Peter-Erwin Jansen (Hg.): Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Aufsätze. Mit Briefen von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal sowie einer Einleitung von Martin Jay, Springe: zu Klampen! Verlag 2021, 284 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-86674-790-6, EUR 28,00
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Seit über 20 Jahren ist Peter-Erwin Jansen verantwortlich für die wissenschaftlichen Nachlässe von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal. [1] Ferner ediert er die Schriften daraus. [2] Zudem hat er zahlreiche Arbeiten zu den beiden kritischen Theoretikern publiziert. Darüber hinaus ist er einer der fünf Direktoren der International Herbert Marcuse Society und mittlerweile publizistisch und rechtlich der Nachlassvertreter.
Bereits früh wurden Marcuse und Löwenthal Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. War Löwenthal schon seit 1926 dem Kreis um Max Horkheimer verbunden, so stieß Marcuse Anfang 1933 hinzu. Im Jahr zuvor lernten sich beide in Löwenthals Wohnung kennen - und freundeten sich an. [3] Zusammen mit dem Institut gingen sie ins Exil, und zusammen spielten sie in den 1930er und 1940er Jahren eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Kritischen Theorie. Während das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankfurt zurückkehrte, blieben Marcuse und Löwenthal in den USA, wo sie sich akademisch etablierten. [4]
Der vorliegende Band mit über 280 Seiten enthält ausgewählte Texte, die Jansen in den letzten zehn Jahren verfasst hat, sowie Arbeiten, Briefe und Fotos von Marcuse und Löwenthal. Ein Beitrag von Martin Jay dient als Einleitung.
Im Vorwort legt Jansen das Motiv des Bandes dar: Dokumente aus den Archiven Marcuses und Löwenthals sollen "einem größeren - sowohl akademischen als auch nicht akademischen - Publikum" (10) zugänglich gemacht werden. Die Beiträge des Herausgebers sollen das "Nischendasein in diversen Zeitschriften verlassen" (10) und "sowohl biografische als auch ideengeschichtliche Zugänge" (9) zu Marcuse und Löwenthal erschließen.
In der Einleitung geht Jay auf die Rolle der Freundschaften im Institut ein. Beispielhaft verweist Jay auf die lebenslange, intensive Freundschaft zwischen Horkheimer und Pollock, die Nähe zwischen Horkheimer und Adorno und eben jene jahrzehntelange Freundschaft zwischen Marcuse und Löwenthal. So wohnte ihrer Freundschaft "in einer Welt, in der die Integrität anderer traditioneller Werte wie Solidarität und Selbstlosigkeit immer zerstört wurden" (21), ein Stück vorweggenommener Utopie inne.
Drei Aufsätze widmen sich Marcuses Werk. Einer davon wirft einen Blick auf Marcuses Arbeiten über das nationalsozialistische Deutschland, die während seiner Tätigkeit in US-Behörden im Zweiten Weltkrieg entstanden. Diese als Feindanalysen veröffentlichten Arbeiten setzt Jansen in seinem Beitrag in Bezug zu Schriften von Löwenthal und Adorno. Der zweite Text handelt von der Kritik an der Irrationalität eines rationalen Gesellschaftsapparats, die Marcuse bereits in den 1940er Jahren zu entwickeln begonnen hatte. Sie mündete schließlich später in Der eindimensionale Mensch [5]. In seinem Beitrag schreibt Jansen diese Kritik unter Einschluss neuerer Arbeiten, wie z.B. von Hartmut Rosa, mit Bezug auf die Herrschaftslogik in einer informationstechnologisch geprägten Gesellschaft fort. Der dritte Beitrag widmet sich Marcuses Begriff der Utopie. Im Mittelpunkt steht der berühmte Vortrag Das Ende der Utopie von 1967. Jansen erörtert, "was ein Weniger an Utopie und ein Mehr für die gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne Marcuse sein könnten" (82).
Von Marcuse ist ein Text zur Kritik am "Trend zur Funktionalität der Sprache" (101) abgedruckt, auf dessen Entstehung in den Vorarbeiten zu Der eindimensionale Mensch Jansen in einem separaten Kommentar verweist. Zudem findet sich ein Gespräch mit Marcuse aus dem Jahr 1968 in den USA über die Zukunft der Demokratie, das erstmals auf Deutsch veröffentlicht ist. Jansen stellt in seinem Kommentar die spannungsgeladene Diskussion in den historischen und politischen Gesamtzusammenhang der Protestbewegungen in den Jahren 1967/68.
Insgesamt fünf Beiträge zu Löwenthal und ein Beitrag von Löwenthal über Shakespeare finden sich in dem Band. Jansen widmet sich Löwenthals wissenschaftlicher Arbeit, der er in den 1920er Jahren neben seiner Tätigkeit als Lehrer nachging - sei es im Institut für Sozialforschung, im Frankfurter Bund für Volksbildung -, der redaktionellen und der Autorentätigkeit bei verschiedenen Zeitschriften sowie den Beiträgen für das Radio. Dabei wird die Rolle der Werke Shakespeares herausgearbeitet, die "immer wieder ein zentrales Element der Arbeiten Löwenthals" (198) waren. Zudem gibt Jansen einen aufschlussreichen Einblick in Löwenthals - kurzes - Studium in Heidelberg in den 1920er Jahren, das seine wissenschaftlichen Interessen und Freundschaften prägte. So hörte Löwenthal bei Karl Jaspers; außerdem übten Ernst Blochs Arbeiten einen großen Einfluss auf ihn aus.
