Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / Max Welch Guerra (Hgg.): Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse (= Edition Gegenstand und Raum), Berlin: Verlag Theater der Zeit 2012, 260 S., ISBN 978-3-943881-13-4, EUR 22,00
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Eva Engelberg-Dočkal / Kerstin Vogel (Hgg.): Sonderfall Weimar? DDR-Architektur in der Klassikerstadt (= Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR; No. 1), Weimar: Bauhaus-Universität 2013, 262 S., ISBN 978-3-86068-485-6, EUR 12,80
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
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Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013
Paul Kaiser / Mathias Lindner / Holger Peter Saupe (Hgg.): Schicht im Schacht. Die Kunstsammlung der Wismut. Eine Bestandsaufnahme, Chemnitz: Neue Chemnitzer Kunsthütte 2013
Christoph Bernhardt: Im Spiegel des Wassers. Eine transnationale Umweltgeschichte des Oberrheins (1800-2000), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Thomas Flierl (Hg.): Der Architekt, die Macht und die Baukunst. Hermann Henselmann in seiner Berliner Zeit 19491995, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2018
Christoph Bernhardt (Hg.): Environmental Problems in European Cities in the 19th and 20th Century. Umweltprobleme in europäischen Städten des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster: Waxmann 2001
Das beschauliche Weimar als "Brutstätte", "Diskursarena" und Widerstandsnest einer kritischen Fachöffentlichkeit von Architekten und Stadtplaner in der DDR? Gar ein expliziter Weimarer Sonderweg in der vom "Diktat der Kranbahn" (Wolfgang Kil) dominierten Architektur der DDR? Es muss etwas in der Forschungslandschaft zur deutsch-deutschen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschehen sein, dass solche Thesen ohne die bis vor wenigen Jahren obligatorische "Siegerpose des Westens" vorgebracht werden. [1] Wenn solche Behauptungen aber, wie in den beiden hier aufgrund inhaltlich-thematischer Nähe gemeinsam zu besprechenden Sammelbänden, mittels umfangreicher Quellenfunde belegt, diskutiert sowie erläutert werden und akkurate Objektstudien die Thesen veranschaulichen, dann kann diese Tendenz hin zur historischen Objektivierung der DDR-Architektur und
-Stadtplanung nur begrüßt werden. Dabei kristallisiert sich die bedeutende Rolle Weimars als wichtige Aufarbeitungsbühne zur DDR heraus, die sich eben nicht nur auf Architektur und Stadtplanung beschränkt, sondern auch der Forschung zur bildenden Kunst zwischen 1945-90 neue Impulse liefert. [2]
Der von Christoph Bernhardt, Thomas Flierl und Max Welch Guerra herausgegebene Tagungsband "Städtebau-Debatten in der DDR" umfasst die Beiträge des 7. Hermann-Henselmann-Kolloquiums zur "Stadt(planungs)geschichte als Gesellschaftsgeschichte. Der verborgene Reformdiskurs in der Städtebaudebatte der DDR". Der Schwerpunkt der 17 Aufsätze liegt auf der Urbanistikforschung, wobei sich die meisten Beiträge mit historischen Fallbeispielen und weniger mit methodisch-theoretischen Fragen beschäftigen. Der Band gliedert sich in drei große Kapitel: "Aufbrüche in Weimar" (19-69), "Institutionelle Strukturen einer kritischen Fachöffentlichkeit in der DDR" (70-161) sowie "Demokratisierung der Stadtentwicklung" (162-251). Da die persönlichen Erfahrungen von Architekten, Stadtplanern und Dozenten der früheren Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (HAB) als Zeitzeugenberichte eine historiografisch problematische Kategorie bilden, will ich mich hier auf die Besprechung der historisch argumentierenden Aufsätze konzentrieren. Gleichwohl seien die Beiträge der damals Beteiligten nachdrücklich zur Lektüre empfohlen, spiegeln sie doch die subjektive Erfahrungsebene wieder, welche nur schwer aus den Quellen rekonstruierbar ist. Gemeinsam ist den zu rezensierenden Aufsätzen, dass sie die "verborgenen Reformdiskurse" im doppelten Sinne freilegen wollen: Einerseits spielten sie sich bereits zu DDR-Zeiten in einem exklusiven Kreis von Architekten und Stadtplanern ab, also verborgen vor weiten Teilen der DDR-Öffentlichkeit; andererseits gerieten diese Diskurse nach der Wiedervereinigung 1989-90 in Vergessenheit und sind nun überlagert von anderen Perspektiven und Deutungsmustern. In diesem archäologischen Anspruch der zweifachen Offenlegung und Analyse der Diskurse liegt das große Verdienst des Bandes, denn er bindet das Generalthema an die jüngste Zeitgeschichte und gleichzeitig an gegenwärtige Debatten um das bauhistorische Erbe der ostdeutschen Nachkriegsära. Deutlich wird gerade hier die Nähe zur Publikation "Sonderfall Weimar?", die sich eben auch mit dem architektonisch-urbanistischen Erbe der DDR und seiner derzeitigen Rezeption beschäftigt.
