Michael Wala: Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz, Berlin: Ch. Links Verlag 2023, 352 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-192-3, EUR 25,00
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Der Bochumer Historiker Michael Wala kennt die Geschichte des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Zusammen mit Constantin Goschler hat er 2015, noch vor den Arbeiten der Unabhängigen Historiker-Kommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, eine Studie zu den Anfängen der Kölner Behörde und ihrer Vergangenheitspolitik vorgelegt. Daran schloss sich 2019 eine Biografie des ersten Präsidenten Otto John an. Nun wendet sich Wala dem zu, was neben der Extremismusabwehr ein Kerngeschäft des BfV war (und ist): die Abwehr von Spionage zum Nachteil der Bundesrepublik, bis zum Ende des Kalten Krieges vornehmlich aus Ländern des Warschauer Paktes. Sein Thema konkretisiert er an den Aktivitäten der für Auslandsaufklärung vorrangig zuständigen Hauptverwaltung A (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS). Über die HV A, lange geführt von Markus Wolf, dann von Werner Großmann, ist viel geschrieben worden, von beiden selbst, außerdem von rührigen Publizisten aus den eigenen Reihen. Ihnen kam zugute, dass der überwältigende Teil der Originalakten dieser Diensteinheit noch vor der deutschen Einheit vernichtet werden konnte. Die Geschichtsschreibung bleibt deshalb auf Parallelüberlieferungen aus anderen Bereichen des Geheimdienstes und auf Recherchen über erhalten gebliebene Hilfsmittel wie die SIRA-Datenbank und die "Rosenholz"-Dateien angewiesen.
Ganz ohne quellenfundierte Ergebnisse steht die Forschung also nicht da. Wala ist aber zuzustimmen, dass es den Ehemaligen der HV A "kurioserweise" gelungen ist, als "Verlierer den Diskurs [zu] beherrschen" (10). Solcher "Selbstheroisierung" will der Verfasser mit einer "Gegengeschichte" antworten, in der das MfS "entzaubert" wird (9-10), und zwar auf Grundlage der von ihm erstmals in großem Umfang erschlossenen und extensiv genutzten Akten des BfV. Droht hier eine triumphierende Wendung des vorherrschenden, von der Überlegenheit des Ost-Berliner Staatssicherheitsdienstes im deutsch-deutschen Geheimdienstkrieg kündenden Narrativs, indem der Autor die Perspektive der vermeintlich am Ende doch siegreichen Verfassungsschützer ins Akademische überträgt? Um es vorwegzunehmen: nein. Walas Arbeit besticht abseits derartig prononcierter Feststellungen durch eine sehr ausgewogene Darstellung. Sie benennt die Leistungen der HV A in ihrem Metier, beziffert aber auch deren Kosten und behandelt zahlreiche von Wolfs Apparat nicht wie geplant durchgeführte Operationen. Damit dokumentiert sie umgekehrt Erfolge wie Probleme des Bundesamtes bei der Spionageabwehr und der Gegenspionage, also dem Eindringen in den Aufklärungsapparat des Gegners, vom BfV-Präsidenten Günther Nollau einst als "Offensive Abwehr" bezeichnet (34). Die materialgesättigte Studie ist sehr gut lesbar, visualisiert den Text mit fast 30 Abbildungen und verbindet in 20 Kapiteln die Schilderung einer ganzen Reihe von Einzelfällen mit umfangreichen Zahlenangaben und Statistiken. Manche dieser Spionagevorgänge sind für die Forschung neu, manche bisher aus HV A-Sicht bereits bekannt.
