerngedanken der Dienstvorschriften, wobei als Kuriosum am Rande zu erwähnen ist, dass sich seine Ausführungen zu den Normativen der NATO-Streitkräfte nicht etwa in erster Linie auf westliche Quellen, sondern in hohem Maße auf die zur Information über Strukturen und Modus Operandi des potentiellen Gegners erstellten "Anleitungen" der NVA-Aufklärung stützen.
Interessant für den Zeithistoriker sind vor allem die Ausführungen zu den Problemen der Verteidigungsplanung im Bereich Allied Forces Central Europe der NATO und insbesondere in deren Northern Army Group (NORTHAG). Obschon Lautsch im Allgemeinen die Ansicht vertritt, dass die "Denkmodelle" von U. S. Army, Bundeswehr und den anderen NATO-Armeen denen in den Streitkräften des Warschauer Vertrages "sehr ähnlich" gewesen seien, (74) konstatiert er andererseits deutliche Unterschiede in den operativen Konzepten der einzelnen NATO-Verbände. So verfolgte im Bereich der NORTHAG das britische Korps ein grundlegend anderes Defensivkonzept als die beiden benachbarten Korps der Bundeswehr bzw. der belgischen Armee. Im Ergebnis hätte dies das Funktionieren der Vorneverteidigung bereits im Ansatz in Frage gestellt (118).
Generell überwiegt aber die normativ-abstrakte Abhandlung der einzelnen Aspekte der operativen Kunst. Vermeidbare Redundanzen - der Inhalt der Fußnote 190 (137) wird beispielsweise auf S. 138 im Haupttext noch einmal fast wortgleich wiederholt; der "allgemeinkonkrete" Duktus und das eher mäßig entwickelte Ausdrucksvermögen des Autors machen das Buch zu einer ermüdenden Lektüre.
Immer wieder stolpert der Leser über denkwürdige Formulierungen und offenkundige Binsenweisheiten. Da erwähnt der Autor "[n]euartige Waffen, die auf physikalischen Prinzipien beruhen" (226) - welche Waffe tut das nicht? - oder konstatiert resümierend: "Das operative Denken jener Zeit war eine Einheit von taktischen und operativen Überlegungen, die durch operative und taktische Führer lage- und aufgabenbezogene Anwendung fanden" (255).
Mit Blick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts postuliert Lautsch: "Nach militärischem Verständnis bedeutet moderne Kriegführung vor allem, anders zu denken und zu handeln, als der potenzielle Gegner es erwartet. Ziel muss es sein, dessen Schwächen zu erkennen und schnell auszunutzen, um sich so einen Vorteil zu verschaffen" (228). Das hätte auch schon von Sunzi, dem chinesischen Altmeister der Kriegstheorie aus dem 6. Jahrhundert vor der Zeitenwende, stammen können.
In weiten Teilen liest sich das Buch von Siegfried Lautsch als ein Plädoyer zur Förderung und Weiterentwicklung des operativen Denkens in der NATO allgemein und insbesondere in der Bundeswehr. Allerdings scheint er dessen Rolle doch einigermaßen zu überschätzen, wenn er postuliert: "Das operative Denken im 21. Jahrhundert zwingt Politik und Militär zu einer Neubestimmung der strategischen Situation und damit auch zur veränderten Rolle und zu unterschiedlichen Zielen der Streitkräfte in einer veränderten Sicherheitslandschaft" (267). Sinnvoller und dem zu beachtenden Primat der Politik angemessener wäre es wohl eher umgekehrt, wenn das operative Denken an den Wandel der sicherheitspolitischen und damit verbunden der strategischen Situation angepasst werden würde.
So hilfreich der vorliegende Band für die fachliche Bildung der von Lautsch ins Auge gefassten Zielgruppe sein mag, so muss resümierend doch leider festgehalten werden, dass eine auf breiter Quellen- und Literaturbasis beruhende zeithistorische Studie zum operativen Denken in der NATO insgesamt wie auch in ihren nationalen Kontingenten, die dann möglichst auch vergleichend über Mitteleuropa und die 1980er Jahre hinaus blicken sollte, nach wie vor ein Desiderat bleibt.
Christian Th. Müller