Raphael Rauch: »Visuelle Integration«? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach »Holocaust« (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 10), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 458 S., 48 s/w-Abb., 7 Tbl., ISBN 978-3-525-31048-9, EUR 80,00
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Welche Wirkung die Ausstrahlung der TV-Serie Holocaust im Januar 1979 im deutschen Fernsehen hervorzurufen vermochte, unterstrichen die rückblickenden Reflexionen 40 Jahre nach dem Medienereignis im Jahr 2019. So würdigte neben vielen anderen Zeitungen und Rundfunkanstalten auch die Süddeutsche Zeitung in einem umfangreichen Artikel den Moment, als "eine Fernsehserie Schockwellen auslöste" (SZ, 07.01.2019, Benedikt Frank). Die Aufarbeitung der Folgewirkungen der Serie ist inzwischen auch mediengeschichtlich in vollem Gange. Ebenso werden zunehmend Analysen der Darstellungen und Wahrnehmungen jüdischen Lebens und des Nationalsozialismus vorgelegt, etwa bei Lea Wohl von Haselberg [1], die mit ihrer umfangreichen Studie zu jüdischen Figuren in deutschen Spielfilmen nach 1945 eine große wissenschaftliche Lücke füllte. Dennoch hatten Untersuchungen zum Judentum in visuellen Medien nach 1945 noch bis in die 2000er Jahre eher Seltenheitswert.
So knüpft Raphael Rauch mit seiner im Internationalen Graduiertenkolleg "Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts" an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstandenen Dissertation "'Visuelle Integration'? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach 'Holocaust'" an dieses Desiderat an.
Rauch vertritt die Auffassung, dass durch die Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie Holocaust im Januar 1979 die öffentlich-rechtlichen Sender Westdeutschlands "nicht nur unter Zugzwang gerieten, massentaugliche Eigenproduktionen zur NS-Vergangenheit vorzulegen" (18), sondern dass dadurch auch jüdische Stimmen stärker in den Fokus rückten und so "visuelle Integration" (14) ermöglicht wurde. Konzeptionell versucht er diese visuelle Integration mediengeschichtlich, spezifischer film- und rundfunkhistorisch, mithilfe eines diskursanalytischen Vorgehens zu rekonstruieren. Hierzu trägt er umfangreiches Quellenmaterial zusammen, das er durch Experteninterviews ergänzt.
Der Untersuchungszeitraum der 1980er Jahre sei, so Rauch, eine Scharnierphase, da inmitten einer Debatte um ein eher restauratives Geschichtsverständnis die Frage verhandelt wurde, wie sich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust in ein Konzept neuer Normalität als deutscher Identität einbetten lasse. Ziel der Studie ist es daher, die Diskurse und Aushandlungsprozesse im jüdisch-deutschen Verhältnis aufzuarbeiten, die in den und vor allem über die Fernsehserien als Antwort auf die amerikanische Serie Holocaust in den 1980er Jahren der Bundesrepublik geführt wurden. Dadurch wurde, so der Leitgedanke, visuelle Integration insofern möglich, als jüdisches Leben und jüdische Figuren in den Mittelpunkt der Serien gestellt wurden, die Wiedererkennungs- und historische Aufarbeitungseffekte hervorriefen.
Rauchs Hauptthese ist es, dass sich der Wandel von einer "deutsch-jüdischen Psychose" zu einer von Matthias Weiß so bezeichneten "negativen deutsch-jüdischen Symbiose" in den ausgewählten Fernsehserien verdichtete. Diese Serien katalysierten also eine öffentliche Erinnerungspraxis, die die konkreten, von den Vorfahren begangenen Verbrechen und die Leiden der Opfer in den Mittelpunkt des eigenen Gedenkens stellten. Diese These entfaltet Rauch über die Analyse von sechs Fernsehserien, denen jeweils chronologisch vorgehend ein Kapitel gewidmet ist.
