Florian Meinel (Hg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts (= Recht - Wissenschaft - Theorie; Bd. 16), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, VIII + 461 S., ISBN 978-3-16-155772-9, EUR 69,00
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Die Historisierung des Bundesverfassungsgerichts schreitet voran. Damit geraten endlich zwei Besonderheiten der bundesdeutschen politischen Kultur stärker in den Blick der Zeitgeschichtsforschung, die in den 1950er Jahren ihren Ausgang nahmen und die auch noch die Gegenwart prägen, nämlich die ungemeine Verrechtlichung des politischen Prozesses und zugleich die weitreichende Bedeutung, die dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht hierbei zukommt. Dass es vor allem Rechtswissenschaftler sind, die unser historisches Wissen in diesem Zusammenhang erweitern, führt erneut der vorzügliche, von dem jungen Würzburger Staatsrechtslehrer Florian Meinel herausgegebene Sammelband über die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik vor Augen.
In seiner Einleitung stellt Meinel sogleich heraus, woran es in der Zeitgeschichtsforschung bisher mangelt. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts würden dort, wenn sie in Überblicksdarstellungen überhaupt angesprochen werden, kaum problematisiert, geschweige denn Entscheidungsspielräume und Entscheidungsalternativen aufgezeigt. Zeithistorische Studien verfehlten damit häufig den spezifisch historischen Sinn einer Entscheidung. "Entscheidungen 'aus Karlsruhe'", so Meinel, "stehen im historischen Narrativ schlicht für den Einbruch einer feststehenden Normativität in die Offenheit und Kontingenz des Historischen". (5) Anknüpfend an den Beitrag von Oliver Lepsius über die Notwendigkeit einer Historisierung und Kontextualisierung von Verfassungsgerichtsentscheidungen für eine methodisch reflektierte, demokratische Verfassungsdogmatik, ließe sich ergänzen, dass damit die Zeitgeschichtsforschung unbewusst bis heute von einem Spezifikum der deutschen Justizkultur ausgeht, Gerichtsentscheidungen nämlich zu objektivieren und sie als unhinterfragbar und überzeitlich anzusehen.
Solchen Tendenzen arbeitet der Band auf vorbildliche Weise entgegen und wirkt vor allem dort anregend, wo die Beiträge auf neuen Quellenstudien beruhen. Diese wurden dadurch möglich, wie der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, in seinem Beitrag darlegt, dass seit einer Gesetzesänderung von 2013 Gerichtsakten des Bundesverfassungsgerichts im Bundesarchiv Koblenz öffentlich zugänglich sind, wobei Verfahrensakten einer Sperrfrist von 30 Jahren und Akten aus den geheimen Senatsberatungen einer Sperrfrist von 60 Jahren unterliegen. Wie ergiebig diese neu zugänglichen Quellen sind, machen die Beiträge über die für die Vergangenheitspolitik zentrale Entscheidung zum 131er-Gesetz von 1953 (Matthias Roßbach), aber auch über die in der Zeitgeschichte weniger bekannten Urteile "Elfes" von 1957 (Dieter Grimm), "Redezeit" von 1959 (Pascale Cancik), "Feldmühle" von 1962 (Jan Thiessen) sowie die erste Hochschulentscheidung von 1973 (Florian Meinel) deutlich. Welche Ergebnisse und Anregungen lassen sich aus dem Band für eine künftige zeithistorische Betrachtung des Bundesverfassungsgerichts ziehen?
Erstens wird man beim Bundesverfassungsgericht für die 1950er und 1960erJahre nicht mehr pauschal von einem kontinuierlich arbeitenden Motor in Richtung einer Liberalisierung und Demokratisierung des bundesdeutschen Gemeinwesens sprechen können, obwohl der Beitrag von Ulrich Herbert - etwas zu selbstbewusst mit "Die Perspektive der Zeitgeschichte" überschrieben - genau diese Sicht noch einmal herausstreicht. Besonders Pascale Cancik führt vor Augen, dass es hier einer differenzierteren Betrachtungsweise bedarf, da der zweite Senat in der Redezeit-Entscheidung ein traditionelles exekutivisches Staatsdenken vertrat, den Abgeordnetenstatus im Konflikt mit der Bundesregierung nicht stärkte und ein Recht der Opposition auf Chancengleichheit mit der Regierung zwar erwähnte, aber letztlich nicht festschrieb. Hans Michael Heinig betont zudem für das Religionsverfassungsrecht, dass das Bundesverfassungsgericht auf diesem speziell von konservativen Sichtweisen geprägten Gebiet bis Mitte der 1960er Jahre Festlegungen eher vermied und dort somit auch keine liberalisierende Wirkung entfaltete.
