Maya Zellweger: Die «Seel des Commercii» der «Fetzen Krämer» Zellweger von Trogen. Textilfernhandel aus Appenzell Ausserrhoden nach Lyon und Genua, 1670 bis 1820, Basel: Schwabe 2023, 537 S., 76 Farb-, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-7965-4679-2, EUR 90,00
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In den letzten Jahren kamen zur Textilgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit wichtige Impulse durch eine Reihe von Arbeiten zur Nordostschweiz. Die hohe Bedeutung des Wirtschaftssektors in dieser Region in den Jahrhunderten vor 1850 ist bekannt, was den einschlägigen Forschungen eine weit über den Schweizer oder oberdeutschen Raum hinausgehende Relevanz sichert. Dabei wurde allerdings bislang noch nie eine so umfassende Unternehmensüberlieferung als Quellengrundlage gewählt und schon gar nicht in einem Maße ausgewertet, wie es hier der Fall ist. Dieser Quellenbestand reicht vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert, mit einer dichten Überlieferung von 1747 bis 1780 und von 1800 bis 1822. Allein die überlieferte Geschäftskorrespondenz der Kaufleute Zellweger in Trogen umfasst 39.321 Briefe an 3955 Geschäftspartner in 547 Orten. Diese Überlieferung ist nur ein Teil der ursprünglichen Korrespondenz, die nach Maya Zellwegers Schätzungen 210.000 Briefe umfasst haben dürfte. Neben diesen Dokumenten hat die Autorin weitere Schweizer Archive für ihre Forschungen genutzt.
Die Studie ist keine Wirtschafts- oder Unternehmensgeschichte im engeren Sinne, wenngleich die ökonomischen Tätigkeiten im Mittelpunkt stehen. Über die unternehmenshistorische Perspektive hinaus wird eine Geschichte der Familien mit ihren Erziehungs- und Ausbildungspraktiken geboten. Im Mittelpunkt steht hierbei die Analyse der Wertschöpfungsketten, die über mehr als ein Jahrhundert auf- und ausgebaut sowie laufend an sich verändernde Umstände angepasst wurden.
Im ersten Kapitel stellt die Autorin die Kaufleute Zellweger von Trogen als Prototypen des Bürgertums - im Dorf Trogen - vor. Dabei interessiert sie sich insbesondere für Heiratsverhalten und Netzwerkstrategien der Zellweger. Die politische Stärke der Familie im direktdemokratisch organisierten Appenzell Ausserrhoden ist bemerkenswert. Im Zeitraum von 1597 bis 1797 wählte die Landsgemeinde 193-mal einen Zellweger als Landesbeamten, 74 Jahre lang bekleidete ein Mitglied der Familie das höchste Amt des Landammanns. Die ältere Forschung interpretierte die Kaufleute Zellweger daher bisweilen als Repräsentanten einer Art von Schweizer Aristokratie. Das weist die Autorin mit überzeugenden Argumenten zurück, indem sie die Zugehörigkeit der Familie Zellweger zu einer alteidgenössischen direkten Demokratie betont. Die Zellweger kauften sich nicht, wie viele ihrer Zeit- und Standesgenossen, in den Adel ein, strebten nicht nach entsprechenden Prädikaten und blieben im Textilhandel aktiv. Äußerst instruktiv sind die Ausführungen zur Ausbildung der angehenden Kaufleute. Sie zeigen ein lebensnahes und bisweilen äußerst ernüchterndes Bild der Realitäten während einer kaufmännischen Lehre im In- und Ausland sowie dem anschließenden Dasein als Handelsdiener. Eine quantitative Analyse der verschiedenen Orte, mit denen die Handelsgesellschaften Zellweger in Kontakt standen, verdeutlicht ihre beeindruckende Reichweite. Die Beschaffungsmärkte in der Heimat bewirtschafteten die Zellweger aus ihren letztlich sieben repräsentativen Kaufhäusern rund um den Landsgemeindeplatz Trogen heraus persönlich. Zur Bewirtschaftung der Absatzmärkte siedelte man in den Handelsmetropolen Lyon und seit 1768 in Genua gezielt Verwandte an, die mit Töchtern der Zellweger verheiratet waren. Der Einkauf erfolgte immer auf vorliegende Bestellung, die eigene Lagerhaltung wurde vermieden. Für den Unterhalt dieses Geschäftsmodells auf weite Distanz war man dringend auf ungestörten Postverkehr angewiesen. Das Ausbleiben des wöchentlichen Handlungsbriefs aus Lyon und Genua - was sehr selten vorkam - stufte man als "Fatalität" (75) ein. Wir erfahren substanzielle Details über Art und Umfang im Leinwandhandel, der als kurioses Zentrum das kleine Dorf Trogen hat, das bis heute nie mehr als 2000 Einwohner umfasste.
