Renko Geffarth / Markus Meumann / Holger Zaunstöck (Hgg.): Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2018, 334 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-95462-989-3, EUR 50,00
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Holger Zaunstöck: Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 2010
Ohne Zweifel war Halle mit seiner 1694 gegründeten Universität, der Academia Fridericiana, das Zentrum der Kontroversen um 'die' frühe Aufklärung in Deutschland. Davon geht nach zahlreichen Vorgängern auch dieser Band aus, der die um weitere Beiträge vermehrten Vorträge eines 2012 veranstalteten Hallenser Festkolloquiums anlässlich des 65. Geburtstages von Monika Neugebauer-Wölk versammelt. Diese hatte bereits ihrem ersten Vortrag, den sie im Jahr des 300-jährigen Universitätsjubiläums hielt, den Titel Der Kampf um die Aufklärung gegeben, und auszugehen war dabei selbstverständlich von der Tatsache, dass Halle ebenso und von Anfang an das Zentrum des frühen Pietismus in seiner institutionalisierten und durchaus auch aggressiven Form war - also nicht nur Christian Thomasius, Nikolaus Hieronymus Gundling und Christian Wolff, sondern mindestens ebenso August Hermann Francke, Joachim Justus Breithaupt und Paul Anton, Joachim Lange und Johann Salomo Semler, und dies ganz abgesehen von den noch viel härteren Gegnern in den Reihen der lutherischen Dogmatiker wie Albrecht Christian Rotth und dem überregional wirksamen Valentin Ernst Löscher in Dresden wie schließlich auch von den Interessen der Reformierten sowie den politischen Ansprüchen der Stadt und der Kultur- und Universitätspolitik des brandenburgischen Regiments in Berlin.
Alles das und sehr viel mehr ist bekannt und wurde von jeher über Jahrzehnte erforscht und in vielen Publikationen ausgebreitet. [1] Man kann also auf einer soliden Basis aufbauen, andererseits sucht man sich mit diesem Band, besonders angestrengt in der Einleitung der Herausgeber und deren eigenen Beiträgen, aber auch durch die Themenauswahl, davon zu lösen und 'neue' Wege einzuschlagen. Worin dieses Neue konkret besteht, ist deshalb eines der Hauptkriterien bei der Beurteilung dieses Unternehmens. Entscheidend sei, wie es mit Vokabeln heißt, die man heute die Spatzen von allen Dächern pfeifen hört: die 'Vielfalt' unterschiedlicher Positionen in Halle zur Geltung zu bringen, ihre 'Diversifizierung' und 'Pluralisierung' (20), 'Diskurse' und 'Diskursivierung' sind allenthalben am Werk, und statt eines festumrissenen Programms sei auch die Aufklärung "als eine hybride, diskursabhängige Form der Wissensproduktion" zu sehen (24). Entsprechend auch der Aufbau des Bandes in 4 Hauptteilen, deren Beiträge also den Kampf um die Aufklärung aus der so überaus geschätzten 'Vielfalt' (oder nicht doch eher Beliebigkeit?) der "Perspektiven" neu in den Blick nehmen sollen: (1) "Konstellationen und Strukturen" mit einem 2011 bereits publizierten Beitrag des Mitherausgebers Holger Zaunstöck über die maßgeblichen "Interaktionsräume des Öffentlichen" in Halle um 1700, mit einer Untersuchung der weiteren Mitherausgeber Renko Geffarth und Markus Meumann, der deutschen Fassung eines bereits auf Englisch publizierten Textes (Paris 2014), über die "esoterische Topographie der Stadt", ihre "sozial konstituierten Räume", in denen Gegenstände der