Zweitens arbeiten alle Beiträge heraus, dass nur ein multiperspektivischer Zugang, der das politische und soziale Umfeld miteinbezieht, der Entwicklung des Gerichts gerecht wird. Zu berücksichtigen sind dabei neben den konkreten Entscheidungen: (A) die Biographien und intellektuellen Prägungen der Bundesverfassungsrichter - etwa durch Rückgriff auf das Generationenmodell (Beitrag von Anselm Doering-Manteuffel) - sowie anderer am jeweiligen Verfahren Beteiligter; (B) Leitbilder, Beratungen sowie persönliche Konflikte innerhalb des Gerichts (hierzu besonders aufschlussreich die Beiträge von Dieter Grimm und Jan Thiessen); (C) Auseinandersetzungen des Gerichts mit Parlament, Regierung und dem konkurrierenden Bundesgerichtshof; (D) juristische Festlegungen durch bewusst eingeschlagene Entwicklungspfade der Rechtsprechung (Beitrag von Rainer Wahl); und (E) zeitgenössische Debatten sowie die Resonanz der Rechtsprechung in den Medien und der Öffentlichkeit (Beitrag von Justin Collings).
Drittens verdient die Phase der "Selbstautorisierung" (Frank Schorkopf) eine besondere Aufmerksamkeit der Forschung. In dieser Frühphase nahm das Bundesverfassungsgericht zentrale, vom Grundgesetz nicht zwangsläufig vorgegebene Weichenstellungen vor. Auf diese Weise setzte es seine herausgehobene Stellung in Richtung einer "Superrevisionsinstanz" und als ein oberstes Verfassungsorgan durch, um autoritäre und antirechtsstaatliche Dispositionen in der postnationalsozialistischen Gesellschaft zu überwinden. So kann Matthias Roßbach zeigen, dass die Richter des ersten Senats in ihrer 131er-Entscheidung nicht zufällig einen Sturm der Entrüstung entfachten, indem sie erklärten, dass die Beamtenverhältnisse ab 1933 in hohem Maße vom Nationalsozialismus beeinflusst worden waren und folglich am 8. Mai 1945 erloschen seien. Die Quellen zeigen, dass sie sich ihrer politischen Gestaltungsmöglichkeiten vollauf bewusst waren, ein historisches Werturteil fällen und damit gegen die zunehmende Verharmlosung des nationalsozialistischen Unrechts durch die Zeitgenossen explizit Stellung beziehen wollten. Diese Gründungsphase wurde etwa Mitte der 1960er Jahre durch eine neue Phase abgelöst, als das Bundesverfassungsgericht ein gutes Stück konservativer wurde und sich stärker als Verteidiger der etablierten Ordnung hervortat, was längerfristig auch eine Aussöhnung konservativer Kräfte mit dem Gericht ermöglichte.
Viertens bedarf es eines distanzierten und kritischen Blicks auf das Bundesverfassungsgericht anstelle voreiliger Lobeshymnen. Ins Auge springen zunächst solche Urteile, die wie die Homosexuellen-Entscheidung von 1957 aus unserer heutigen Perspektive als äußerst fragwürdig erscheinen. Die neu zugänglichen Quellen zeigen darüber hinaus aber auch, dass sich das Gericht wiederholt zu stark mit der Position der Bundesregierung identifizierte und folglich im Verfahren gegenüber den Regierungsinstanzen zu wenig Distanz wahrte. Darüber hinaus ist zu fragen, ob die nationalsozialistische Prägung einzelner Richter, wie Willi Geiger, nicht auf indirekte Weise auch die Rechtsprechung des Gerichts beeinflusste.
Fünftens erweisen sich in dem Band die beiden Beiträge als besonders anregend, die die rein nationalstaatliche Perspektive verlassen und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der anderer Gerichte vergleichen: einmal mit dem Europäischen Gerichtshof in seiner Konstituierungsphase (Frank Schorkopf) und das andere Mal mit der Verfassungsgerichtsbarkeit des Globalen Südens (Michaela Hailbronner). Es zeigt sich dabei, dass - trotz fortbestehender Eigenheiten des deutschen Verfassungssystems - wichtige Weichenstellungen des Bundesverfassungsgerichts weniger einzigartig waren, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass dieser Band über das Bundesverfassungsgericht das sonst übliche Niveau von Sammelbänden weit übertrifft und für die juristische Zeitgeschichte wertvolle neue Forschungsperspektiven aufzeigt.
Frieder Günther