Niccolò Fattori: Migration and Community in the Early Modern Mediterranean. The Greeks of Ancona, 1510-1595, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, xiii + 163 S., ISBN 978-3-030-16903-9, USD 59,99
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Maya Zellweger: Die «Seel des Commercii» der «Fetzen Krämer» Zellweger von Trogen. Textilfernhandel aus Appenzell Ausserrhoden nach Lyon und Genua, 1670 bis 1820, Basel: Schwabe 2023
Mechthild Isenmann: Strategien, Mittel und Wege der inner- und zwischenfamiliären Konfliktlösung oberdeutscher Handelshäuser im 15. und 'langen' 16. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Heinrich Lang: Internationale Kapital- und Warenmärkte, transalpiner Handel und Herrscherfinanzen. Die Kooperation zwischen den Handelsgesellschaften der Welser und den Florentiner Kaufmannbankiers der Salviati-Gruppe, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021
Die Geschichte Anconas, im 16. Jahrhundert vor und nach der Eingliederung in den Kirchenstaat (1532) relativ offen für auswärtige Händler, hat bereits öfters das Interesse von Historikern verschiedenster disziplinärer Prägung erregt. Häufig thematisierten die einschlägigen Arbeiten den Seehandel mit seinen potentiellen Profiten und die diesen tragenden auswärtigen Händler sowie die päpstliche Konfessionspolitik mit ihren spezifischen lokalen Ausprägungen; und insbesondere die latenten Widersprüche zwischen beiden Phänomenen. Dabei wurde auch die griechische Gemeinde in Ancona in den Blick genommen, zu der daher eine relativ solide Sekundärliteratur bereitsteht. Die Herausforderung, neue Erkenntnisse für ein quellenmäßig nur schwer fassbares und bereits gut erforschtes Thema zu erzielen, ist Fattori, das sei hier bereits vorweggenommen, gelungen.
Eine zwanzigseitige Einleitung und ein vierseitiger Schluss rahmen einen Hauptteil von fast 130 Seiten Umfang. Die Fragestellung ist angesichts des recht begrenzten Umfangs des Buches relativ stringent auf das Thema selbst zugeschnitten und nimmt nur wenig Bezug zu den größeren Debatten der historischen Migrationsforschung. Im Wesentlichen grenzt sich Fattori von der Tendenz ab, zu sehr auf die Institutionen der Migranten (Nationen, Konsuln, Kirchengemeinden, etc.) zu achten, er möchte stattdessen die Migranten selbst stärker in den Blick nehmen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat Fattori nicht nur relativ viele Archive norditalienischer Städte und Kirchengemeinden mit Bezügen zu den Griechen in Ancona aufgesucht, vor allem hat er viele Quellen aus dem Notariatsarchiv Anconas ausgewertet. Dank der intensiven Nutzung dieser Quellengattung gelingt es Fattori, die griechische Gemeinde im Ancona des 16. Jahrhunderts in einer bislang nicht gekannten Plastizität darzustellen. Dabei werden 356 Personen durch diese Akten namentlich bekannt, wobei natürlich zu bedenken ist, dass dieser Aktentyp vor allem männliche Händler und bedeutendere Handwerker erfasst, kaum deren Familien oder Frauen, wie der Autor bedauernd feststellt.
Nachdem zu Beginn des Hauptteils zunächst die Geschichte Anconas und vor allem dessen Rolle im Mittelmeerhandel als einem in der Adria immer von Venedig überschatteten, aber doch bedeutenden Handelsknoten dargestellt werden, geht Fattori auf die Gründe der verschiedenen Migrationswellen ein. Im frühen 16. Jahrhundert kamen viele Griechen aus den Balkanprovinzen des osmanischen Reichs und trafen in Ancona auf ein überraschend hohes Entgegenkommen. Hier war der Wunsch nach Brechung des venezianischen Adriamonopols genauso ausgeprägt wie auf dem östlichen Adriaufer. Als zweite Gruppe identifiziert Fattori die relativ zahlreichen Griechen von den venezianischen Inseln oder sogar aus Venedig selbst. Diese waren häufiger Handwerker als Händler, sie wollten offenkundig ihre Fertigkeiten auf einem weniger gesättigten und wachsenden Markt feilbieten. Die dritte Gruppe an Griechen, die sich besonders stark als Kaufleute betätigten und untereinander relativ enge Bindungen hielten, stammte von Chios. Mit 70 registrierten Personen waren die Chioten auch die größte Gruppe an identifizierbaren Griechen in Ancona, gefolgt von "Landsleuten" aus Korfu (39), Kreta (29) und Velona (Vlore) (29).
