Jörg Rogge / Markus Meumann (Hgg.): Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit; Bd. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 416 S., ISBN 978-3-8258-6346-3, EUR 40,90
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Der Sammelband einer fünf Jahre zurückliegenden Tagung erschließt mit der Betrachtung von Theorie und Praxis spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Besetzungen wissenschaftliches Neuland. Es gilt, sich von einer Wahrnehmung zu lösen, die durch spätere Erfahrungen und Vorstellungen geprägt ist: Was rückblickend zur "Fremdherrschaft" wurde, konnte für die Zeitgenossen legitim sein. Deutlich arbeitet dies Catherine Denys für die niederländische Besetzung von Lille 1708-1713 heraus: Einer nationalen Historiographie des 19. Jahrhunderts war es unverständlich, dass der Magistrat von Lille im Jahrhundert zuvor die französische Verteidigung unterstützt und zugleich mit den Belagerern verhandelt hatte, um die Belagerung und eine eventuelle Kapitulation möglichst glimpflich zu gestalten. Für die erst 1667 - ebenfalls durch Eroberung - an Frankreich gefallene Stadt aber war das ein ganz normales Vorgehen gewesen in einem Raum dichter Interessenüberschneidungen und wechselnder Herrschaften.
Die 13 deutschen und drei französischen Beiträge mit jeweils englischem Resümee zeigen, dass militärische Besetzung so unterschiedliche Erscheinungsformen hat, dass es kaum möglich scheint, diese in einer gemeinsamen Definition zu erfassen. Zudem erschließen die Beiträge zeitlich und geographisch größere Räume, als der Titel des Bandes vermuten lässt: Ernst-Dieter Hehl beleuchtet Eroberung im Denken des hohen Mittelalters, mit Rückgriffen auch auf Theorie und Praxis des frühen Mittelalters. Im innerchristlichen Kontext bedeutete Herrschaftswechsel keinen Strukturwechsel. Hehl wirft zudem einen Blick auf das Verständnis von Eroberung beim Aufeinandertreffen von Christentum und Islam. Stephan Hucks Darstellung der Braunschweiger Garnison in Kanada 1776-1783 entfernt sich geographisch am weitesten von Europa, doch bewegte sich dieses Ereignis auf dem Boden des europäischen Völkerrechts und im Kontext europäischer Mächte. Jenseits dieser gemeinsamen Basis untersucht Jürgen Paul die mongolische Eroberung Bucharas 1220, in dessen anschließender Besetzung sich eine neue regionale Herrschaftsbildung formierte. Bemerkenswert ist aber in Parallele zu Europa auch hier eine Kontinuität von Strukturen und Funktionsträgern.
Okkupation besitzt jedoch insgesamt großen Facettenreichtum: Sie kann gegnerische Eroberung sein, wobei, wie Jörg Rogge in der Zusammenschau von Theorie und Praxis des späten Mittelalters darlegt, die Ressourcen nicht ausreichten für eine dauernde Präsenz fremder Herrschaft. Auch Herrschaftsübernahme bedeutete keine Integration in ein anderes Territorium, ausgenommen den Sonderfall der Ausdehnung territorialer Herrschaft auf Städte. Zeichen und Symbole spielten deshalb bei Besetzung und Herrschaft eine zentrale Rolle. Die Besetzten akzeptierten eine Besetzung als Aneignung im gerechten Krieg. Widerstand regte sich erst bei verstärktem Druck, wie Martin Kintzinger für Frankreich im Hundertjährigen Krieg, Markus Meumann für die schwedische Herrschaft in Mitteldeutschland 1631-1635 und Lucien Bély für die französischen Besetzung der österreichischen Niederlande 1744-1748 zeigen.
Okkupation kann auch die Eroberung von innen heraus sein, durch einen Territorialherrn, einen Stadttyrannen oder eine Bürgerkriegspartei. Hier geschah die Besetzung vor allem mit Symbolen: Stephan Selzer analysiert die unterschiedliche architektonische Umsetzung der Durchsetzung reichsstädtischer respektive landesfürstlicher Rechte - woraus sich erst die Symbolkraft ihrer Zerstörung wie noch beim Sturm auf die Bastille erklärt. Insofern ist es eine Ironie der Geschichte, wenn Berlins Bürger den Wiederaufbau des Stadtschlosses fordern, dessen Errichtung im 15. Jahrhundert zum Ausdruck brachte, dass die Stadt ihre Freiheiten und ihre Selbständigkeit an den brandenburgischen Territorialherrn verloren hatte. Blutig war die Symbolik der Besetzung in den von Denis Crouzet analysierten französischen Religionskriegen des 16. Jahrhunderts. Es waren Bewohner einer Stadt, die einander zu besetzen suchten, so dass die Eroberung des Raumes ein Krieg um Zeichen und Symbole wurde. Besetzt und vernichtet werden sollten von hugenottischer Seite die Vergangenheit und die Erinnerung, während vor allem die katholische Seite auch die Leiche des Gegners zum Ort der Besetzung machte und ihn symbolisch "entmenschlichte". Ludolf Pelizaeus hält dagegen fest, dass symbolische Grausamkeit in vielen Religionskriegen fehlte und dass städtische Besatzungen so unterschiedlich verliefen, dass von einer typischen Besetzung im Religionskrieg oder im städtischen Raum nicht gesprochen werden kann. Es gibt offensichtlich diverse, noch zu erarbeitende Faktoren, welche zum Verlauf einer Besatzung beitrugen.
