Carolin Kosuch: Die Abschaffung des Todes. Säkularistische Ewigkeiten vom 18. bis ins 21. Jahrhundert (= Campus Historische Studien; Bd. 84), Frankfurt/M.: Campus 2024, 605 S., 49 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51846-6, EUR 56,00
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In der Neueren und Neuesten Geschichte nimmt die Forschung zu Tod und Sterben neuerdings Fahrt auf. Während thanatologische Perspektiven in der Alten Geschichte und Mediävistik sowie in anderen Disziplinen bereits seit längerem eine gewisse Konjunktur haben, blieben erste Pionierstudien aus den 1970er und 1980er Jahren, die jüngere Epochen einschlossen, lange Ausnahmen. Mittlerweile jedoch sind Fragen des Umgangs mit Sterbenden und Toten oder der Trauerkultur als Sonden entdeckt worden, über die größere gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit in den Blick genommen werden können. [1]
Hier reiht sich die Göttinger Habilitationsschrift von Carolin Kosuch ein, die für einen langen Zeitraum - vom ausgehenden 18. bis ins 21. Jahrhundert hinein - mit einem sehr breiten geografischen Fokus auf die westliche Moderne untersucht, wie sich die säkulare Bewegung um eine "Abschaffung des Todes" mühte. Kosuch versteht Säkularisierung als eine "Potenzierung der Handlungsoptionen" infolge von Pluralisierung, Individualisierung und Liberalisierung, die auch neue Sinnstiftungsangebote, ja eine "weltanschauliche Marktsituation" hervorgebracht habe (16f.). Im Fall des Todes habe sich dabei zunehmend eine gesellschaftliche Zielvorstellung ausgeprägt, ein "innerweltliches Bewahren" bzw. "Überdauern" (14, 34) des Menschen durch technische und biomedizinische Interventionen sicherzustellen.
Die Studie gliedert sich in vier Hauptkapitel, die dem langen Untersuchungszeitraum chronologisch folgen, aber systematische Schwerpunkte setzen: Im ersten steht das Aufkommen säkularistischer Todesvorstellungen im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts im Fokus, als christliche Bestattungsriten zu einer Option unter anderen degradiert wurden. Dies umfasste vor allem die immer intensiver diskutierte Idee einer Verbrennung der Leichname, die im Zentrum des zweiten Hauptkapitels steht: Es analysiert die Entwicklung im Risorgimento, wo die Sepulkralkultur als Katalysator einer nicht-christlichen und durch das aufkommende Hygieneparadigma noch verschärften Identitätspolitik diente. Die Feuerbestattung avancierte vorrangig in bürgerlich-republikanischen, antiklerikalen, intellektuellen Kreisen im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Vehikel der Religionskritik. Krematorien galten als Ausdruck einer westlichen Moderne, in der technischer Fortschritt religiös grundierte Rückständigkeit überwinden sollte. Die steigende Verbreitung der Einäscherung belegte zugleich die praktische Relevanz der ideengeschichtlichen Debatten. Dies unterstreicht das dritte Hauptkapitel, in dem die Feuerbestattung als Ausdruck eines von Großbritannien über die Schweiz und Deutschland bis in die USA reichenden transnationalen "säkularistischen Codes" (107) mit protestantischen Wurzeln erscheint, in dem sich ein grundsätzlicher Kulturkampf und freidenkerisch-materialistische Überzeugungen mit pragmatischen sanitätspolitischen Erwägungen vermischen konnten. All dies kulminierte schließlich in den transhumanistischen Technikvisionen, denen Kosuch im vierten Hauptkapitel nachgeht: Sie versuchten, den Tod grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen und die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers zu überwinden.
In mancherlei Hinsicht schließt Kosuchs Arbeit an die grundlegenden Studien von Philippe Ariès an, die letztlich eine longue durée der Verdrängung des Todes in Form einer normativierenden Verlustgeschichte beschreiben [2] - eine Assoziation, die auch der freilich anders gemeinte Haupttitel von Kosuch hervorruft. Ohnehin argumentiert sie deutlich differenzierter und kontextualisiert viel breiter, reichert die Ausführungen zudem immer wieder um geschlechter-, emotions- und körperhistorische Perspektiven an. Die Materialbreite und das dadurch aufgerufene analytische Spektrum der Arbeit ist zweifellos beeindruckend.