Zunächst komme ich zum Band über die Reformdiskurse, um dann auf die zweite Publikation einzugehen. Thomas Flierl begründet in seiner Einführung, die en passant einen konzisen Überblick zur aktuellen Forschungslage gibt, dass mit der Berufung auf die Akteursebene, mit der Fokussierung auf Weimar und die lokalen Vorgänge ein wesentlicher methodologischer Grundstein gelegt werden soll. Der Autor sieht - bedingt durch den Generationenwechsel in der wissenschaftlichen community und den vergrößerten zeitlichen Abstand zu den Untersuchungsthemen - eine Abkehr von der Vorstellung der 1990er-Jahre einer anonymen "Architektur ohne Architekten" [3] hin zu einer in breiteren Fachkreisen als deutsch-deutsches Erbe anerkannten "Ostmoderne". Auf die Parallelität dieser Entwicklung in der Forschung zur bildenden Kunst, die im "deutsch-deutschen Bilderstreit" [4] eine oft unsachliche, emotionale Abwertung erfahren hatte und über deren Qualitäten einer "anderen Moderne" (Lothar Lang) gestritten wird, vergisst Flierl leider hinzuweisen. Ihm gelingt es, "drei Diskursebenen heutiger Debatten" (10) zur DDR-Architektur auszumachen: Neben dem "Diskurs der Zeitzeugen" (11) sind es die Diskurse zur "Stadtentwicklungspolitik" (10) und der "historiografische Diskurs" (12). Jene drei Ebenen werden in den Beiträgen in unterschiedlicher Intensität aufgenommen und lösen das von Flierl angemahnte Credo einer "Verknüpfung dieser drei Diskurse" (12) mehr oder weniger stark ein.
Die weiteren Aufsätze thematisieren - von Weimar ausgehend - die von Flierl skizzierten Diskursebenen. Im Kapitel "Aufbrüche in Weimar" umreißt Norbert Korrek die Geschichte der HAB in der Nachkriegszeit von 1945-49 (19-41) und Max Welch Guerra skizziert die stadtplanerischen Reformdebatten, die in den 1970er- / 1980er-Jahren schrittweise aus der Weimarer Hochschulwelt in die DDR-Öffentlichkeit gerieten (42-70). Korrek würdigt in seinem mit vielen Primärquellen versehenen Text die Bedeutung Hermann Henselmanns als ersten Rektor der HAB, der unter schwierigen Umständen versuchte, zwischen den Ideen des Bauhauses und den Ansprüchen von sowjetischer Militärregierung und sich etablierender SED-Macht zu vermitteln. So warb er unter anderem Gustav Hassenpflug, der bei Walter Gropius studiert und bei Ernst May in der Sowjetunion assistiert hatte, als Dozent an. Hassenpflug darf als Begründer einer "wissenschaftlich fundierten Städtebauausbildung" (23) nach dem Krieg gelten und legte somit das Fundament für die späteren Reformdiskurse. Wünschenswert wäre hier jedoch ein kleiner Ausblick zum Werdegang der Schülerschaft von Hassenpflug gewesen, unter welcher sich immerhin so illustre Namen wie der spätere Mainzer Stadtplaner Egon Hartmann befanden. [5] Ob Henselmann wirklich bedingungsloser Gefolgsmann der Bauhaus-Ideen war, wie die Lektüre Korreks suggeriert, kann zumindest nach anderen Forschungsergebnissen zur HAB bezweifelt werden: Sigrid Hofer machte jüngst darauf aufmerksam, dass Henselmann neben ehemaligen Bauhäuslern auch Anhänger der Stuttgarter Schule und der Reformarchitektur berufen hat und somit sein Verhältnis zur klassischen Moderne zumindest als ambivalent bezeichnet werden muss. [6] Das Ende des Bauhaus-Experiments markierte die ab 1949-50 von der SED forcierte "Hochschulpolitik im Sinne der Partei" (35), unter