Welche Erkenntnisse steuert Wala bei? Das BfV generierte seinen Wissensstand in den 1950er und 1960er Jahren vielfach aus Befragungen von Überläufern. Daneben entwickelte sich zunehmend systematisch die Fahndung nach legendierten Schleusungen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik, die zur Verschleierung oft aus Drittländern einreisten und ihre Spur durch häufige Wohnortwechsel zu verwischen suchten - genau diese beiden Merkmale bildeten jedoch die Spur. Ursprünglich aus einer Initiative des Bundeskriminalamtes entstanden, entwickelte sich die Aktion "Anmeldung" mit dem Abgleich von Meldedaten in Einwohnerregistern zur ertragreichsten Vorgehensweise des BfV überhaupt. Sie begann 1971 und dauerte bis 1994, hatte ihren Höhepunkt aber bereits 1976/77. Verhaftungen wurden als Erfolge gewertet ebenso wie die Flucht der Illegalen zurück in die DDR, wodurch weitere Spionage unterbunden wurde. Die zeitraubenden Recherchen in Meldeämtern stießen allerdings bereits seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auf Restriktionen im Datenschutz (88, 224, 228, 232-233). Dessen bürokratisches Regime wurde für die Ermittlungen der Verfassungsschützer ebenso zu einem Problem wie die schlechte Beleumundung in der Öffentlichkeit aufgrund der ihnen politisch auferlegten Bearbeitung der Regelanfrage zur Verfassungstreue von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst (der sog. Radikalenerlass) seit 1972.
Mit einem eigenen Methodikreferat suchte die Behörde Wege, um von anlassbezogenen Einzelfallverdächtigungen zu strukturellen Maßnahmen in der Identifizierung von Ostspionen zu gelangen. Neben Befragungen und Meldekontrollen zählten dazu Reisewegsuchmaßnahmen, Observationen sowie, in Zusammenarbeit mit dem Bundesgrenzschutz, der Aufbau einer Funkabwehr zur Ortung von Agentenfunkern. Dank seiner Quellen im Westen war das MfS darüber allerdings informiert, und mit technischen Mitteln erschwerte es einerseits diese Arbeit, während zugleich seine Hauptabteilung III (Funkaufklärung und Funkabwehr) umfangreiche Einbrüche in den Fernmeldeverkehr bundesdeutscher Sicherheitsbehörden erzielte. Wala konstatiert, dass das BfV insgesamt sehr akribisch und ausdauernd arbeitete (132). "Klassiker" blieben sogenannte Gegenoperationen, mit denen erkannte Zuträger östlicher Dienste für eigene Zwecke "umgedreht" wurden. Zwischen 1950 und 1990 sollen zwischen 2000 (eine Zahlenangabe, 283) und 2500 (eine andere, 141) derartige Aktionen stattgefunden haben. Nicht zwangsläufig ging es um das Eindringen in den gegnerischen Apparat, sondern zunächst um die Bindung von Personal und Ressourcen des MfS. Das Kapitel über "Anbahnungen und Gegenoperationen" (188-202) berichtet am Beispiel eines Doppelagenten vom gegenseitigen Belauern der Dienste und könnte Stoff für eine Agentengroteske bieten.
Anders, nämlich bitterernst für Köln war der Verrat von Klaus Kuron. Als Fallführer im Referat für die Abwehr politischer DDR-Spionage gab der Oberamtsrat sein Wissen seit 1982 aus finanziellen Gründen an die HV A weiter. Wala kann den nachrichtendienstlichen Schaden in diesem Fall wie auch für den 1985 nach Ostdeutschland übergelaufenen Vorgesetzten Kurons, Hansjoachim Tiedge, umfassend aus den Akten des Verfassungsschutzes rekonstruieren. Kurons Verrat "kam tatsächlich einem Bankrott großer Teile der Spionageabwehr gleich" und habe die Abwehrarbeit des Bundes- und der Landesämter schlichtweg "zunichte gemacht" (204, 212). Noch rückwirkend erhielt die HV A Kenntnis von Altfällen Kurons vor 1982, sodann von allen über seinen Schreibtisch laufenden Vorgängen bis 1990, und selbst in diesem letzten Jahr der DDR konnte er bis ins Frühjahr hinein seine Verbindungsleute in Ost-Berlin über Selbstanbieter aus dem MfS unterrichten, die sich nun dem BfV andienten. Walas erklärtes Vorhaben, dank neuer westlicher Quellen die Leistungen der HV A zu erden, erreicht hier seine Grenzen, indem er umgekehrt deren klare Erfolge aufzeigt. Außer Kuron spionierten noch zwei Verfassungsschützer aus Niedersachsen und einer aus Hessen für Ost-Berlin. Die wichtigste MfS-Quelle in der Bundeswehr, tätig seit 1969, sei Joachim Krase gewesen, zuletzt Oberst und Vizechef des Militärischen Abschirmdiensts (MAD). Aufgrund der Kooperation innerhalb der deutschen Spionageabwehrdienste war Krase über Maßnahmen des BfV informiert und verriet sowohl "Anmeldung" als auch die Reisewegsuchmaßnahmen.