Fattori beschreibt so detailnah wie möglich die Faktoren, die die Ansiedlung der Griechen in Ancona bedingten, wie und wo sie sich dort niederließen und welche Netzwerkbildungen ihnen gelangen. Der Autor nutzt dabei die Notariatsakten für eine geradezu mikroskopische Analyse. Zahlreiche Beispiele zeigen ein Kaleidoskop an Aktivitäten der griechischen Händler auf, die es verstanden, sich in die Gesellschaft der Gaststadt zu integrieren und spezifische Strategien für ihren relativen wirtschaftlichen Erfolg zu verfolgen. Die Ansiedlungsgründe variierten dabei stark. So kamen Zyprioten faktisch erst nach 1571 in großer Zahl an, was deutlich zeigt, dass diese fast nur Flüchtlinge nach der osmanischen Eroberung der Insel darstellten. Aus Chios hingegen war die Einwanderung vor der Übernahme der Insel durch die Osmanen 1566 stark, sie brach danach im Wesentlichen ab. Hier hatte die Migration offenkundig auf dem genuesischen Besitz der Insel und einem Vertrag von 1519 mit der Republik Ancona basiert. Die Chioten stechen dementsprechend als eine besonders eng miteinander verbundene Gruppe mit starken Beziehungen zu Genua heraus, sie wurden auch zeitweise als eigene Nation bezeichnet. Dies zeigt überdeutlich, wie heterogen die Gemeinde der durch den "rito greco" (12) in der historischen Praxis verbundenen Personen war. Insgesamt erkennt Fattori eine relativ bedeutende Präsenz von Griechen in Ancona, die in ihren jeweiligen Betätigungsfeldern eine Bereicherung für die gastgebende Stadt brachten. Zwischen 1565 und 1575 sieht der Autor den Höhepunkt der griechischen Ansiedlung in Ancona als Resultat eines halben Jahrhunderts an komplexen Migrationsverläufen.
Zum Schluss des Buches hin fokussiert der Autor sich auf das religiöse Leben innerhalb der griechisch-orthodoxen Gemeinde Sant' Anna, die zahlenmäßig weit bedeutender als diejenige der katholischen Griechen war. Der Autor unterstreicht die Bedeutung dieser Kirche für die griechische Gemeinschaft auf mehreren Ebenen. Er zeigt aber auch ihre Abgrenzungen von einer typischen "Nation" wie der genuesischen in Ancona mit vielen Chioten als Mitgliedern auf. In der Kirche waren eher die Handwerker bedeutend, in der Nation eher die Händler. Die Kirche hatte in Ancona auch faktisch keine Repräsentativfunktion für die Griechen, im Gegensatz beispielsweise zur Scuola di San Niccolò in Venedig. In Ancona traten die Griechen, wenn überhaupt, vor allem als Individuen in Kontakt mit den gastgebenden Autoritäten.
Das letzte Kapitel befasst sich mit den strukturellen Schwächen der griechisch-orthodoxen Gemeinde von Ancona, die letztlich deren Untergang bewirkten. Fattori sieht das Fehlen einer institutionalisierten Beziehung zu den lokalen Obrigkeiten, den Mangel an einer klar definierten Führungsstruktur sowie die schwachen Bindungen zwischen ihren Mitgliedern als gravierende Mankos, als die post-tridentinische römische Kurie sich entschloss, die Duldung der orthodoxen Gemeinde in Ancona zu beenden. Zwischen 1579 und 1595 lief die sogenannte "Reductio" ab, die die Kirche von Sant' Anna in die Strukturen der griechisch-katholischen Gemeinde zwang. Dies vor allem und auch die neue Dynamik der Handelsachse Split-Venedig führten zum Niedergang der griechisch-orthodoxen Gemeinde in Ancona, die um 1590 aufgrund eines zahlreichen Wegzugs faktisch marginalisiert worden war; sie sollte erst ab 1732 mit einem Freihafenpatent wieder einige Bedeutung erlangen.
Insgesamt gelingt dem Autor eine gründliche Analyse eines bedeutenden historischen Migrationsphänomens. Die intensive Verwendung von Notariatsakten ermöglicht einen tiefen Einblick in die Geschichte der Griechen in Ancona im 16. Jahrhundert. Ihr Höhepunkt und ihr Niedergang koinzidieren zeitlich nicht zufällig mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichte Anconas. Die Lektüre des sehr dicht geschriebenen Buches ist angesichts der spröden Natur der Notariatsakten bisweilen mühsam und man hätte sich manchmal einen deutlicheren Bezug zu Fallstudien der Migrationsgeschichte gewünscht. Dieser leichten Kritik ungeachtet: Fattori kann unser Wissen zur frühneuzeitlichen mediterranen Geschichte aus der Mikroperspektive heraus bedeutend erweitern.
Magnus Ressel