Zugleich sind gerade in der transnationalen Langzeitperspektive ein paar, den Mehrwert der Studie kaum schmälernde Vorbehalte anzubringen. So verbergen sich zwischen dem langen 19. und dem 21. Jahrhundert auffällige Zeitsprünge: Die Zeit der Weltkriege etwa wird gar nicht thematisiert, obwohl der gewaltsame, plötzliche Massentod - und der gesellschaftliche Umgang damit - fraglos starke Rückwirkungen auf Vorstellungen einer säkularen Sepulkralkultur hatte. Interpretatorisch fast gänzlich unberücksichtigt bleiben gegenläufige Tendenzen säkularistischer Ewigkeiten, die es vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zuhauf gab, ja die insgesamt sogar deutlich dominant waren - und sind. Immerhin scheiterten in der DDR Versuche einer staatlich verordneten Säkularisierung der Trauer- und Sepulkralkultur an der Resilienz religiöser Vorstellungen und Praktiken. Selbiges galt für das sozialistische Ungarn, wo etwa die Zahl kirchlicher Bestattungen diejenige säkularer noch kurz vor der politischen Wende 1987 im Verhältnis 5:1 übertraf. [3] In der Bundesrepublik wiederum hatten religiöse Akteure Sinnstiftungslücken in der vermeintlich säkularen Gesellschaft erkannt, die etwa in Form des durch Meinungsumfragen illustrierten Fortdauerns des Glaubens an ein Leben nach dem Tod zum Ausdruck kamen, und dieses Feld folgerichtig aktiv besetzt. [4]
Deshalb bleibt fraglich, wie breitenwirksam die beschriebenen "säkularistischen Ewigkeiten" tatsächlich waren, zumal diese, wie Kosuch selbst bewusst ist, oft "Überlagerungen mit dem Religiösen, Referenzen darauf und seine Aneignung" (520) beinhalteten. Nur ein Beispiel: So interessant die mit der Konservierungstechnologie der Kryonik einhergehenden philosophischen und anthropologischen Gedankenspiele auch sein mögen, so wenig prägt diese die gegenwärtige Sepulkralkultur. Dass die Kryonik vorrangig bei einer Gruppe von "weiße[n], gut ausgebildete[n], finanziell abgesicherte[n], libertär und atheistisch eingestellte[n]" (490) Männern Anklang findet, die auf eine technologische Überwindung des Todes hofft, ist zweifelsfrei richtig - aber wie groß ist diese Gruppe? Selbst bei den größten amerikanischen und europäischen Anbietern haben sich bis heute nur einige hundert Menschen für ein Einfrieren ihres Körpers in -196 Grad Celsius kaltem, flüssigem Stickstoff entschieden, was nicht nur an den hohen Kosten liegen dürfte [5]. Die fiktionale, mediale und sogar wissenschaftliche Rezeption der Kryonik steht mithin in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Relevanz, zumal in keinem zum klassischen, religiös konnotierten Begräbnis. So dürften Tod und Sterben ungeachtet aller von Kosuch minutiös verfolgten und sprachlich durchweg auf hohem Niveau geschilderten gegenläufigen Entwicklungen bis heute eher eine Art natürliche Grenze der Säkularisierung geblieben sein.
Anmerkungen:
[1] Exemplarisch: Monica Black: Death in Berlin. From Weimar to Divided Germany, Cambridge 2010; Moritz Buchner: Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850-1915), Berlin 2018; Anna Maria Götz: Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln 2013; Ute Planert / Dietmar Süß / Meik Woyke (Hgg.): Sterben, Töten, Gedenken. Zur Sozialgeschichte des Todes, Bonn 2018.
[2] Philippe Ariès: Essais sur l'histoire de la mort en Occident: du Moyen Âge à nos jours, Paris 1975; ders.: L'Homme devant la mort, Paris 1977.
[3] Heléna Tóth: Writing Rituals: The Sources of Socialist Rites of Passage in Hungary, 1958-1970, in: Paul Betts / Stephen A. Smith (eds.): Science, Religion and Communism in Cold War Europe, Basingstoke 2016, 179-203, hier 198. Vgl. für die DDR Felix Robin Schulz: Death in East Germany, 1945-1990, Oxford 2013.
[4] Florian Greiner: Säkulares Sterben? Die Kirchen und das Lebensende in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, in: VfZ 47 (2019), Nr. 2, 181-207.
[5] https://www.fr.de/wissen/einfrieren-auftauen-weiterleben-dank-kryonik-zr-93055759.html [08.02.2025].
Florian Greiner