Thomas Flierl (Hg.): Der Architekt, die Macht und die Baukunst. Hermann Henselmann in seiner Berliner Zeit 19491995 (= Edition Gegenstand und Raum), Berlin: Verlag Theater der Zeit 2018, 212 S., zahlr. Abb., zahlr. Kt., ISBN 978-3-95749-116-9, EUR 22,00
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Der von Thomas Flierl herausgegebene Tagungsband versammelt die Beiträge eines 2015 zum 110. Geburtstag Henselmanns abgehaltenen Kolloquiums der Hermann Henselmann Stiftung in Berlin; einzig der Text von Paul Siegl wurde für die Publikation neu verfasst. [1] Die Publikation will Lücken in Henselmanns Arbeitsbiografie nach 1945 schließen, die nach wie vor vorhanden sind, was auch für die Zeit vor 1945 gilt. Im Anhang versammelt der Band ein Verzeichnis von Henselmanns Schriften, der den Zugang zu seinen Publikationen erleichtern soll; ein Verzeichnis seiner feuilletonistischen Schriften ist geplant.
Zwei Blickwinkel der chronologisch geordneten Beiträge dominieren das Buch: Zum einen erläutern Zeitzeugen, ehemalige Mitarbeiter und Weggefährten Henselmanns einige Umstände aus persönlicher Sicht. Die Beiträge basieren teilweise auf frei gehaltenen Vorträgen und verzichten auf einen wissenschaftlichen Apparat. Die zweite Annäherung an Henselmanns Berliner Zeit nehmen Kunst- und Architekturhistoriker und -historikerinnen vor. Norbert Korrek untersucht das Verhältnis von Henselmann und Hans Scharoun am Institut für Bauwesen, das an der 1946 gegründeten Akademie der Wissenschaften angesiedelt war. Dorthin, in die Hannoversche Straße, sollte Henselmann als Leiter der Experimentalwerkstatt der Bauakademie der DDR in den 1960er-Jahren zeitweise zurückkehren (vgl. den Beitrag "Henselmanns Leitbauten für DDR Städte" von Wolf R. Eisentraut, 113-131). Die von Henselmann in autobiografischen Texten stets positiv geschilderte Beziehung zu Scharoun war in Wahrheit spätestens seit Mitte der 1950er-Jahre schwer beschädigt, da Henselmann Scharouns Gedankenwelt als dem "bürgerlichen Idealismus" zugehörig charakterisiert hatte und dieser Sichtweise vorwarf, der NS-Ideologie den Boden geebnet zu haben (12). Korrek arbeitet die Netzwerke heraus, innerhalb derer Kurt Liebknecht (wissenschaftlicher Sekretär am Institut, später Präsident der Deutschen Bauakademie), der Direktor der Akademie der Wissenschaften, Josef Naas, und der spätere Minister für Aufbau, Lothar Bolz, wichtige Protagonisten werden sollten.
Eduard Kögel schließt in seinem Aufsatz "Das Hochhaus an der Weberwiese als Leitbau der Stalinallee" zeitlich unmittelbar an und untersucht die Mechanismen von Gefolgschaft, Disziplinierung und Abgrenzung innerhalb der SED am Beispiel der Leiter der drei Meisterwerkstätten an der Bauakademie: Henselmann, Richard Paulick und Hanns Hopp. Anhand von neuem Quellenmaterial weist Kögel nach, dass Paulick nach seiner abenteuerlichen Rückkehr aus Shanghai und einer Odyssee als Staatenloser durch Europa in Frankreich Le Corbusiers Unité d'Habitation im Bau gesehen hatte. Aus der Sicht der Partei sabotierten Architekten wie Henselmann mit ihren "ungenügenden" Entwürfen das politische Programm (38). Die SED - dies kommt beispielhaft im offenen Brief Rudolf Herrnstadts (Chefredakteur des Neues Deutschland) an Henselmann von 1951 zum Ausdruck - forderte von den Architekten Gefolgschaft (41). In der Folge wurde an Henselmann, der den Wettbewerb um das Hochhaus an der Berliner Weberwiese gewann, ein politisches Exempel statuiert (42). Im Klima der staatlichen Großaufträge um die Stalinallee kristallisieren sich die Mechanismen von internem Lobbyismus, Denunziation ("Kritik") und Karrieredenken (46) heraus, wie Kögel unterstreicht.
