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Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019, 383 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-633-54299-4, EUR 32,00
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Rezension von:
Gregor-Sönke Schneider
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Gregor-Sönke Schneider: Rezension von: Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 4 [15.04.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/04/33600.html


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Philipp Lenhard: Friedrich Pollock

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Endlich ist die erste Biographie über Friedrich Pollock erschienen, Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung und Protagonist der Kritischen Theorie. In Anbetracht der Fülle an lebens- und wirkungsgeschichtlichen Darstellungen des engsten Kreises - Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Erich Fromm und Walter Benjamin - war dies überfällig, aber keinesfalls selbstverständlich.

Verfasst hat die Biographie Philipp Lenhard, der als Kenner der Arbeiten Pollocks ausgewiesen ist. So gibt er seit 2018 die Gesammelten Schriften heraus, von denen in Kürze der zweite Band erscheinen wird. [1] Bereits der erste Band enthielt eine ansprechende werkbiographische Einleitung. [2] In der nun vorliegenden Studie schildert Lenhard auf über 300 Seiten Pollocks Leben und Wirken von der Geburt in Freiburg bis zu seinem Tod im schweizerischen Tessin, wo er sich in unmittelbarer Nähe zu seinem Freund Horkheimer niedergelassen hatte. Dazwischen liegen freiwillige wie unfreiwillige Lebensstationen in Stuttgart, München, Frankfurt, Genf, New York City, den Pacific Palisades in Kalifornien und wiederum Frankfurt. Die meisten Orte sind unmittelbar mit der Geschichte des Instituts und der Entwicklung der Kritischen Theorie verknüpft. Lenhards Absicht mit der vorliegenden Schrift ist es, "keine Gesellschaftsbiographie" zu verfassen, sondern "ganz bewusst eine Studie über eine fesselnde Persönlichkeit" (9) vorzulegen.

Als Einleitung schildert er fulminant einen der Höhepunkte in Pollocks Arbeit im Frühjahr 1943: ein Abendessen im Weißen Haus mit dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, das dessen Frau Eleanor eingefädelt hatte. Dabei konnte Pollock seine Überlegungen zur Gestaltung des nachnationalsozialistischen Deutschlands präsentieren.

Im Weiteren verfährt der Autor chronologisch: Beginnend mit der detaillierten Darstellung der familiären, bürgerlichen Hintergründe, Pollocks Verhältnis als Jude zum Judentum bis hin zur lebensgeschichtlichen einschneidenden Bekanntschaft mit Horkheimer, die in einer Freundschaft bis zum Tod mündete. In München erlebte Pollock nach dem Ersten Weltkrieg hautnah das lebensgefährliche Chaos der Revolution, die letztlich scheitern sollte, und ein Grundmotiv der Kritischen Theorie wurde. Er begann dort noch das Studium, das er aber in Frankfurt fortsetzte. Dort gründete Pollock zusammen mit Felix Weil und Max Horkheimer das Institut für Sozialforschung.

Ausführlich beschreibt Lenhard Pollocks vielseitige Rolle im Institut, sei es in der theoretischen Auseinandersetzung mit Marx, der letztlich unvollendeten Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), die inhaltlichen Beiträge zu den Institutsveröffentlichungen wie der legendären Zeitschrift für Sozialforschung oder den Studien über Autorität und Familie, seiner Lehrtätigkeit wie auch die bereits viel zitierten administrativen Tätigkeiten, die er als kommissarischer (Co-)Leiter übernahm. In der Emigration in den USA nahm Pollock als Finanzverwalter des Instituts eine bedeutende Rolle ein, weil er gemeinsam mit dem Institut eine Vielzahl aus Deutschland exilierter Wissenschaftler und Freunde materiell unterstützte. Deshalb zeichnet Lenhard Pollocks Rolle als Flüchtlingshelfer bei der Vergabe von Stipendien, Honoraren für Zeitschriftenbeiträge und ungebundener finanzieller Zuwendungen nach, die für viele Geflüchtete eine überlebenswichtige Hilfe darstellten. Dabei musste Pollock "als Retter in der Not oder als Überbringer schlechter Nachrichten" (163) angesichts der schwindenden Mittel des Instituts schwierige, teils grausame Entscheidungen darüber treffen, wer finanziell unterstützt wurde - und wer nicht. In diesem Zusammenhang beleuchtet Lenhard das fürchterliche Schicksal von Pollocks Verwandten, die es nicht aus Deutschland heraus schafften und ermordet wurden. Dies zeige eindringlich, so der Autor, "wie sehr die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung auch persönlich von der Katastrophe in Europa betroffen waren" (177). Die weiteren Kapitel behandeln die theoretische Arbeit Pollocks zum Staatskapitalismus, die im Institut ausführlich diskutiert wurde, sowie die Arbeit in US-amerikanischen Regierungsinstitutionen zum war effort gegen das nationalsozialistische Deutschland. Diese Tätigkeit fand mit der Einladung ins Weiße Haus ihren Höhepunkt.

