Constantin Goschler / Michael Wala: "Keine neue Gestapo". Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek: Rowohlt Verlag 2015, 464 S., ISBN 978-3-498-02438-3, EUR 29,95
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Der erste Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Otto John, hatte nach der Gründung seiner Behörde im Jahr 1950 hochtrabende, ehrenwerte Ziele. Sie sollte anderen Dienststellen zuarbeiten, indem sie geheimdienstlich vor allem Informationen über verfassungsfeindliche Organisationen beschaffte und auswertete, sich aber aus der Strafverfolgung bewusst heraushielt. Darüber hinaus sollte sie "aktiven Verfassungsschutz" betreiben, indem sie beispielsweise die demokratische Gesinnung von Jugendlichen förderte. In Johns Bundesamt dürfte indes kaum jemand diese Zielsetzung geteilt haben. Das Gros der Mitarbeiter orientierte sich bis Ende der 1960er Jahre an der Vorstellung eines abstrakten Staatsschutzes, die weite Teile der Bürokratie schon in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt hatte, darüber hinaus aber tief in den Traditionen deutschen politischen Denkens verwurzelt war. Insofern war die Bezeichnung Verfassungsschutz, die im Wesentlichen auf Druck der Westalliierten hin gewählt worden war, für das Bundesamt geradezu irreführend. Zentrale Aufgabengebiete, wie Spionageabwehr oder Betriebsschutz, für die die Behörde von Anfang an zuständig war, entsprachen dem Konzept eines konventionellen Inlandsgeheimdienstes und hatten mit dem wehrhaften Demokratiekonzept des Grundgesetzes nichts zu tun.
John floh 1954 auf abenteuerliche Weise in die DDR, da ihm die Leitung seiner Behörde mittlerweile ganz entglitten war. Er begründete seinen Schritt mit dem Wiederaufstieg der alten Eliten in der Bunderepublik. Mit dieser Kritik traf er einen zentralen Punkt seiner eigenen Behörde. Zwar hatten die Westalliierten gegenüber keiner anderen Institution die Anstellung von Mitarbeitern so genau überwacht, um die Rückkehr früherer Nationalsozialisten zu verhindern. Trotzdem waren hoch belastete Personen unter stillschweigender Billigung der Besatzungsmächte als freie Mitarbeiter in den Dienst des Bundesamts gelangt, da man meinte, nur mit Hilfe ehemaliger Angehöriger von SS, SD und Gestapo die neuen Staatsfeinde effektiv bekämpfen zu können. Später wurde eine spezielle Tarnfirma für sie gegründet. Ab 1957, als die genaue Kontrolle der Westalliierten geendet hatte, ließ man auch diese Tarnung fallen und übernahm die Mehrzahl dieser Personen als Festangestellte. Diese Entscheidung erwies sich mittelfristig allerdings als Bumerang, da sie die Voraussetzung für die kommende "Zeit der Affären" (Christina von Hodenberg) darstellte. Immer wieder brachten die Medien seit dem Beginn der 1960er Jahre die früheren NS-Karrieren der Verfassungsschutzmitarbeiter mit haarsträubenden gegenwärtigen Methoden des Bundesamts in Verbindung, bei denen die bestehende Gesetzeslage schlichtweg missachtet wurde, so dass sich das Amt wiederholt gezwungen sah, sich von den am stärksten belasteten Personen zu trennen.
Der vorliegende Band über das Bundesamt für Verfassungsschutz liest sich somit über weite Strecken als eine Geschichte seiner Skandalisierung, wobei deutlich wird, dass sich die Definition, was als NS-Belastung zu gelten hat, über die Jahre immer weiter verschärfte. 1972 und 1975 sahen sich sogar zwei aufeinanderfolgende Präsidenten des Bundesamts, Hubert Schrübbers und Günther Nollau, zum Rücktritt gezwungen, obwohl der eine doch "nur" als Staatsanwalt zu Beginn der 1940er Jahre "Kommunisten wegen staatsgefährdender Umtriebe angeklagt" (340) hatte und der andere bloßes NSDAP-Mitglied gewesen war. In diesen Fällen verband sich jedoch die NS-Belastung mit dem Ziel der Bundesregierung, die beiden aus politischen Gründen loszuwerden, weil Schrübbers aufgrund seiner strammen antikommunistischen Haltung als Gefahr für die Neue Ostpolitik angesehen wurde und Nollau eine Politisierung des Bundesamts betrieb, die in Zeiten verschärfter innenpolitischer Auseinandersetzung als inopportun erschien.
Die von den beiden Bochumer Historikern Constantin Goschler und Michael Wala verfasste Studie entstand als Auftragsarbeit des Bundesamts für Verfassungsschutz, wobei eine Organisationsgeschichte "unter besonderer Berücksichtigung der NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungsphase" (14) angestrebt wurde. Dies führte einerseits dazu, dass eine flüssig geschriebene Institutionengeschichte entstanden ist, die die personellen Kontinuitäten in den Mittelpunkt rückt, die öffentliche Außenwahrnehmung stets berücksichtigt und sich zugleich an einen breiten Leserkreis richtet. Es handelt sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht um eine Pionierstudie, da die Akten des Bundesamts für Verfassungsschutz für die Forschung bislang unter Verschluss waren. Andererseits vermag der Band den historisch geschulten Leser in analytischer Hinsicht nicht immer ganz zu überzeugen. So entwickelte sich das Bundesamt über den gesamten untersuchten Zeitraum im Spannungsfeld der Aufgabenbereiche Verfassungsschutz, Staatsschutz und Regierungsschutz, wobei das Amt vor allem die Regierung Adenauer beim Wahlkampf mit äußerst fragwürdigen Methoden unterstützte. Die drei Aufgabenbereiche werden in der Studie aber als Analysekategorien kaum genutzt, obwohl dies die Möglichkeit eröffnet hätte, um - abgesehen von den personellen Kontinuitäten - längerfristige Prägungen der Mitarbeiter herauszuarbeiten, welche sich dann wiederum in der konkreten Geheimdiensttätigkeit widerspiegelte. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der NS-Belastung, der einmal in den zeitgenössischen Debatten auftaucht und ein andermal als analytische Beschreibungskategorie Verwendung findet, ohne dass zwischen beiden Verwendungsweisen klar unterschieden würde.
Mehr erfahren hätte der Leser gerne über die Ausbildung der Mitarbeiter oder über die konkrete Funktionsweise und die Struktur der Institution, ihrer Abteilungen und Außenstellen. Nur in einem Nebensatz erfährt man beispielsweise, dass die ersten Verfassungsschützer von der CIA und vom MI5 ausgebildet worden seien. Was wurde ihnen dort vermittelt, und was bedeutete dies für das Selbstverständnis des Bundesamts?
Abschließend sei noch ein grundsätzlicher Kritikpunkt angemerkt. Die Autoren schreiben im Vorwort völlig zu Recht, dass nur durch die öffentliche Zugänglichkeit ihrer Quellen gewährleistet sei, "dass unsere Forschungen öffentlich und wissenschaftlich überprüft und kritisch begutachtet werden können". (14) Doch was bringt ein solch hehres Bekenntnis, wenn gerade das Gegenteil der Fall ist, ein größerer Teil der im Band nachgewiesenen Quellen sich also bis heute nicht im Bundesarchiv, sondern im Bundesamt für Verfassungsschutz befindet und damit der Nachprüfbarkeit entzogen ist? Autoren und Bundesamt sollten sich also schleunigst um die Offenlegung ihrer Akten kümmern.
Frieder Günther