Im zweiten Kapitel wird die Unternehmensgeschichte von 1670 bis 1780 aus der Vogelperspektive nachgezeichnet. Für jede Handelsgesellschaft Zellweger werden nebst Vertragswesen und Partnerschaften die Wechselfälle wie Generationenwechsel, Streitigkeiten und ihre Schlichtung aufgezeigt. Die jeweilige quantitative Auswertung der Geschäftsbriefe ergibt ein bemerkenswertes Bild: Die Korrespondenzen reichen von Portugal bis nach Russland und in das Osmanische Reich, wobei wohl mehr als 95 Prozent der geschäftlichen Transaktionen in einem Raum stattfanden, der von Lyon, Marseille, Livorno, Venedig, Wien, Breslau, Leipzig und Frankfurt gerahmt wurde. Die Masse der Geschäftsbriefe ging ins benachbarte Textilzentrum St. Gallen, das mit seiner Zentralität im Post- und Speditionswesen den Trogenern Textilhändlern einen wichtigen Bezugspunkt für ihren Fernhandel bot.
Im dritten Kapitel werden die Warenflüsse zwischen Ein- und Verkauf analysiert. Neben der schriftlichen Organisation über den Briefverkehr konnte eine intensive Reisetätigkeit der Kaufleute Zellweger nachgewiesen werden, die sich im Dreieck St. Gallen, Lyon und Genua abspielte. In der näheren Umgebung erreichte man dadurch die regelmäßige Qualitätskontrolle auf den Bleichen oder in den Textildruckereien, im weiter entfernten Toggenburg, Bayern und Württemberg die Erschließung von neuen Beschaffungsmärkten. Der Augsburger Wechselmarkt rückt in einer nicht völlig unerwarteten, aber doch bemerkenswerten Prominenz ins Bild. Die Bedeutung der oberdeutschen Baumwollhändler in Venedig, mit denen bis zur Eröffnung des Kontors in Genua intensiv gehandelt wurde - mit Kempten als unentbehrlicher Zwischenstation - fällt ins Auge.
Im vierten Kapitel blickt die Autorin auf die Textilveredelung, konkret das Bleichen, Färben, Drucken und Appretieren aus Sicht der Kaufleute, denen die Leinwand oder Baumwollware gehörte. Das Paradox, dass Textilkaufleute sich als Auftraggeber intensiv in den Produktionsprozess einbrachten, zeigt einen gewissen Grad an vertikaler Integration im Textilgewerbe, wenngleich die grundsätzliche Trennung von Kaufleuten und Produzenten gewahrt blieb. Bleicher, Färber und andere arbeiteten für Stücklöhne. Gerade bei ihnen gab es häufig Probleme in Form mangelhaft geleisteter Arbeit, Verzögerung oder gar Beschädigung der Leinwand. Die organisatorische Leistung der Kaufleute Zellweger war es, die Wünsche der Kundschaft in Lyon und Genua mit den Möglichkeiten der ihrerseits von den klimatischen Verhältnissen abhängigen Erzeuger in der Heimat in Einklang zu bringen. Das resultierende Bild bietet komplexe Einsichten in die überaus aktive Textillandschaft der Ostschweiz samt ihren namentlich einzeln nachgewiesenen Akteuren im 18. Jahrhundert.
Das fünfte und letzte Kapitel betrachtet die Unternehmensgeschichte in ihren letzten zwanzig Jahren von 1800 bis 1820. Die Zellweger waren wegen zunehmender Baumwollspinnerei bereits im späten 18. Jahrhundert immer stärker von der Leinwand auf die Baumwolle und Baumwollware gewechselt. Die Industrialisierung mit der Einführung der Fabrikarbeit stellte die zweite große Zäsur dar. 1804 gründete man in Trogen eine mechanische Baumwollspinnerei mit wasserbetriebenen Spinnmaschinen aus Frankreich. Diese an sich zukunftsweisende Verlagerung weg vom Handel in die Produktion währte mangels ausreichender Wasserkraft nur zehn Jahre, um nach einem Brand bereits wieder eingestellt zu werden. Der Kaufmann Johann Caspar Zellweger-Gessner (1768-1855) erwies sich nicht als leidenschaftlicher Fabrikant. Die Kontinentalsperre zwischen 1806 und 1813, die Konkurrenz von fünf gleichzeitig im Textilhandel aktiven Handelsgesellschaften Zellweger, unternehmerische Fehlentscheidungen sowie übertriebenes politisches Engagement führten binnen kürzester Zeit zu Konkurs und Liquidation in einem Familienzweig. Aus einem privatrechtlichen Prozess resultierte die Entfremdung von Trogen im andern Familienzweig.
Der knappe Schluss bündelt noch einmal die Ergebnisse: "Nach 150 Jahren als Zentrum des Textilhandels verödete das Dorf Trogen innerhalb kürzester Zeit. Gras wuchs über den Landsgemeindeplatz und zugleich über die Geschichte der Kaufleute Zellweger und ihre vielen Handelsgesellschaften." (481) Allerdings waren diverse Zellweger bis in das 20. Jahrhundert hinein weiter im Baumwollhandel, in der Textilbranche, im Bankenwesen sowie im Versicherungswesen aktiv.
Insgesamt bringt die Arbeit einen deutlichen Erkenntnisgewinn zur Geschichte der Textilwirtschaft in der Ostschweiz und mit den Einblicken in das Wechsel- und Bankenwesen weit darüber hinaus. Die Autorin nimmt immer wieder Bezug auf aktuelle Forschungsdebatten. Die Informationsfülle ist hoch und hebt unser Wissen zur Geschichte der frühneuzeitlichen Textilwirtschaft - deren Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung des Kontinents generell kaum hoch genug eingeschätzt werden kann - auf ein neues Niveau.
Magnus Ressel