der Henselmann nach Ost-Berlin abberufen wurde und die meisten seiner Kollegen in die BRD gingen. Im Zuge der "Formalismus-Debatte" der frühen 1950er-Jahre wurden die Verbindungen zum als "dekadent-bürgerlich" verstandenen Bauhaus gekappt, um erst zwei Jahrzehnte später reaktiviert zu werden. Es darf zu Korreks Zäsursetzung ergänzt werden, dass sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur die Personalquerelen innerhalb der Dozentenschaft zuspitzten, sondern auch die Auseinandersetzung um das Wandbild von Hermann Kirchberger im Foyer des wiederaufgebauten Weimarer Nationaltheaters im Herbst 1949 eskalierten. [7] Beide Ereignisse läuteten die Umgestaltung der HAB auf dem Höhepunkt der Stalinisierungsperiode ein.
Der zweiten Rezeptionswelle der Bauhaus-Ideale in Weimar widmet sich Welch Guerra und fragt, "inwieweit unter den spezifischen Bedingungen des Herrschaftssystems der DDR sich die wissenschaftlichen Disziplinen ein Mindestmaß an Eigensinn erarbeitet, erkämpft haben" (43). Ohne es zu erwähnen, rekurriert der Autor auf den von Thomas Lindenberger in die Debatte eingebrachten Begriff des "Eigen-Sinns" in der SED-Diktatur. [8] Welch Guerra interessieren besonders die "Aushandlungsmechanismen" zwischen der Hochschulwelt und der SED, welche "unentwegt Konflikte hervorbrachten" (43). Wie Flierl umreißt auch Welch Guerra die Problematik der DDR-Forschung und ihre wechselnden Implikationen (42-45), um sich anschließend der 1969 von Joachim Bach gegründeten Sektion "Städtebau und Gebietsplanung" an der HAB zu widmen. Der Autor bringt wichtige Quellen aus dem Innenleben von Sektion und Hochschule an, um darzulegen, worin die Originalität von Forschung und Lehre bestand, verband sie doch architekturtheoretische, urbanistische, soziologische und naturwissenschaftliche Ansätze miteinander. Den vielleicht bedeutendsten Beitrag bildete jedoch die Einrichtung sogenannter "Kommunaler Praktika" ab 1978 (51-54), ein "vierwöchiger Studienabschnitt am Ende des zweiten Fachsemesters" in unterschiedlichen Städten der DDR zur Untersuchung von Alt- und Neubaugebieten. Der Autor erkennt in den Kommunalen Praktika den entscheidenden Katalysator zur "Herausbildung einer kritischen wissenschaftlichen und fachpolitischen Linie" (53), welche "die tragenden Lehrgebiete [der HAB] zu einer Ablehnung des herrschenden räumlichen Entwicklungsmodells der DDR" bewegte (55). Durch personellen Austausch zwischen der HAB und dem Institut für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie gelangten diese Diskurse bis in die obersten Ebenen der DDR-Hierarchie. Als fassbare Ergebnisse der Reformdiskurse entstanden 1986-89 die "Städtebauprognose", eine kritische Bestandsaufnahme zur DDR-Urbanistik (57-61), das Bauhaus Dessau wurde mit dem Titel "Zentrum für Gestaltung der DDR" 1986 (wieder)eröffnet und Ende 1989 legte der Weimarer Reformflügel die Konzeption für ein "Industrielles Gartenreich" im Gebiet Dessau, Wörlitz und Bitterfeld vor. Zwar wurden die Städtebauprognose und die Gartenreich-Konzeption noch vor der Veröffentlichung durch die SED-Führung kassiert, doch fanden deren Inhalte in der unübersichtlichen Situation der Wendejahre über Fachzirkel hinaus Verbreitung, zum Beispiel in die sich formierenden Bürgerrechtsbewegungen und Umweltschutzinitiativen.