Hervorzuheben sind auch die von Lenhard geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Pollock und Horkheimer über die Rückkehr des Instituts nach Deutschland, die Pollock zunächst gar nicht anstrebte und falls doch, dann nur temporär. Zurück aus dem Exil erhob Pollock Entschädigungsforderungen wegen persönlicher Verluste und wegen des Schadens des Instituts. Die juristische Auseinandersetzung offenbarte die "zynische Boshaftigkeit der nun scheinbar geläuterten Profiteure der NS-Herrschaft" (272). Anfang der 1950er Jahre erstellten Pollock und das Institut die empirische Studie "Gruppenexperiment", die Lenhard nicht nur als einen "Meilenstein der Sozialwissenschaft in Deutschland" bezeichnet, sondern die den "Schein demokratischer Gesinnung in der früheren Bundesrepublik" (280) entlarvte. Anfang der 1960er folgte eine Pionierarbeit zur Automation ökonomischer Prozesse, die Pollocks Hauptwerk und größten Erfolg darstellte. Danach zog er nach Montagnola, aber kehrte noch regelmäßig mit Horkheimer nach Frankfurt zurück.

Etwas irritierend ist Lenhards undifferenzierte Darstellung des Verhältnisses zwischen Adorno und Horkheimer und den Frankfurter Studenten der Außerparlamentarischen Opposition in den 1960er Jahren. Er attestiert ihr u.a. "geschichtsblinde[n] Marx-Lektüre" (309), obwohl Quellen - auch zeitgenössische - vorliegen, die über die vielschichtige Beziehung zur Studentenbewegung Auskunft geben. [3]

Mit der Verortung der theoretischen Arbeiten in den kollektiven Zusammenhang der Kritischen Theorie räumt Lenhard mit der weit verbreiteten Vorstellung endgültig auf, Pollock sei hauptsächlich der administrativ wirkende Protagonist des Instituts gewesen. Insgesamt ist Lenhards Pollock-Biographie ein lesenswertes und gut lesbares Buch, dessen Lektüre Freude bereitet. Gespickt mit vielen Details ist das Buch eine klare Bereicherung in der Geschichtsschreibung zur Kritischen Theorie. Wer sich zukünftig mit Friedrich Pollock und dessen Beitrag zur Kritischen Theorie auseinandersetzen möchte, kommt an Lenhards Buch nicht vorbei.


Anmerkungen:

[1] Friedrich Pollock: Schriften zu Planwirtschaft und Krise. Gesammelte Schriften Bd. 2, herausgegeben von Johannes Gleixner und Philipp Lenhard, Freiburg 2020.

[2] Philipp Lenhard: Friedrich Pollock und der westliche Marxismus. Einleitung zum ersten Band der Gesammelten Schriften, in: Friedrich Pollock: Marxistische Schriften. Gesammelte Schriften Bd. 1, herausgegeben von Philipp Lenhard, Freiburg 2018, 7-22.

[3] Noch 1969 - kurz vor seinem Tod - sagte Adorno im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: "Mein Verhältnis zu meinen Studenten ist nicht mehr beeinträchtigt, als es allgemein im herrschenden Universitätskonflikt der Fall zu sein pflegt. Es wird fruchtbar und sachlich, ohne private Trübung, diskutiert."; Vgl. Theodor W. Adorno: Kritische Theorie und Protestbewegung [1969], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20.1: Vermischte Schriften, Frankfurt/M. 1997, 398-401, hier 400.

Gregor-Sönke Schneider