Christina von Hodenberg: Television's Moment. Sitcom Audiences and the Sixties Cultural Revolution, New York / Oxford: Berghahn Books 2015, X + 331 S., ISBN 978-1-78238-699-5, USD 110,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ronald Funke: Bilder des Glaubens. Das Fernsehen und der Wandel des Religiösen in der Bonner Republik, Göttingen: Wallstein 2020
Raphael Rauch: »Visuelle Integration«? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach »Holocaust«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Mark Rüdiger: »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit«? Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD, 1959-1989, Bielefeld: transcript 2014
Claudia Böttcher: »Fortschrittlich« versus »reaktionär«. Deutungsmuster des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in historischen Dokumentationen des DDR-Fernsehens, Marburg: Büchner Verlag 2019
Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen: Wallstein 2006
Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München: C.H.Beck 2018
Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
"Pass doch auf, du Arschloch". Mit dieser elaborierten Textzeile gab Alfred Tetzlaff, Protagonist der Serie "Ein Herz und eine Seele" (Westdeutscher Rundfunk, 1973-76, ab Folge 12 von der ARD ausgestrahlt), am Silvesterabend 1973 seinen kontroversen Einstand im bundesweiten Fernsehen. In den Jahren zuvor hatten sich die englische Originalsendung "Till Death Us Do Part" (BBC, 1966-75) sowie der amerikanische Ableger "All in the Family" (CBS, 1971-79) bereits zu großen Zuschauererfolgen in Großbritannien respektive den USA entwickelt - und ein solcher sollte auch das "Ekel Alfred" in der Bundesrepublik werden.
Christina von Hodenberg untersucht in ihrer ebenso innovativen wie unterhaltsamen Monografie die Geschichte dieser drei Sitcoms. Sie spürt darüber der Frage nach, inwieweit der soziale Wandel der 1960er und 1970er Jahre massenmedial geprägt war. Laut Niklas Luhmann tragen Unterhaltungssendungen insbesondere mittels der Durchmischung von Realität und Fiktion, die dem Zuschauer "Ja, so ist es"-Erlebnisse ermöglicht, zur persönlichen Sinnstiftung und zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten bei. [1] Während erste Darstellungen zum Zusammenspiel von Massenmedien und gesellschaftlichem Protest gerade für die USA vorliegen [2], existieren bislang keine empirischen Studien zum Fernsehen als dem großen Leitmedium in jenen Jahren und seinem Einfluss auf die kulturelle Revolution und den viel beschworenen Wertewandel.
Hierzu eignen sich die von Christina von Hodenberg analysierten Serien aus verschiedenen Gründen. Zum einen handelte es sich um in ihrer Entstehung gut dokumentierte und zeitgenössisch intensiv diskutierte Blockbuster. Von Hodenberg kann daher auf eine breite Quellenbasis zurückgreifen, von der aus sie unter anderem Produktionsbedingungen, Zuschauerreaktionen und politische Konflikte detailliert rekonstruieren kann. Zudem erlaubt das Format, in dem die gleiche Grundstory in drei Ländern adaptiert wurde, transnationale Bezüge. Zum anderen adressierten die Sendungen sozio-politische Probleme und gesellschaftliche Konfliktfelder, was sie zu einer Art "running commentary on both the sixties cultural revolution and the counterattack" (7) werden ließ.
Tatsächlich waren Setting und Erzählstrukturen der verschiedenen Adaptionen ähnlich: Im Mittelpunkt stand eine Arbeiterfamilie mit einem autoritären, vulgären, konservativen und rassistisch-chauvinistischen Familienoberhaupt, das als Antiheld fungierte (die Pendants des Bochumer "Ekel Alfred" waren Alf Garnett aus dem Londoner East End und der New Yorker Archie Bunker). Den innerfamiliären Gegenpol bildeten jeweils die Tochter und deren Partner, die neue politische, soziale und kulturelle Werte repräsentierten und die überkommenen Einstellungen des Patriarchen ins Lächerliche zogen. Die angesprochenen Themen kreisten bei leichten nationalen Variationen stets um die Themenfelder Rassismus, Sexismus und Geschlechterrollen, religiöse und familiäre Normen sowie um kulturelle und (tages-)politische Fragen.
Die vergleichende Analyse der Produktionsbedingungen, insbesondere der Rolle der beteiligten Akteure (darunter Produzenten, Drehbuchautoren und Schauspieler), sowie der Wirkungen der Serien auf die Zuschauer führt zu zahlreichen wichtigen Befunden. Zunächst bestimmten die verantwortlichen Personen und der Grad der Professionalisierung der Produktion, und eben nicht Rundfunkstrukturen und das Ausmaß der Kommerzialisierung, die Inhalte der Serien, zumal sich sogar die Genrekonventionen der Situationskomik als dehnbar erwiesen. Über gemäßigte Skandalisierungen avancierten die Sitcoms so zu einem "showcase for cultural innovations" (285), im Rahmen dessen die Grenzen des "Zeigbaren" ausgelotet und neu vermessen wurden. [3]
Was die gesamtgesellschaftlichen Effekte der Serien angeht, diagnostiziert von Hodenberg einige direkte Medienwirkungen, die allerdings nur kurzzeitig und für spezifische Themen feststellbar seien; so stieg etwa die Zahl der Blutspender in England sprunghaft an, nachdem Alf Garnett Blut gespendet hatte. Ungleich bedeutsamer mit Blick auf die kulturelle Revolution jener Jahre war die Agenda-Setting-Funktion der Serien: Sie bestimmten, über welche Themen in einer Zeit großer sozialer Spannungen nachgedacht sowie gesprochen wurde und sorgten so für "Television's Moment".