Auch Löwenthals herausragende Rolle in der Zeitschrift für Sozialforschung - dem zentralen Publikationsorgan des Instituts ab den 1930er Jahren - wird beleuchtet, wobei Jansen seine literatursoziologischen Aufsätze und organisatorischen Tätigkeiten in den Mittelpunkt rückt. Als verantwortlicher Redakteur, Autor und Leiter des Besprechungsteils war Löwenthal praktisch unverzichtbar. [6]
Frühere literatursoziologische Arbeiten Löwenthals aus den 1920er Jahren - Rezensionen und Radiobeiträge sowie Vorträge - werden in einem weiteren Beitrag vorgestellt und analysiert. Anhand jüngst im Archiv entdeckter Manuskripte legt Jansen "noch unbefestigte literatursoziologische Pfade" (228) frei, die Löwenthal während der 1950er Jahre in seinen mittlerweile klassisch geltenden Arbeiten - wie z.B. Literature and the image of man - verbreiterte.
Der letzte Text handelt von der über 40-jährigen Freundschaft zwischen Löwenthal und Siegfried Kracauer, der über Löwenthal und Adorno mit dem Institut in Verbindung stand. Anhand von Briefen und Erinnerungen Löwenthals werden die Beziehungen zwischen Löwenthal, Kracauer und auch Adorno nachgezeichnet, die in alle Richtungen nicht frei von Spannungen waren.
Erfreulich sind die im Band enthaltenden Fotos, die überwiegend aus dem Privatalbum Marcuses stammen. Die erstmals veröffentlichten Aufnahmen zeigen ihn und seine Familie, ebenso Löwenthal und dessen Familie sowie die beiden Freunde gemeinsam zwischen 1934 und den 1970er Jahren.
Von besonderer Relevanz sind 33 bisher unveröffentlichte Briefe der Korrespondenz von Löwenthal und Marcuse über einen Zeitraum von knapp 45 Jahren. Sie entpuppen sich als wahrer Schatz. Die eindrucksvollen Dokumente, die Jansen aufgespürt hat, geben auch Einblick in die tägliche Arbeit im Institut, die teilweise wechsel- und spannungsvollen Beziehungen Löwenthals und Marcuses zu den anderen Institutsmitgliedern, die Diskussionen über Buch- und Aufsatzmanuskripte sowie über politische Entwicklungen und Geschehnisse in Europa und in den USA. Die Briefe hat der Herausgeber mit hilfreichen Anmerkungen und Erläuterungen versehen.
In diesem äußerst gelungenen Band vereint Jansen seine Arbeit als Herausgeber und Autor und deckt ein vielfältiges Spektrum an Themen ab. Mit den erstmals veröffentlichten Briefen und Schriften von Löwenthal und Marcuse werden bislang unbekannte Quellen präsentiert. Jansens eigene Beiträge wiederum ermöglichen einen tieferen Einblick und ein besseres Verständnis der Arbeiten Marcuses und Löwenthals. Die inhaltliche Tiefe des Bandes speist sich aus der erfrischenden und durchdachten Konzeption. Martin Jay stellt in seinem Beitrag Peter-Erwin Jansen in eine Reihe mit den wichtigsten Herausgebern von Schriften aus dem Nachlass der Kritischen Theoretiker wie Rolf Tiedemann, Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid-Noerr. Dem kann man nur beipflichten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Herbert Marcuse: Kapitalismus und Opposition. Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen. Paris / Vicennes 1974, Springe 2017; Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften Band 1 bis 6, Lüneburg/Springe 1999-2009; Leo Löwenthal / Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel 1921-1966, Springe 2003; Das Utopische soll Funken schlagen... Zum 100. Geburtstag von Leo Löwenthal, Frankfurt am Main 2000. Alle herausgegeben von Peter-Erwin Jansen.
[2] Vgl. u.a. Peter-Erwin Jansen (Hg.): Kein Ende der Geschichte.... Für Leo Löwenthal, Frankfurt am Main 2021; Peter-Erwin Jansen: Die irrationale Rationalität des Fortschritts. Herbert Marcuses weitsichtige Technologiekritik. In: Zeitschrift für Kritische Theorie, 48/49, November 2019, 232-251; Peter-Erwin Jansen: Die drei gefährlichen >M<: Marx, Mao und Marcuse, in: Marcus Hawel / Helmut Heit / Gregor Kritidis / Utz Anhalt (Hgg.): Politische Protestbewegungen. Probleme und Perspektiven nach 1968, Hannover 2009, 64-84; Peter-Erwin Jansen: Leo Löwenthal - ein optimistischer Pessimist, in: Zeitschrift für kritische Theorie 8, Heft 15, 2002, 7-40; Peter-Erwin Jansen: Deutsche Emigranten in amerikanischen Regierungsinstitution. In: Peter-Erwin Jansen (Hg.): Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 2000, 39-59.
[3] Vgl. Leo Löwenthal: Herbert Marcuse zum 80. Geburtstag, in: Akzente, Zeitschrift für Literatur, 25. Jahrgang, Heft 3, Juni 1978, 283-284.
[4] Vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950 [1973], Frankfurt a.M. 1981; vgl. Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt a. M. 1980; Vgl. Detlev Claussen: Einheit in der Differenz - Marcuse und Adorno als kritische Theoretiker, in: Hanning Voigts, Entkorkte Flaschenpost. Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und der Streit um die neue Linke, Politische Theorie Band 11, Michael Th. Greven (Hg.), Berlin 2010, 7-17.
[5] Vgl. Herbert Marcuse: Some Social Implications of Modern Technology [1941], in: Max Horkheimer (Hg.): Zeitschrift für Sozialforschung. Jahrgang 9: 1941, München 1980, 414-439; Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964/1967], herausgegeben von Peter-Erwin Jansen, Springe 2014.
[6] Vgl. Gregor-Sönke Schneider: Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42). Frankfurt a. M. 2014.
Gregor-Sönke Schneider