Michael Epkenhans / Gerhard P. Groß / Markus Pöhlmann u.a. (Hgg.): Geheimdienst und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Aufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai 1914 bis 1918 (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 18), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, IX + 667 S., 6 KT., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-060501-3, EUR 64,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Mark Hewitson: Germany and the Causes of the First World War, Oxford: Berg Publishers 2004
Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München: Siedler 2011
Kamil Ruszała: Galicyjski Eksodus. Uchodźcy z Galicji podczas I wojny światowej w monarchii Habsburgów, Kraków: universitas 2020
Nicolas Wolz: Das lange Warten. Kriegserfahrungen deutscher und britischer Seeoffiziere 1914-1918, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008
Christa Hämmerle / Oswald Überegger / Birgitta Bader-Zaar (eds.): Gender and the First World War, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014
Michael Erbe: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004
Christian M. Ortner: Die k.u.k. Armee und ihr letzter Krieg, Wien: Carl Gerold's Sohn 2013
Michael Hochedlinger (Bearb.): "Erdäpfelvorräte waren damals wichtiger als Akten". Die Amtschronik des Generals Maximilian Ritter von Hoen, Direktor des Kriegsarchivs, Innsbruck: StudienVerlag 2015
Günther Kronenbitter / Markus Pöhlmann / Dierk Walter (Hgg.): Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Gerhard P. Groß: Mythos und Wirklichkeit. Die Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusinger, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Michael Epkenhans: Tirpitz. Architect of the German High Seas Fleet, Washington: Potomac Books 2008
Oberst Walter Nicolai stand als Leiter der Nachrichtenabteilung der Obersten Heeresleitung im Zentrum der deutschen military intelligence und hatte mit "Mata Hari" und August Baron Schluga von Rastenfeld zu tun, vor allem aber mit der Anpassung des militärischen Nachrichtendiensts an die Erfordernisse der Kriegsführung. In der Zwischenkriegszeit nutzte Nicolai die Attraktivität des Themas "Spionage" und publizierte seine Sicht auf die Ereignisse und die Lehren, die für künftige Konflikte daraus zu ziehen seien. Er kämpfte aber auch um Anerkennung seiner historischen Rolle und um die Möglichkeit, sein Wissen wieder in den Dienst des Staates zu stellen. Die Kriegsvorbereitungen der NS-Regierung ermutigten ihn, sich der neuen Führung als Experte anzudienen. Erfolg war ihm bei diesen Bemühungen nicht beschieden und er erhielt noch nicht einmal den Auftrag, die Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes im Ersten Weltkrieg zu schreiben, als der Zweite gerade begonnen worden war. Diese Aufgabe fiel stattdessen einem einstigen Untergebenen zu. Das Manuskript von Friedrich Gempp gelangte in die Bestände des Bundesarchivs-Militärarchivs in Freiburg und stand dort der Forschung zu Verfügung. Dass Nicolai ein eigenes historisches Projekt verfolgt hatte, war zwar bekannt, die Aufzeichnungen aber waren nach Nicolais Verhaftung durch die Sowjets unzugänglich. Erst das vorläufige Ende der Ost-West-Konfrontation eröffnete die Chance, den Verbleib der Aufzeichnung zu klären und diese für die Forschung erreichbar zu machen. Das damalige Militärgeschichtliche Forschungsamt nutzte diese Gelegenheit und ermöglichte so die Transkription und Erschließung des Materials. Es sollte einige Zeit beanspruchen, bis das Editionsprojekt abgeschlossen und die Aufzeichnungen der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnten.
Jetzt liegen sie vor, zumindest in Auswahl. Auf rund 530 Buchseiten werden Nicolais Aufzeichnungen aus der Kriegszeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es handelt sich um Ausschnitte aus Feldpostbriefen an seine Frau, Tagebucheinträge und dienstliche Dokumente. Das Material hatte Nicolai nachträglich ausgewählt, zusammengestellt und erläutert. Den Quellenwert der Aufzeichnungen schränkt diese Form der Überlieferung ein. Klar zutage tritt dabei aber, welches Bild von seiner Rolle im Weltkrieg Nicolai der Nachwelt vermitteln wollte. Er inszeniert sich als pflichtbewusster, von persönlicher Eitelkeit freier und tief patriotischer Offizier, der unermüdlich gegen Sittenverfall, Defaitismus und Vaterlandsverrat einschritt. Über das angestammte Arbeitsfeld Nicolais und der von ihm geführten Abteilung IIIb der Obersten Heeresleitung, den militärischen Nachrichtendienst, lässt sich den Aufzeichnungen vor allem Organisatorisches entnehmen. Schluga oder "Mata Hari" werden eher beiläufig erwähnt, Änderungen der Organisationsstruktur hingegen in aller Ausführlichkeit. Zum zentralen Thema entwickelt sich aber im Laufe des Krieges immer mehr der Kampf um die öffentliche Meinung durch Überwachung und Lenkung der Presse. Dieses Aufgabengebiet, für das Nicolai als Offizier keine professionellen Vorkenntnisse mitbrachte, dominierte, den Aufzeichnungen zufolge, immer stärker seinen Arbeitsalltag. 1917 konzipierte Nicolai auch die Ausgestaltung der Truppenpropaganda durch den "Vaterländischen Unterricht". Er sah die Kampfmoral in Heer und Gesellschaft nicht nur von Oppositionsgruppen und Feindpropaganda bedroht, sondern auch durch unfähige und moralisch unwürdige Führer in Politik und Militär gefährdet. Seine pointierten Urteile über das Spitzenpersonal des Kaiserreichs lockern denn auch den Text erfreulicherweise etwas auf. Besserwisserei und Bürokratismus prägen zwar ansonsten die Aufzeichnungen über weite Passagen, aber Nicolai eröffnet einen Blick auf die Hinterbühne von Reichsleitung und Militärführung im Ersten Weltkrieg. Insofern ist die Edition auch jenseits der Organisationsgeschichte von IIIb aufschlussreich. Ergänzt um eine sehr informative Einführung der Herausgeber in das Leben und Wirken Nicolais, vervollständigen die Aufzeichnungen unser Wissen um die Führungselite und die Pressepolitik Deutschlands im Ersten Weltkrieg.
Günther Kronenbitter