Thomas Flierl schließt hier an und vertieft am Beispiel von Henselmanns Aufsatz "Der reaktionäre Charakter des Konstruktivismus von 1951, die Beziehung zwischen Partei und Architekt. Flierl wertet den Artikel als "Dokument einer ideologischen Unterwerfung" (52) und als Teil einer öffentlich inszenierten Modellbiografie Henselmanns als eines sozialistischen Architekten. Nachdem er bereits irren durfte und durch die Weisheit der Partei wieder auf den rechten Weg fand, ist der nächste Schritt die öffentliche Selbstkritik unter Denunziation der "modernen Volksfeinde". Hatte Henselmann zunächst noch gehofft, die Architektur der 1950er-Jahre mitbestimmen zu können, forcierte die SED unter Ulbricht den "Kampf gegen den Kosmopolitismus und Formalismus". Henselmanns Artikel war ein Frontalangriff auf die Hauptvertreter des Bauhauses, obwohl Meyer, Gropius und Ernst May nicht namentlich genannt werden, sind sie jedoch durch die Standorte ihrer Bauten bzw. die Nennung ihres jeweiligen Exils ("Bernau", "Amerika", "Südafrika") zu identifizieren (58). Flierl zeigt am Begriff des Konstruktivismus, der als Avantgardeströmung in Mitteleuropa keine prägende Rolle spielte, wie Topoi der sowjetischen Architekturdoktrin jener Tage auf den DDR-Kontext appliziert wurden. Während besonders Gropius in den USA für die DDR-Architekturpropaganda als Verkörperung eines kapitalistischen Architekten herhalten musste, war der Fall von Meyer komplexer. Nicht nur dass sich Meyer bereits seit seinem Weggang aus der Sowjetunion 1936 von einem doktrinären Funktionalismusverständnis distanziert hatte, für das er nun in der DDR angegriffen wurde. Er machte sich sogar Hoffnungen auf eine berufliche Tätigkeit in Ost-Berlin, wie Flierl anhand von Korrespondenzen Meyers mit Briefpartnern (Waldemar Alder; Heinrich Stark; Karola Bloch) belegt (64). Meyer hatte sowohl Henselmanns negative Äußerungen im Neuen Deutschland gelesen als auch Ulbrichts Kritik zur Kenntnis genommen. Er schätzte die Debatte in der DDR als um 20 Jahre verspätet ein. Henselmanns Schmähung, so folgert Flierl, dürfte auch aus politischem Kalkül heraus entstanden sein, da dieser sicherlich nicht an einer Anwesenheit Meyers in der DDR interessiert gewesen sein dürfte, da er Meyer wegen der Kenntnis der Situation in der UdSSR und seiner Kontakte zu einflussreichen Personen in der DDR als Konkurrenz sah. Immerhin kann die Einladung Mays zur Teilnahme am deutsch-deutschen Fennpfuhl-Wettbewerb 1956 (vgl. den Aufsatz von Andreas Butter, 85-93) als Art Wiedergutmachung Henselmanns für die Angriffe aus den frühen 1950er-Jahren gewertet werden.
