Douglas Selvage / Georg Herbstritt (Hgg.): Der »große Bruder«. Studien zum Verhältnis von KGB und MfS 1958 bis 1989 (= Analysen und Dokumente; Bd. 58), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 364 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31733-4, EUR 25,00
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Bis heute bleibt die historische Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Komitee für Staatssicherheit der UdSSR (KGB) und dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) ein schwieriges Unterfangen, weil ein Großteil der hierzu eigentlich erforderlichen Akten unerreichbar in den Moskauer Archiven des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation liegt. Deshalb erwies es sich als außerordentlicher Glücksfall, dass 1992 der ehemalige Archivar der für die Auslandsaufklärung zuständigen I. Hauptverwaltung des KGB, Wasilij N. Mitrochin, zu den Briten überlief. Als "Morgengabe" überreichte er dem MI6 sechs Koffer mit rund 25.000 Blatt handschriftlichen Notizen aus rund 300.000 Akten.
Da der KGB-Major zwischen 1968 und 1972 in der KGB-Vertretung in Berlin-Karlshorst tätig gewesen war, umfassten seine Aufzeichnungen auch die Beziehungen zwischen dem KGB und dem MfS. Diese bildeten nun eine der wesentlichen Grundlagen für den vorliegenden Sammelband von Douglas Selvage und Georg Herbstritt. In acht Studien untersuchen die Herausgeber und drei weitere Autoren verschiedene Teilbereiche der Zusammenarbeit beider Geheimpolizeien.
Selvage beschreibt in einem Beitrag, für den er insbesondere Mitrochins Notizen intensiv auswertete, das MfS richtigerweise als "kleinen Bruder" des KGB. Daran änderte auch die im Spätherbst 1958 erfolgte Halbierung des bisherigen Beraterapparates des sowjetischen Geheimdienstes auf 32 Offiziere und deren Herabstufung auf Verbindungsbeamte nichts. Genauso wenig dürfte überraschen, dass das KGB in der DDR mindestens vier illegale Residenturen unterhielt, die ohne Kenntnis des MfS auf ostdeutschem Territorium spionierten und dort eigene Quellen führten. Obgleich Stasi-Chef Erich Mielke seine Untergebenen angewiesen hatte, den Informationsfluss nach Moskau möglichst einzuschränken, entpuppte sich der Minister für Staatssicherheit als wichtige Quelle des KGB für Interna aus dem Politbüro. Mielke erwies sich - wie sein Ministerium auch - trotz aller Souveränitätsbekundungen als Diener zweier Herrn, der Moskau wie auch die SED-Führung belieferte.
In einem zweiten Artikel zeigt Selvage an zahlreichen Beispielen, wie intensiv die Auslandsaufklärung des KGB die DDR als Operationsbasis für Geheimdienstaktionen gegen die Bundesrepublik nutzte. Immerhin gehörten Mitte der 1970er Jahre 1314 DDR-Bürger zum Agentennetz der sowjetischen Geheimpolizei in Ostdeutschland, sie sicherten u.a. den Einsatz von 234 Agenten aus westlichen Staaten ab. Das MfS unterstützte das KGB dabei durch das sogenannte Tippen und Anwerben bei der Rekrutierung von Informellen Mitarbeitern (IM). Zudem stellte die Staatssicherheit dem sowjetischen Geheimdienst seine Informationen über Bundesbürger zur Verfügung, die möglicherweise für eine Zusammenarbeit mit dem KGB - beispielsweise bei der Überwachung von strategisch wichtigen Standorten der NATO in der Bundesrepublik - in Frage kamen. Zudem musste das MfS immer wieder Dienstleistungen bei der Deckung, Überprüfung und Ausreise von IM des KGB erbringen.
Am Beispiel der Überwachung der antisowjetisch agierenden "Gesellschaft für Menschenrechte" durch KGB und MfS belegt Selvage schließlich die Zusammenarbeit zwischen beiden Geheimpolizeien bei der nachrichtendienstlichen Bekämpfung von als feindlich eingeschätzten Nichtregierungsorganisationen. Ein weiterer Aufsatz des Historikers zu den Kampagnen der Tschekisten aus der Sowjetunion und der DDR zur Diskreditierung des Kernphysikers und Dissidenten Andrej D. Sacharow, dem 1975 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, belegt erneut die Rolle des MfS als Diener zweier Herrn.