Einen strukturellen Ansatz verfolgt Harald Englers Beitrag zum Institutionengefüge des DDR-Bauwesens (71-104), der somit als Ergänzung zu Welch Guerras gelesen werden kann. Engler stellt eine Typologisierung der "Hauptakteure des Reformkurses" und der "institutionellen Akteure" in "fachlich-inhaltliche Reformer", "staatlich-institutionelle Reformer" und "Vertreter der SED" (73ff.) zur Debatte. In Spiegelung der Ergebnisse von Welch Guerra - der ja gerade in der Distanz der HAB zur Staats- und Parteiführung der SED die Voraussetzung für das Entstehen der Diskurse im akademischen Rahmen sah - begreift Engler die Zentralisierung des Bauwesens und dessen Abhängigkeit vom konservativen Politbüro der SED als entscheidende Faktoren für das "klare Scheitern vor den Herausforderungen einer in die Krise geratenen Gesellschaft" (97), was letztlich auch ein Scheitern der staatlichen Baukunst vor den Individualitätsansprüchen der Bürger bedeutete. Nach der Lektüre von Englers Text wird deutlich, dass Krise und Probleme der DDR-Architektur und -Stadtplanung im System der starren Abhängigkeiten von der SED begründet lagen. Jene "fachlichen Freiräume" und "Grenzen in der Diktatur" konnten somit nur in graduell differenzierter Opposition zur Partei- und Staatsführung erkämpft und besetzt werden. Dies aufnehmend schildert Frank Betker "Zentralismuserfahrungen in der kommunalen Stadtplanung der DDR" und exemplifiziert Englers Thesen auf der Ebene der 15 Bezirke der DDR (105-120). Betker legt dazu die sich überlagernden Beziehungs- und Institutionengeflechte des ostdeutschen Bauwesens dar. Wenn der Autor schreibt, dass die "zentrale politisch-administrative der lokalen Ebene misstraute" (115), gemeint sind hier die Spannungen von Bauakademie und kommunalen Planungsbüros, dann darf gefragt werden, ob diese Konfliktstellung zwischen zentraler und nachgeordneter Stelle nicht eher ein gängiges Motiv von am sowjetischen Modell orientierter Gesellschaften nach dem Leninschen Prinzip des "demokratischen Zentralismus" ist [9], und weniger ein spezifisches Moment der "Städtebaugeschichte der DDR"?
Für eine komplementäre Lektüre zu den oben besprochenen Reformdiskursen der DDR-Architekten und -Stadtplaner in Weimar bietet sich die aus einem studentischen Projektseminar der Bauhaus-Universität hervorgegangene Publikation zum baukulturellen Erbe der DDR in Weimar in außergewöhnlicher Weise an. Ob sich der Einfluss der theoretischen Reformdiskurse an der HAB auch anhand der gebauten Umwelt der Stadt aufzeigen lässt und wie hier die Relation von Theorie und Praxis zu gewichten sei, das ist und bleibt, um vorweg zu greifen, weiterhin eine noch zu lösende Aufgabe der Forschung. Es muss zudem vorausgeschickt werden, dass sich die Herausgeberinnen Eva von Engelberg-Dočkal und Kerstin Vogel bei der Auswahl der Objekte auf die Weimarer Innenstadt begrenzt haben und deswegen weder die Neubausiedlungen am Stadtrand noch die Anlagen der KZ-Gedenkstätte Buchenwald behandelt werden. Diese Beschränkung mag plausibel sein, doch hätte man sich eine Begründung für diesen Schritt gewünscht, denn gerade Buchenwald als Gegenort zum klassisch-humanistischen Weimar, aber auch die seriellen Plattenbauten an der Peripherie gehören zur baukulturellen Hinterlassenschaft der DDR.