Bei allen zeitlichen Verschiebungen und nationalen Unterschieden im Detail - so stieß etwa der offene Rassismus Alf Garnetts in Großbritannien auf weit weniger Widerstand bei den Zuschauern als analoge Verhaltensweisen der Hauptfiguren in den USA und der Bundesrepublik, da er vor dem Hintergrund der nach wie vor positiv gedeuteten eigenen kolonialen Vergangenheit stärker anschlussfähig war - spielten die Serien in allen drei Ländern aus mehreren Gründen eine wichtige Rolle bei der Aushandlung des sozialen Wandels. Erstens konnten sie in der "era of limited choice" (75-100), in der das Fernsehen einen Großteil der Menschen erreichte (die Abdeckung in den drei Ländern lag bei über 93 %), diese aber nur wenige Sender und Programme zur Auswahl hatten, eine enorme gesellschaftliche Breitenwirkung entfalten. Verstärkt wurde dieser Umstand zweitens noch dadurch, dass andere Medien wie Tageszeitungen intensiv über die Sendungen berichteten und deren Inhalte aufgriffen. Um mitreden zu können, mussten sich daher selbst Zeitgenossen mit den Serien beschäftigen, die sich eigentlich nicht dafür interessierten.
Drittens hielten sich die Serienmacher hinsichtlich der Inhalte und Darstellungsformen bewusst zurück. Sie vermieden extreme Positionen und erhoben solche Normen zur Zielscheibe kritischen Spotts, die bereits stark aufgeweicht waren. Statt auf direkte und allzu pädagogisch anmutende Botschaften setzten sie auf eine unaufdringliche, humoristische Behandlung der adressierten Themen. So wurden in den Serien beispielsweise patriarchalische Partnerschaften diskreditiert und ein offener Umgang mit Sexualität propagiert; Promiskuität wurde jedoch abgelehnt und die Ehe zwischen Mann und Frau als Leitbild beibehalten. Während das Serienformat mit seinen ambivalenten Charakteren durchaus versuchte, liberale wie konservative Zuschauer gleichermaßen anzusprechen, entfaltete es auf diese Weise seine größte Wirkung bei der "transitional majority" (293), also bei den vielen, deren Lebensstile und Wertvorstellungen bereits im Wandel begriffen waren: "TV sought out fights half-won, and joined the fray." (211)
Insgesamt bestand die Funktion des Fernsehens somit darin, alternative Lebensstile aufzuwerten sowie neue Normen zu entradikalisieren und massentauglich zu machen. Die kulturelle Revolution wurde kommunikativ von den Rändern in die gesellschaftliche Mitte getragen. Blieb die Aneignung von Medieninhalten unzweifelhaft stets ein hochgradig individueller Vorgang, katalysierte das Fernsehen auf diese Art und Weise den sozialen Wandel. Zu überprüfen wäre freilich, ob sich die Befunde für die drei analysierten Serien verallgemeinern lassen. Fungierte das Fernsehen für die "transitional majority" stets und ausschließlich als beschleunigender Katalysator oder konnten andere Serien unter differenten Produktionsbedingungen sogar - ob gewollt oder ungewollt - retardierend wirken? [4]
Christina von Hodenberg hat ein originelles und wichtiges Buch vorgelegt, an dem künftig sowohl für Studien zur Geschichte der kulturellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre als auch für die zeithistorische Medienforschung kein Weg vorbeiführt. Im Zuge der Untersuchung gelingt es ihr, mit zahlreichen Vorurteilen aufzuräumen: Weder bestimmten etwa Kommerzialisierung und Werbepartner über die Serieninhalte noch waren die Medienrezipienten derart einfältig und passiv wie oft angenommen wird, sondern durchaus in der Lage, Ironie zu erkennen und zu verarbeiten - den bis heute in der Kommunikationsforschung oft beschworenen "Archie-Bunker"-Effekt, wonach sich viele Zuschauer mit der Hauptfigur und deren unerwünschten Verhaltensweisen identifizieren, da sie die satirischen Überzeichnungen nicht verstehen, gab es in der Form nicht. Dies alles macht diese Monografie noch lesenswerter.
Anmerkungen:
[1] Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 32004, v.a. 145-149.
[2] Vgl. etwa Gene Roberts / Hank Klibanoff: The Race Beat. The Press, the Civil Rights Struggle, and the Awakening of a Nation, New York 2007.
[3] Zum Konzept audiovisueller "Zeigbarkeiten" in modernen Massenmedien vgl. jüngst Kai Nowak: Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2015, v.a. 20-22.
[4] Zu denken wäre hier nur an die faktische Zensur der Serie "Star Trek" durch die NBC in den späten 1960er Jahren, die paradoxerweise dazu führte, dass in der eigentlich als besonders progressiv geltenden Science-Fiction-Sendung unter anderem rassistische Stereotype reproduziert wurden; vgl. Daniel Bernardi: Star Trek in the 1960s. Liberal-Humanism and the Production of Race, in: Science Fiction Studies 24 (1997), Nr. 2, 209-225.
Florian Greiner