Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989, München: DVA 2019, 976 S., 2 Kt., 103 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04835-6, EUR 42,00
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Die Geschichte der Umwälzungen von 1989 in Ostmittel- und Osteuropa und der damit verbundenen Revolution der Staatenwelt ist schon oft erzählt worden. Doch bisher endeten diese Erzählungen meist mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Befreiung der ehemaligen Ostblockstaaten von der sowjetischen Vorherrschaft im Jahr 1990. Kristina Spohr geht in ihrer neuen Darstellung in zweierlei Hinsicht darüber hinaus: Zum einen setzt sie die Erzählung bis Ende 1992/Anfang 1993 fort und zum anderen bezieht sie die Vorgänge in Asien, insbesondere in China, mit ein. Grundlegend für Spohr ist die Frage nach der Qualität der von Präsident George H. W. Bush 1990 proklamierten neuen Weltordnung. Zwar hat sie eine Vielzahl von Archiven benutzt, um möglichst viele Aspekte der Entwicklung einzufangen; gleichwohl ist es vor allem die Perspektive der US-Administration unter Bush, die alles dominiert. Es ist daher kein Zufall, dass das Werk mit der Begegnung Michail Gorbatschows und dem gerade gewählten Bush im Dezember 1988 in New York einsetzt und mit dem Ende von dessen Amtszeit schließt.
Dabei schaut die Autorin "den wichtigsten Staatslenkern über die Schulter und verfolg[t], wie sie die neuen Kräfte, die in ihrer Welt wirksam wurden, zu verstehen und zu kontrollieren suchten" (13). Das bedingt, dass ihre wichtigsten dramatis personae neben Bush (und seinem Außenminister James Baker) Gorbatschow (und Boris Jelzin), Deng Xiaoping und Helmut Kohl sind, während François Mitterrand und Margaret Thatcher in der zweiten Reihe stehen. Der deutschen Historiographie mag diese Konzentration auf "große Männer" altmodisch erscheinen; sie ist aber dem Untersuchungsgegenstand durchaus angemessen.
Spohr beginnt nach einer kurzen Betrachtung des Gorbatschow-Aufenthaltes in New York 1988 mit der chinesischen Entwicklung, die im Juni 1989 zum Massaker am Tiananmen-Platz führte. In diesem Zusammenhang ist für Spohr der Hinweis auf Dengs langjährige Bekanntschaft mit Bush wichtig, der auf die Niederschlagung der Studentenunruhen äußerst zurückhaltend reagierte. Parallel dazu ging der Präsident mit drei Reden im April und Mai 1989 in die Offensive, in denen er ein freies und ungeteiltes Europa als seine Vision skizzierte: Zu Recht sieht die Autorin in diesem Vorstoß die These einer rein reaktiven Außenpolitik Washingtons im Jahre 1989 widerlegt. Die bekannte Geschichte wird sodann fortgeführt mit dem Sturz des Kommunismus in Polen und Ungarn im selben Jahr, der Fluchtbewegung der Ostdeutschen nach Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze, der friedlichen Revolution in der DDR und der anschließenden, im Wesentlichen im Dreieck Washington-Bonn-Moskau ausgehandelten Wiedervereinigung.
Bereits damals stellte sich die Frage, wie in dem durch Revolutionen erschütterten Kontinent Stabilität und Ordnung hergestellt werden konnte. Spohr betont, dass sowohl Bush als auch Kohl konservative Rezepte bevorzugten, sodass beide letztlich darin übereinstimmten, vor allem auf die in der Konfrontation mit dem Osten bewährte NATO zurückzugreifen. Überdies kam auch der EG in diesem Prozess einiges Gewicht zu, die bereits im Juli 1989 von den G 7 mit der Koordinierung der Wirtschafts- und Lebensmittelhilfe für Osteuropa beauftragt worden war, und deren Weiterentwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion nun dazu diente, den Wiedervereinigungsskeptiker Mitterrand zu besänftigen und insgesamt die neue europäische Vormacht Deutschland in übergeordnete Strukturen einzubinden. Als weiterer Ordnungsrahmen wurde in dieser Zeit und von den unterschiedlichsten Personen immer wieder die KSZE genannt, die insbesondere die Staaten des sich in Auflösung befindlichen Warschauer Pakts integrieren und daher institutionalisiert werden sollte. Als großen Fürsprecher der KSZE macht Spohr zu Recht Außenminister Hans-Dietrich Genscher aus. Sie geht allerdings zu weit, wenn sie ihm unterstellt, eine Auflösung von NATO und Warschauer Pakt "in einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter der Ägide der KSZE" befürwortet zu haben (288). Überhaupt sollte der Gegensatz zwischen Kohl und Genscher im Zuge des Einigungsprozesses nicht übertrieben, sondern vielmehr deren - zugegebenermaßen nicht immer störungsfreies - Zusammenwirken dabei betont werden. [1] Gleichwohl kommt der Autorin das Verdienst zu, den unterschiedlichen Ansätzen und deren Umsetzung beim "Bau eines freien und ganzen Europas" (339) im Jahre 1990 nachgegangen zu sein, insbesondere der EG, der NATO und der KSZE. Wenngleich letztere mit der Charta von Paris vom November 1990 ihre Institutionalisierung vorbereitete, sei diese "nur ein Blatt Papier" gewesen, das "keine lebensfähige Institution für Europas Sicherheit begründete" (418) - sicher ein hartes, aber nicht unberechtigtes Urteil.