In insgesamt 27 Artikeln werden ausgewählte Einzelbauten, Ensembles und Stadträume präsentiert, die innerhalb des Zeitraumes 1945-90 entstanden. Drei Exkurse zur Situation der Innenstadt 1945 (11-17), zur Faltmauer an der Mensa (167-173) sowie zu nicht realisierten Städtebauprojekten in Thüringen (251-259) ergänzen die Baustudien. Dass die "Heterogenität der Beiträge [...] bewusst bestehen blieb" (9) ist zu begrüßen und sorgt für eine abwechslungsreiche Vielfalt der Aufsätze. Diese gliedern sich jeweils in einen indexikalen Eintrag - der Adresse, Datierung, Bauherr, Entwurfsurheber und denkmalpflegerischen Status ausweist -, in einen Text- sowie einen Abbildungsteil. Leider ist die Qualität der in schwarz-weiß gehaltenen Abbildungen mitunter mangelhaft, hier hätten einige Farbfotos nicht geschadet. Außerdem fehlen bedauerlicherweise ein Innenstadtplan Weimars mit den besprochenen Bauten, was die räumliche Orientierung für den Ortsunkundigen erschwert, sowie ein Literaturanhang. Diese formalen Mängel sollen jedoch nicht über den durchweg positiven Eindruck des Werkes hinwegtäuschen, dessen Leitthese der "Sonderrolle Weimars" von den Herausgeberinnen in der Einführung (6-9) damit begründet wird, dass hier kaum typisierte Bauten errichtet worden sind, "sondern meist [...] individuelle, auf den jeweiligen Ort zugeschnittene Entwürfe" (6). Außerdem fehlten in der Innenstadt, was die folgenden Beiträge dann präzisieren, die üblichen Charakteristika der sozialistischen Architektur, unter anderem "Magistralen und Repräsentationsbauten" (6). Stattdessen zeige sich das Selbstverständnis Weimars in der DDR in einer an den Klassizismus der Goethezeit orientierten "Ästhetik des Bescheidenen" (Ulrich Wieler). Sozialistische Höhendominanten wie das Studentenwohnheim am Jakobsplan (125-131) oder monumentale Komplexe, etwa der Universitätscampus Coudraystraße (77-83), blieben seltene Ausnahmen. Konstituierend für die "Sonderrolle" seien auch die HAB mit ihren "internationalen Austausch und Forschungen" und die "Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur" als "kritisches Korrektiv" bei diversen Baumaßnahmen gewesen (7).
Bemerkenswert ist, dass der Band nicht nur den Buchenwald-Platz (35-41), das ehemalige Gauforum (133-139), das Deutsche Nationaltheater (141-149) oder die mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Mensa am Ilmpark (157-165) als prominente Solitäre präsentiert, sondern auch interessante, sonst übersehene Kleinarchitekturen wie einen Zeitungskiosk (117-123) oder einen Imbissstand (225-232) als baukünstlerische Relikte der Forschung vor Augen führt. Nahezu alle Beiträge schließen mit einer Würdigung des jeweiligen Baues und einem Plädoyer für deren Aufnahme in die Denkmalliste. Die organische Einbindung der Neu- und Umbauten in den historischen Bestand der Altstadt, was mitunter zur zeitgenössischen Interpretation, mindestens aber zur Auseinandersetzung mit barocker oder klassizistischer Stadtbaukunst führte, wird in den zahlreichen Ensemblelösungen deutlich. Schon ab den späten 1950er-Jahren, vermehrt aber seit den 1970ern strebte man in Weimar nach einer harmonischen Verbindung von Alt und Neu (Eisfeld, 59-67; Marktstraße, 85-91), es kam zur Übernahme einzelner historischer Bauformen und -motive (Jägerhäuser, 93-99; Amalienstraße, 185-191) und mitunter zur kritischen Rekonstruktion des zerstörten Baubestandes (Stadthaus, 101-107; Markt-Nordseite, 241-249). Immer wieder scheinen in den Texten kurze Querverweise zu größeren, über Weimar hinausgehenden und noch zu vertiefenden Zusammenhängen auf: So lieferte Franco Stella, heute Architekt des Neubaus des Berliner Schlosses, bereits 1984 im Rahmen des "4. Internationalen Entwurfsseminars" einen Vorschlag zur Neubebauung der Nordseite des Marktplatzes, der jeglichen Rahmen der gewachsenen Baustruktur und -gestalt gesprengt hätte. Durchsetzen konnte