Besonders aufschlussreich, weil in solcher Tiefe noch nicht behandelt, sind die beiden letzten Kapitel, in denen zunächst von zunehmenden Zweifeln beim BfV berichtet wird, da seit Mitte der 1980er Jahre keine Abwehroperationen mehr anhaltend gelingen wollten. Das Methodikreferat im Amt konnte nicht unbegrenzt neue Ansätze erdenken, und letztlich lief es auf ein ungleiches personelles Duell hinaus: Den 1989 deutlich über 4000 hauptamtlichen Mitarbeitern der HV A in Ost-Berlin und 1500 im Westen tätigen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), Residenten und Kurieren standen keine 80 Beamte der BfV-Spionageabwehr gegenüber (227).
Doch die düstere Stimmung, die sich mit der Öffnung der Grenzen seit dem 9. November breit machte, als Köln mit einer Flutung von unkontrollierbar einreisenden Spionen rechnete, wandelte sich binnen weniger Monate in Euphorie. Ehemalige HV A-Offiziere blickten in eine perspektivlose Zukunft und während die einen ihre Reihen schlossen, boten sich andere den Verfassungsschutzämtern und dem BND an. Ende März 1990 waren es 48 Überläufer, zwei Monate später fast 30 weitere, im Herbst insgesamt 177. (Für einige von ihnen war ausgerechnet Kuron zuständig, der sich im Oktober 1990 dann selbst stellte.) Im Unterschied zum BND und zu westlichen Diensten durfte das BfV als Inlandsnachrichtendienst erst mit der deutschen Einheit in den dann fünf neuen Bundesländern aktiv werden. Mit der Operation "Opal" sprachen die Verfassungsschützer hochrangige Führungsoffiziere der HV A an. Auch wenn viele der früheren MfS-Mitarbeiter die Zusammenarbeit verweigerten, gaben mehr als die Hälfte der Befragten Wissen preis, was auf die Spur von über 50 zum Teil noch 1990 operativ tätigen Quellen im Westen führte.
Ausführlich geht Wala auf die Übergabe von mikroverfilmten Karteikarten der HV A von der CIA an das BfV ein, wesentliches Hilfsmittel zur Identifizierung von Personen. Die "Rosenholz"-CDs markierten 1993 "den Beginn des endgültigen 'Kehraus' der geheimdienstlichen Arbeit der HV A in der BRD" (271). Die darauf gründenden Ermittlungen und Strafverfahren dienten aus Sicht des Bundesamtes nicht der Rache oder historischer Bewältigung, sondern sollten verhindern, dass das personell noch fassbare Spionagepotenzial der DDR nun von fremden Diensten gegen die Bundesrepublik genutzt wurde. "Rosenholz" verriet der Spionageabwehr freilich auch, dass die HV A über Jahrzehnte auf gut platzierte Agentinnen und Agenten in der Bundesrepublik zugreifen konnte. Andererseits waren seitens des MfS die Schleusungen von Illegalen nach den Erfolgen von "Anmeldung" stark reduziert und Reisen von HV A-Offizieren in das westliche "Operationsgebiet" eingeschränkt worden.
Das Verdienst von Walas Buch ist es, die Tätigkeit der Hauptverwaltung A im "Praxistest" an der westdeutschen Spionageabwehr gespiegelt und die ostdeutschen Erfolge zwar nicht negiert, aber doch wo notwendig relativiert zu haben. Kontinuierlich haben ehemalige Angehörige der HV A am eigenen Nachruhm gebastelt; schon vor Wala wurde gegen diese recht eindimensionale Erzählung auf die nachweislichen Schwierigkeiten der HV A hingewiesen. "Der Stasi-Mythos" revidiert nicht in toto die bisherige Kenntnis über eine oftmals unbestreitbar effektive DDR-Spionage, leistet aber einen wichtigen Beitrag, um die Grautöne in dieser speziellen Geschichte deutsch-deutscher Verflechtung auszuloten.
Armin Wagner