esoterischen Tradition (Kabbala, Rosenkreuzer, Magie, Alchemie, Freimaurer-Logen) "verhandelt" wurden (21), sowie mit weiteren Aufsätzen, u.a. von Katrin Moeller über Aufklärung und Ökonomie, besonders Christian Wolffs Reflexionen über Arbeit und Beruf als Aufgaben menschlicher Rationalität. Den übrigen Hauptteilen: (2) "Konflikte und Konkurrenzen", (3) "Wissen und Erkenntnis" und (4) "Große Denker", sind weitere 12 Beiträge zugeordnet, von Autoren und Autorinnen größtenteils aus Halle, die alle näher herangehen an die Einrichtungen und Vorgänge in Halle und deshalb manche neuen Aspekte in den Blick nehmen - aber soll etwa schon darin die 'neue' Sicht auf den Kampf um die Aufklärung bestehen? Aus solcher Nahsicht also berichtet Andrea Thiele von einem Schulprojekt des gelehrten Postmeisters Friedrich Madeweis, einem wenig bekannten, weil noch vor der Eröffnung gescheiterten Konkurrenzunternehmen zu Franckes Waisenhaus. Markus Meumann untersucht die Kontroversen zwischen Thomasius und dem Mediziner Friedrich Hoffmann um Zauberei und Hexenprozesse. In einem etwas erratisch formulierten Beitrag handelt Shirley Brückner von der "Providentia Dei im Zettelkasten", der langen Tradition der pietistischen Praktiken des 'Bibelloses', d.h. des zufälligen Auffindens einer Bibelstelle (durch 'Däumeln' oder Ziehen eines Kärtchens o.ä.), das dann als Orakel gedeutet wurde, während Marcus Conrad viele Details über die berühmten Halleschen Verlage Gebauer und Hemmerde & Schwetschke in ihren Verbindungen mit der Universität zu berichten weiß. Neben Meumann beschäftigen sich drei weitere Studien mit der Zentralfigur Christian Thomasius. Riccarda Suitner stellt mit der Pneumatologia occulta von Christoph Andreas Büttner (1734) eine Verteidigung des Teufels gegen Balthasar Bekker, Hobbes und Spinoza vor und betont das Interesse auch des Jahrhunderts der Aufklärung an sog. grimoires (dämonologischen Formelbüchern). Dabei ist es unverständlich, dass Suitner mit keinem Wort auf Gabriel Naudés Apologie von 1625 eingeht, die auch noch Thomasius inspiriert hat und in der mit einem anderen intellektuellen Anspruch mit der Magie und ihren Verteidigern umgegangen wird, als wir das noch 100 Jahre später aus deutschen Debatten kennen. [2] Matthias Hambrock und Martin Kühnel, beide Mitherausgeber des in der Forschung lange vermissten Thomasischen Briefwechsels [3], verfolgen erstmals und mit extensiver Genauigkeit die Zusammenarbeit von Thomasius mit dem gleichaltrigen ehemaligen Pastor Johann Gottfried Zeidler (zwischen 1699 und 1710). Frank Grunert schließlich geht der Entstehung des "Mythos Thomasius" nach, der sich bald nach dessen Lebzeiten zu bilden begann, und behandelt ausführlicher, als man das sonst lesen kann, Ernst Blochs Porträt Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere, das zuerst 1953 separat in Berlin gedruckt wurde. [4] Bemerkenswert ist vor allem, dass Grunert den Titel 'Mythos' nicht, wie üblich, als bloßes Schlagwort benutzt, sondern sich um eine genauere Bestimmung dessen bemüht, was damit jeweils gemeint ist, und dass er zum anderen den kleinen, aber charakteristischen Modifikationen nachgeht, die der Text nach Blochs Leipziger Zwangsemeritierung 1957 und der Übersiedlung in die Bundesrepublik 1961 in der bei Suhrkamp erschienenen Fassung erfahren hat.