sich schließlich ein historisierender Entwurf in Plattenbautechnik der HAB (243-249). Hervorheben möchte ich schließlich noch zwei Projekte, die meines Erachtens symptomatisch für die im Band herausgearbeitete "Sonderrolle" und Folgeforschungen stehen. Zum einen den seltenen Fall eines Neubaus eines Architektenwohnhauses mit Atelier von Jochen Burhenne (193-199) aus den Jahren 1982-85 und zum anderen das Schillermuseum (215-223) als "einzigen Museumsneubau der DDR" von 1984-88. Dass dieses Museum nicht nur aufgrund seiner Architektur und Planungsgeschichte eine besondere Stellung einnimmt, kann auch mit dem Verweis auf die aufwendigen Freiflächengestaltungen der späten 1960er-Jahre im Umkreis des Museums (Fußgängerzone Schillerstraße, 109-115) und die Aufstellung einer Skulptur von Wieland Förster zu Ehren des Dichters im Innenhof des Schillerhauses belegt werden. [10] Hier ansetzend wäre künftig zu fragen, ob es in der DDR weitere Vergleichsbeispiele für die Bauaufgabe des Künstlerhauses gab? Warum errichtete sich die DDR als selbsternannte "Erbin der fortschrittlichen deutschen Traditionen" nur einen einzigen Museumsneubau? Welche Grundsätze der Innenraum- und Außenflächengestaltung prägten die einzelnen Epochen der DDR-Baukunst? Und schließlich: Wie sah das Verhältnis von wandgebundener Kunst, Architektur und Plastik über die Zeitspanne der DDR-Existenz aus und welchen Veränderungen unterlag es?
Mit den vorliegenden Bänden zu den Reformdiskursen des DDR-Städtebaus und zum baukulturellen Erbe der DDR in der Weimarer Innenstadt sind wichtige Grundsteine für zukünftige Forschungen auf diesen eng miteinander verzahnten Gebieten gelegt worden. Es ist zu hoffen, dass solch systematische Untersuchungen der zunehmend als "Wunden im Stadtbild" empfundenen DDR-Architektur (Martin Sabrow) auch für andere Städte Ostdeutschlands in Angriff genommen werden, bevor diese der Zerstörung anheimfallen. Wie essentiell hierfür die kritisch-sachliche, mehr am Material und weniger am Dogma orientierte Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau der DDR sind, kann als entscheidende Erkenntnis aus der gemeinsamen Lektüre beider Werke festgehalten werden.
Anmerkungen:
[1] Axel Schildt / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik - 1945 bis zur Gegenwart (= Schriftenreihe; Bd. 1011), Bonn 2009, 547.
[2] Vgl. Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR - neu gesehen, Ausst.-Kat., Neues Museum Weimar, 2012, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg / Wolfgang Holler / Paul Kaiser, Köln 2012.
[3] Arch+, 103 (1990), Nr. 4.
[4] Vgl. Eduard Beaucamp: Der deutsch-deutsche Kunststreit - 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, in: 60 / 40 / 20 - Kunst in Leipzig seit 1949, Ausst.-Kat., Leipzig, 2009, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg / Hans-Werner Schmidt, Leipzig 2009, 256-263.
[5] Vgl. Rainer Metzendorf: Egon Hartmann und das neue Mainz, in: Mainzer Zeitschrift (2011 / 2012), Nr. 106 / 107, 309-326.
[6] Sigrid Hofer: Ein sozialistisches Bauhaus? Die Staatliche Hochschule für Baukunst und bildende Kunst in Weimar zwischen 1946 und 1951 als Laboratorium der Moderne, in: Abschied von Ikarus, Köln 2012, 89-97, 91.
[7] Vgl. Hofer 2012, 95ff.
[8] Vgl. Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (= Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen der DDR-Geschichte, Bd. 1 / = Zeithistorische Studien; Bd. 12), Köln / Weimar / Wien 1999, 13-44.
[9] Vgl. Andreas Malycha / Peter Jochen Winters: Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei (= Schriftenreihe; Bd. 1010), Bonn 2009, 53-60.
[10] Wieland Förster: Hommage à Schiller, 1987, Bronze, 230 x 41 x 44 cm, Anfertigung für das neue Schillermuseum, Inv.-Nr. B III 310. Vgl. Fritz Jacobi (Hg.): Nationalgalerie Berlin - Kunst in der DDR. Katalog der Gemälde und Skulpturen, Berlin / Leipzig 2003, 74.
Oliver Sukrow