Für die USA als Weltmacht durfte Ordnung nicht nur den "alten Kontinent" umfassen, sondern musste tendenziell global sein. Herausgefordert wurde die amerikanische Weltmacht durch die Annexion Kuweits durch den Irak im August 1990, was die US-Administration eine weltweite Koalition gegen Saddam Hussein schmieden ließ. Von besonderer Bedeutung war dabei für Bush die Sowjetunion, zu deren Klientelstaaten der Irak gehört hatte. Gorbatschow versuchte zwar noch bis zur letzten Minute zu vermitteln, verweigerte aber dem Irak seine Unterstützung und kooperierte mit Washington im Rahmen des UN-Sicherheitsrats. Aufgrund dieser Haltung Moskaus proklamierte Bush im September 1990 eine neue Weltordnung, die auf der Zusammenarbeit der USA und der Sowjetunion basierte und so einen auf der Herrschaft des Rechts beruhenden, dauerhaften Frieden garantieren sollte. Damit kam er Gorbatschow zweifellos entgegen. Letztlich war aber nicht zu übersehen, dass die Sowjetunion nicht nur ihre Stellung als Weltmacht verloren hatte, sondern dass sie auch in ihrem Bestand elementar gefährdet war. Dass Bush sehr lange an Gorbatschow festhielt, nach dem Putsch vom August 1991 jedoch recht rasch Boris Jelzin als neuen Partner betrachtete, wird genauso deutlich wie der Umstand, dass das neue Russland allenfalls ein Juniorpartner der Vereinigten Staaten wurde.
Für die neue Weltordnung bedeutete dies, dass Bush vom "Konzept einer kooperativen Bipolarität" (die Spohr als "irgendwie fiktiv" bezeichnet) Abschied nehmen musste (785). An ihre Stelle trat die "Unipolarität", was bedeutete, dass die Vereinigten Staaten zwar als einzige Weltmacht, aber auch als einziger globaler Ordnungsfaktor übrig blieben. Und die Welt wurde, trotz der Unterzeichnung des START-Vertrags über nukleare Langstreckenwaffen und des KSE-Vertrags über die konventionelle Rüstung, ein immer unsicherer Ort. Denn die Gefahr, dass der Kalte Krieg zu einem heißen werden könne, war durch den atomaren Faktor gleichzeitig aufrechterhalten und begrenzt worden; mit dessen Beendigung tauten indes die eingefrorenen lokalen und ethnischen Konflikte wieder auf - nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch in Jugoslawien. Das wird beim Rückblick auf die Geschichte dieses Vielvölkerstaates, der, so Spohr, vor allem von Tito zusammengehalten worden sei, freilich vernachlässigt: Denn dieser starb bereits 1980, aber es sollte noch weitere zehn Jahre bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges dauern. Hier rächt sich die enge zeitliche Begrenzung auf die Jahre bis 1992; denn hätte Spohr die Darstellung weitergeführt, hätte sie die überragende Bedeutung der USA in den 1990er Jahren auch für Europa noch einmal unterstreichen können, da erst deren Eingreifen das Abkommen von Dayton von 1995 ermöglichte. Nur angetippt wird ebenfalls die unter Bush begonnene Politik der US-Interventionen im globalen Süden, in diesem Fall in dem zerfallenen Somalia. Die Darstellung schließt mit einem knappen Blick auf Asien, wobei die US-amerikanische Wiederannäherung an das wirtschaftlich aufstrebende, aber weiter autoritär regierte China am bedeutendsten war.
Konzeptionell wäre es vielleicht reizvoller gewesen, die über weite Strecken bekannte Geschichte der Jahre 1989 und 1990 in Europa nicht in der hier präsentierten Ausführlichkeit noch einmal zu erzählen, sondern sich eher auf den unipolaren, "langen 'Augenblick'" (787) der internationalen Politik zu konzentrieren, der bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dauerte, und das Geschehen in Asien tatsächlich etwas genauer zu untersuchen. Außerdem ist Spohrs Darstellung alles andere als fehlerfrei. So nimmt sie Kohls Aussage gegenüber Gorbatschow vom Juni 1989 über die Zwangsläufigkeit, mit der es zur deutschen Einheit kommen werde, für bare Münze, ohne zu beachten, dass diese nur in den Erinnerungen des ehemaligen Kanzlers überliefert ist. Auch dass mit der Maueröffnung "sich der Schwerpunkt des Narrativs schnell weg von den Politikern [...] auf gewöhnliche Leute [verlagerte], die revolutionäre Veränderungen herbeiführten" (203), ist unzutreffend: Gerade im Herbst 1989 - vor der Maueröffnung - waren es "gewöhnliche Leute" aus der DDR, die das Heft des Handelns an sich rissen und die Politiker zum Reagieren zwangen. Ungenauigkeiten weist auch das Kapitel zu den Umwälzungen in der Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1991 auf: So wurde am 26. März 1989 nicht "ein neuer Kongress der Volksdeputierten" gewählt (514) - es war vielmehr der erste überhaupt!
Das schmälert Spohrs Verdienst jedoch nicht, erstmals eine Darstellung der Weltpolitik der "Scharnierjahre" (20) zwischen dem ausgehenden, durch den Kalten Krieg geordneten und der unter "chronischer und regional begrenzter 'Unordnung'" leidenden "neuen Welt" (701) vorgelegt zu haben. Die Suche nach einer neuen Weltordnung, die 1990 begann, dauert bis heute an.
Anmerkung:
[1] So zutreffend Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung, München 2013, 186.
Hermann Wentker