Zu den besten Beiträgen zählen: Hanns-Peter Neumann über "Paracelsisches, Hermetisches und Alchemisches bei Christian Wolff", mit dem ungedruckten Briefwechsel der Herzogin von Sachsen-Gotha-Altenburg mit dem sächsischen Minister Graf von Manteuffel und Briefen Wolffs an beide Adressaten als bisher ungenutzter Quelle, Friedemann Stengels Erörterung der "Kampffronten", zwischen denen sich der streitbare Hallenser Theologe Johann Salomo Semler im späteren 18. Jahrhundert bewegte (Stengel behandelt acht an der Zahl); seine Quelle sind in erster Linie Semlers Unterhaltungen mit Herrn Lavater von 1787, in denen es "überhaupt nicht", so Stengel, um Lavater ging, "sodass das Buch eigentlich heißen müsste: Keine Unterhaltungen mit Lavater" (308), sowie vor allem Andreas Pečars exemplarische Studie über "Thomas Abbt und seine Schrift Vom Tode fürs Vaterland". Dieser 1761 während des Siebenjährigen Krieges erschienene Traktat gilt gemeinhin als Stimme eines frühen Patriotismus des preußischen Bürgertums. In seiner präzisen Analyse kann Pečar dagegen zeigen, dass man eine politische Sprache nicht mit dem politischen Programm verwechseln darf, in dessen Dienst sie steht. Im Falle Abbts bedeutet das, dass dessen Anleihen bei der Sprache des bürgerhumanistischen bzw. antiken Republikanismus ein Mittel ist, "die preußische Monarchie [...] gegen Kritik zu immunisieren" (298). Pečar zeigt damit an einem weiteren Beispiel, wie eine kritische Auflösung der "große(n) Meistererzählung der Aufklärung als Ursprungsort der Moderne" (285) aussehen sollte, für die er bereits in einem glänzenden Essay von 2015 das Muster geliefert hat . [5] Dieser Essay hat mit Sicherheit mehr 'Neues' zu einer reflektierten Einschätzung des Kampfes um die Aufklärung zu sagen als die 334 Seiten des vorliegenden Bandes, der überdies ohne Register, ohne Literaturverzeichnis und ohne jede Information über die Autoren gedruckt wurde.
Anmerkungen:
[1] Allein zum zentralen Thema "Aufklärung und Esoterik" liegen drei Bände mit diesem Titel vor, alle hg. von M. Neugebauer-Wölk [u.a.]: Hamburg 1999, Tübingen 2008 und Berlin 2013.
[2] Gabriel Naudé: Apologie pour tous les grands personnages qui ont été faussement soupçonnés de magie, Paris 1625, repr. Farnborough 1972. Vgl. dazu Herbert Jaumann: Wahres Wissen für die République des lettres. Gabriel Naudé als Methodologe der historischen Kritik - zur Apologie pour tous les grands personnages (1625), in: Verteidigung als Angriff. Apologie und 'Vindicatio' als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs, hg. von Michael Multhammer, Berlin / Boston 2015, 75-94; weiterhin Martin Mulsow: Appunti sulla fortuna di Gabriel Naudé nella Germania del primo illuminismo, in: Studi filosofici XIV-XV (1991-92), 145-156.
[3] Davon ist bis jetzt erschienen: Christian Thomasius: Briefwechsel, Band 1: 1679-1692. Historisch-kritische Edition, hg. von Frank Grunert / Matthias Hambrock / Martin Kühnel, Berlin / Boston 2017. Bd. 2: 1693-1698 ist für Juli 2020 angekündigt, geplant sind 4 Bde. und 1 Supplementband.
[4] Ernst Bloch: Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere (= Schriften an die deutsche Nation), Berlin/DDR 1953 . Dann in Ders.: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a.M. 1961 (Werkausgabe, Bd. 6), Anhang, 315-356, und schließlich erneut separat in Bd. 193 der edition suhrkamp (1967), und zu letzterem die Rez. von Jörg Drews: Männliche Glückspredigt. Ernst Bloch und sein geistiger Ahnherr Thomasius, in: Die Zeit 10 (1967).
[5] Andreas Pečar / Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M. 2015.
Herbert Jaumann