Okkupation kann schließlich sogar vereinbart sein, also fremde Besatzung mit Zustimmung oder auf Wunsch des Herrschers, wie Michael Kaiser am Beispiel der generalstaatischen Besatzungen in brandenburgischen Festungen am Niederrhein im 17. Jahrhundert zeigt. In diesem konsensuellen Fall wurde die Besetzung von den Besetzten positiv aufgenommen und drohte zeitweilig die Herrschaft Brandenburgs zu überlagern. Für den Kurfürsten überwog dennoch der positive, herrschaftssichernde Aspekt. Die Okkupation in Übereinstimmung war im übrigen gar nicht ungewöhnlich, denn die ins Mittelalter zurückreichenden Formen von Schutzherrschaft konnten bis zur Fremdbesetzung von Reichsterritorium mit Billigung von Reichsfürsten reichen wie 1552 in Metz, Toul und Verdun. Leider bleibt diese einem staatlichen Denken fremde, aber in der Frühen Neuzeit präsente - und für die französische Protektionspolitik gut erschlossene - Form von Besetzung, im vorliegenden Band unerwähnt. Den gleichsam umgekehrten Verlauf arbeitet Paul Baks auf: Die sächsische Einnahme Frieslands 1498 wurde von Teilen der Besetzten negativ aufgenommen, und der offene Widerstand bewog Sachsen schließlich zur Umstrukturierung des Landes und zur Schaffung einer einheitlichen Verwaltung. Gerade diese Abkehr von der eigentlich üblichen Wahrung lokaler Traditionen wurde langfristig als wichtiger Schritt zur Modernisierung gewürdigt, eine Würdigung freilich, die, wie Baks betont, in Friesland selbst bis heute umstritten ist.
Zum 18. Jahrhundert hin scheint sich eine einheitlichere Form der Okkupation herausgebildet zu haben, welche Horst Carl beschreibt: die ursprünglich europäische, moderne militärische Okkupation. Helmut Stubbe-da Luz entwickelt am Beispiel der Napoleonischen Besatzungsherrschaft in Norddeutschland Okkupationsmodelle. Auch wenn diese aus einer Epoche heraus entworfen werden, die einen entwickelten Begriff von Besatzung hatte, und deshalb rückwirkend nur begrenzt anwendbar sind, erfüllt Stubbe-da Luz ein erkennbares Bedürfnis, kategorisierende Kriterien in die Diskussion einzuführen. Eine Schlüsselfunktion kommt vor dem Hintergrund einer Begriffsklärung vor allem dem Beitrag von Heinhard Steiger zu, der sich mit dem Okkupationsbegriff der (christlichen) Völkerrechtsliteratur zwischen Spätmittelalter und 18. Jahrhundert befasst. Hier wird deutlich, dass der Eindruck einer Vielfalt der Erscheinungsweisen von Besatzung bis ins 17. Jahrhundert hinein und einer Vereinheitlichung im 18. Jahrhundert konform geht mit der zeitgenössischen Theorie: Im 16. Jahrhundert wurde unter Besatzungsrecht ein Recht des Landesherrn verstanden; für feindliche Besetzungen existierten verschiedene Begriffe. Erst mit Hugo Grotius und seinen Nachfolgern erfolgte eine begriffliche Klärung der "occupatio bellica", die ein durch den Krieg erfolgender, rechtlicher Herrschaftserwerb ist, nicht eine Beschränkungen unterliegende Besetzung. Hier wird nochmals deutlich, dass sich die historische und die moderne Vorstellung von Besetzung nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie wesentlich unterscheiden.
In dieser klaren Herausarbeitung liegt das besondere Verdienst des Bandes, nach dessen Lektüre man ausreichend gewarnt sein sollte, historische Besetzungen durch die Brille anachronistischer Vorstellungen und Rechtsbegriffe zu betrachten. Zudem bestätigen verschiedene Artikel die für andere Bereiche bereits gut erforschte Bedeutung symbolischer Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Vor diesem Hintergrund bleibt zu wünschen, dass das Thema Besetzung weitere Aufarbeitung erfährt, von der aufschlussreiche Rückschlüsse nicht nur auf den Gegenstand selbst, sondern auf die ganze Epoche zu erwarten sind.
Angesichts des soliden Inhalts ist es bedauerlich, dass der Verlag bei der Produktion des Bandes wenig Sorgfalt hat walten lassen: Der Text steht durchweg in Blocksatz ohne Silbentrennung, verschiedene auffällige Fehler im Satz bzw. im Layout kommen hinzu (244, 328 f., 340 Anm. 15, 390 f.). Im Beitrag von Paul Baks sind Abbildungsunterschriften abgedruckt, die Abbildungen selbst jedoch fehlen (166).
Anuschka Tischer