Auf die Einleitung, die die historiographischen Bezugsfelder und das Forschungsdesign umreißt, folgen sechs Hauptkapitel. Zunächst analysiert Rauch die letztlich nicht verfilmte Romanfassung von Gustav Freytags "Soll und Haben" (1977). Diese kam, so Rauch, deshalb nicht zustande, weil befürchtet wurde, dass die Mehrdeutigkeit in der Anlage jüdischer Personen Vereinnahmungen oder Missverständnisse nach sich ziehen könnte. "Holocaust" (1979) stellt dann im folgenden Kapitel den Bezugspunkt für die anderen Serien dar. Hier kontextualisiert Rauch die Ausstrahlung vor allem senderhistorisch und politisch. Er konstatiert "Sagbarkeitsgrenzen" (158), die sich auch bei der Serie "Ein Stück Himmel" (1982) wiederholten. In dieser Produktion wurde, basierend auf der Autobiografie Janina Davids, am Beispiel eines jüdischen Mädchens aus Polen das (Über-)Leben im Warschauer Ghetto gezeigt und dabei, im Sinne der "Sagbarkeitsgrenzen", deutlich zurückhaltender inszeniert als in der Serie "Holocaust". Auch die vierte Reihe "Heimat" (1984) von Edgar Reitz kann in diesem Sinne als Anti-"Holocaust"-Produktion verstanden werden, die deutsche Geschichte in allen Facetten und Mehrdeutigkeiten zu zeigen suchte. Allerdings wurde sie schon zeitgenössisch als revisionistisch kritisiert, weil sie den Judenmord kaum thematisierte. Rauchs Leistung ist es zu zeigen, dass auch "Heimat" nicht ohne Juden auskam, vielmehr in späteren Drehbuchfassungen sogar noch jüdische Kodierungen aufgenommen wurden. Die ARD-Vorabendserie "Levin und Gutman" (1985) zeigte erstmals jüdisches Leben der Gegenwart. Sie hatte zum Ziel, ein möglichst differenziertes Bild jüdischen Lebens zu vermitteln. Daher eignet sich, so Rauch, diese Produktion besonders gut, um in Form einer Mentalitätsgeschichte Aufschlüsse über die visuelle Integration und die deutsch-jüdischen Befindlichkeiten zu ermöglichen. So seien auch die Figuren komplexer angelegt und Probleme im deutsch-jüdischen Verhältnis nicht verschwiegen worden. Rauch konstatiert hier einen "Paradigmenwechsel" (406): zuvor sei nicht "in dieser Intensität von zeitgenössischem jüdischen Leben" (349) erzählt worden. Schließlich macht Rauch im letzten inhaltlichen Kapitel am Beispiel einer Folge in der Serie "Kir Royal" deutlich, wie deutlich die "Missstände der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Sachen Vergangenheitsbewältigung" (402) noch immer waren, wenn Dietl in ästhetischer Hinsicht zwar die "Schonzeit" für Juden beendet, damit aber die Gegenwärtigkeit der NS-Vergangenheit in München, der "Hauptstadt der Bewegung", kritisiert.
Rauch bilanziert abschließend, dass visuelle Integration stattgefunden habe, jüdisches Leben in Vielfalt nach dem Unterbinden in den 1970er Jahren nun dargestellt werden konnte, die Darstellungsformen komplexer und mehrdeutiger geworden seien - trotz bestehender Beharrungskräfte in den 1980er Jahren und trotz weiter bestehender Wünsche nach intensiverer Integration jüdischen Lebens.
Zu bemängeln ist, dass Rauch sein Ziel, den (diskursiven) Wandel herauszuarbeiten, über die Methode der oral history besser hätte erreichen können. So hätten statt intensiver Quellenarbeit mit Rundfunkprotokollen beispielsweise die Interviews mit Zeitzeugen im Sinne einer Mentalitätsgeschichte stärker - nicht nur als Lückenfüller für fehlende Archivbestände - herausgestellt werden können, um Einblicke in die Wirkungsweisen der Produktionen auf handelnde Personen zu erhalten; oder um einfach zu fragen, wie "integriert" sie sich jeweils verstanden.
Dem Autor gelingen dennoch innerhalb der einzelnen, eher nebeneinanderstehenden Untersuchungen der Einzelserien interessante Einblicke in die Aushandlungsprozesse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die das Buch durchaus lesenswert machen. Positiv zu bemerken ist vor allem die klare, systematische Struktur der Arbeit, die mithilfe von Zwischenresümees die Gedankengänge und Ergebnisse bündelt. Außerdem ist der auch im Schlusskapitel eigens hervorgehobene Zugang über die oral history hervorzuheben, die für zeitgeschichtliches Arbeiten eine eigene, ergiebige, wenn auch aufwändige Methode des Forschens bietet.
Anmerkung:
[1] Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west-)deutschen Film und Fernsehen nach 1945, Berlin 2016.
Johannes Stollhof