In seinem schwungvollen Text "Herrmann Henselmann - Chefarchitekt von Berlin" unterzieht Bruno Flierl Henselmanns Wirken einer kritischen Revision. Henselmann war dem Oberbürgermeister von Berlin, Friedrich Ebert, direkt unterstellt, was seinem Selbstverständnis als Künstlerarchitekt entsprach, gleichzeitig aber auch dessen Schwächen offenbarte. So "verzettelte" (72) sich Henselmann in einer Vielzahl von Projekten, die allesamt, bis auf das Ensemble am Frankfurter Tor, nicht ausgeführt wurden. Das große Ganze geriet aus dem Blick und das böse Erwachen erfolgte im Konflikt mit Gerhard Kosel, der als Staatssekretär im Ministerium für Aufbau mit seinem Vorschlag für ein zentrales Regierungsgebäude Henselmann zu verdrängen drohte. Im Konflikt mit Kosel entfaltete Henselmann zwar eine bemerkenswerte Aktivität, jedoch offenbarte er darin auch seine "Unfähigkeit, stadträumlich zu denken und zu planen" (76). Flierl charakterisiert ihn als einen "Häuser-Architekten", der an "singulären Gebäuden und Gebäude-Ensembles" interessiert gewesen wäre, dem es aber nie um die Gestaltung der Stadt als Ganzes gegangen sei (71).
Eisentraut, Architekt und Mitarbeiter Henselmanns in der Experimentalwerkstatt und am Institut für Wohnungsbau der Bauakademie, referiert in "Architektur und Städtebau unter den Bedingungen der Typenprojektierung" über die Praxis der Typenentwicklung und -bauweise in der DDR. Das Unterwerfen der Bauprozesse unter die Montagetechniken und die Herstellungsbedingungen ließ wenig Raum für Gestaltung, wie Eisentraut herausstellt. Eisentrauts Innenperspektive vermag dabei ein lebendiges Bild Henselmanns als anspruchsvollem Leiter zu zeichnen. Dass typisiertes Bauen durchaus individuelle Lösungen hervorbringen konnte, war Eisentraut immer ein Anliegen, wie er etwa in der von ihm selbst entworfenen Schule für körperbehinderte Kinder in Berlin-Marzahn (1976) demonstrierte. Achim Felz charakterisiert Henselmann in "Typenprojektierung und Entwicklung der Wohnungsbauserien" als inspirierenden, aber auch fordernden Lehrer, den er bei seiner Anstellung im VEB Typenprojektierung kennengelernt hatte, den Henselmann seit 1964 leitete. Felz verbindet seine Skizze der Geschichte des vorfabrizierten Bauens in der SBZ/DDR mit Henselmanns Wirken. Dieser arbeite zum Beispiel an einer Verbesserung des Typs P2, für das er ein trapezförmiges Element entwickelte, das er auch an den geschwungenen Wohn-Schlangen am Leninplatz in Berlin (heute Platz der Vereinten Nationen) realisieren konnte.
Horst Siegel schildert die Umstände und Henselmanns Einfluss rund um den Bau des Universitätshochhauses in Leipzig. Beim Wettbewerb gewann Henselmann zwar nur den dritten Preis, doch empfahl Ulbricht den Entwurf aber zur Ausführung. Henselmann konnte so seine Idee, eine Universität in einem Hochhausturm unterzubringen - bei diesem Bautypus mögen US-amerikanische Beispiele der 1920er/30er-Jahre Pate gestanden haben - weiterverfolgen.
Der mit Weitblick verfasste abschließende Aufsatz Paul Sigels öffnet den Horizont der Diskussion. Statt einer auf die Ost-West-Sichtweise fokussierte Betrachtung richtet er den Blick auf den internationalen Kontext sowie die institutionellen wie persönlichen Netzwerke und Verflechtungen, in die Henselmann eingebunden war. Es wäre wünschenswert, diesen Ansatz weiterzuverfolgen und Fragen nach einer 'sozialistischer Architektur' in Europa mit Parallelen und Unterschieden, als auch Fragen nach dem industriellen Bauen oder den Architektenreisen in einem größeren Kontext zu behandeln, um von zu stark einengenden Begrifflichkeiten und Sichtweisen loszukommen.
Anmerkung:
[1] Eine Rezension des Kolloquiums von Markus Wollina findet sich online: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5904.
Elmar Kossel