Cornelia Jabs zeigt in ihrem Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen der Archivabteilung der Staatssicherheit und dem KGB dass die Kooperation beider Geheimdienste auch Grenzen hatte. Dies betraf insbesondere Auskünfte zu Vorgängen der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS sowie zu IM, die den Hauptabteilungen des Ministeriums in Berlin unterstanden. Hier musste der Leiter der Archivabteilung jeden Einzelfall mit den "vorgangsführenden Diensteinheiten abstimmen und in Ausnahmefällen sogar irreführend als 'nicht erfasst' beauskunften, um dem KGB Einblicke in bestimmte Vorgänge zu verwehren" (63). Gleichwohl prüfte das Archiv des MfS gegen Ende der 1980er jährlich mehr als 20.000 Anfragen des sowjetischen Geheimdienstes. Dementsprechend verfügten die KGB-Verbindungsoffiziere über außerordentliche "Befugnisse zur Überprüfung, Erfassung und 'Nutzung' von DDR-Bürgern sowie zur Übernahme Inoffizieller Mitarbeiter des MfS für eigene Zwecke" (72).
Am Beispiel des Forschungszentrums des VEB Werkzeugmaschinenbau Karl-Marx-Stadt stellt Jabs dar, dass "das Spionieren unter Freunden" zum Alltagsgeschäft des KGB gehörte. Der "große Bruder" scheute sich nicht, durch ein eigenes Spitzelnetz nachrichtendienstliche Erkenntnisse des MfS "abzuschöpfen", die das Ministerium im Westen auf klandestinem Weg beschafft hatte und den Karl-Marx-Städter Entwicklern zukommen ließ. Die Autorin sieht hierin den Beleg, dass KGB und MfS in wirtschaftlicher Hinsicht durchaus konkurrierten und mit ihren konspirativen Mitteln eigennützige Interessen verfolgten, wobei im Fall eines Konfliktes die sowjetische Geheimpolizei über die dominierende Position verfügte.
Der tschechische Archivar und Historiker Matěj Kotalík wiederum belegt die enge Kooperation zwischen KGB und MfS bei der Legalisierung von Agenten für den Einsatz im Westen. Der Einsatz von sogenannten Illegalen, also Spionen ohne diplomatische Absicherung, galt in der Sowjetunion als höchste Kunst der Spionage und hatte absolute Priorität. Eine erfolgreiche Legalisierung konnte allerdings nur gelingen, wenn eine Falschidentität vorlag, die allen Überprüfungen der Gegenseite standhielt. Kotalík entwickelt dabei in seinem Beitrag eine sechsstufige Typologie, die sich über "lebendige Doppelgänger" bis zu völlig erdachten Personen erstreckt. Für jeden Typus hält er konkrete Beispiele bereit. Gerade in der Anfangszeit nutzte der sowjetische Geheimdienst ungeniert seine Möglichkeiten und vollzog sogar eigenmächtig Einträge in ostdeutsche Personenstandsregister. Auch nach 1958 blieb das Verhältnis von Asymmetrie geprägt: Während das KGB in der DDR ohne Wissen der Staatssicherheit auf Personenstandsakten zugreifen konnte, musste das MfS immer erst die Nutzung entsprechender Unterlagen bei der sowjetischen Geheimpolizei beantragen.
Abschließend schildern Mieszko Jackowiak und Georg Herbstritt, wie MfS und KGB in den 1960er und 1970er Jahren den rumänischen Sonderweg kritisch beäugten und versuchten, die sowjetische Vormachtstellung gegenüber dem Land zu sichern. Ihre Untersuchung belegt die Zuverlässigkeit und Plausibilität der Aufzeichnungen Mitrochins, zeigt aber auch, dass diese nur einen bruchstückhaften Einblick in die ehemaligen Archive des KGB bieten.
Obgleich der Zugriff auf die Masse der Unterlagen des sowjetischen Geheimdienstes fehlt, ist es den Herausgebern gelungen, mehr als einen Mosaikstein zur Analyse des Verhältnisses zwischen KGB und MfS vorzulegen. Natürlich können das Mitrochin-Archiv und die sowjetischen Aktensplitter im Stasi-Unterlagen-Archiv den fehlenden Zugang zum russischen Material nur notdürftig ersetzen. Gleichwohl erlauben die bereits jetzt verfügbaren Unterlagen - wie die Herausgeber gezeigt haben - die kompetente, facettenreiche und weiterführende Untersuchung der Beziehungen zwischen den ostdeutschen und sowjetischen "Tschekisten".
Matthias Uhl