Siegrid Westphal / Stefanie Freyer (Hgg.): Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 27), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, 280 S., 20 Farbabb., ISBN 978-3-11-062186-0, EUR 59,95
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Die frühneuzeitliche Diplomatiegeschichte erfreut sich seit ihrer Erneuerung andauernder Beliebtheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie für immer neue Themen und Methoden anschlussfähig ist. Nachdem in jüngster Zeit die Wissensgeschichte mehrfach gewinnbringend mit frühneuzeitlicher Diplomatiegeschichte verknüpft wurde, legen Stefanie Freyer und Siegrid Westphal nun einen Sammelband vor, der "Wissen und Strategien" als "zwei komplexe Themenfelder" verbinden soll, "die beide eine handlungsleitende Dimension besitzen und in der Diplomatiegeschichte eng ineinandergreifen" (XII-XIII). Dies geschieht mit fünf Beiträgen, die dem Thema "Wissen" und fünf weiteren, die "Strategien" zugeordnet sind. Viele tragen zu beiden Themenfeldern bei. Das zeitliche Spektrum reicht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, regionale Schwerpunkte liegen vor allem auf dem Heiligen Römischen Reich und Großbritannien.
Wissen spielte in der frühneuzeitlichen Diplomatie in verschiedener Hinsicht eine Rolle: Diplomaten mussten Wissen erwerben, das ihnen nicht professionell vermittelt oder zur Verfügung gestellt wurde, und sie produzierten Wissen. Wissen war sowohl eine Ware als auch soziales Kapital. Noch ist zu wenig bekannt, welches Wissen Diplomaten mitbrachten, welches sie erst für ihre Tätigkeit erwarben und wie sie mit Wissen umgingen. Zu diesen Aspekten tragen die Fallstudien des Bandes bei. Methodisch innovativ ist besonders Anna Lingnaus Analyse eines Berichts des kurbrandenburgischen Gesandten Friedrich Rudolf von Canitz von 1685 über einen Konflikt in Hamburg. Sie untersucht die "politische Sprache als Träger politischen Wissens". Dafür kategorisiert sie das verwendete Vokabular und verknüpft es mit dem Wissen, das Canitz mit seiner Bibliothek zur Verfügung stand, über die Lingnau ihre Dissertation verfasst hat. Sie eröffnet damit nicht nur eine Methode, sich dem Wissen von Diplomaten durch Sprachanalyse zu nähern, sondern ihr Beitrag verweist grundsätzlich auf die zentrale Bedeutung der Sprache: Wissen bedeutete für den frühneuzeitlichen Diplomaten, die richtigen Worte zu finden, und diese Worte gilt es wiederzufinden respektive zu entschlüsseln. Wissen war Bildung und zwar nicht im Sinne einer professionellen diplomatischen Ausbildung, sondern einer adeligen oder gelehrten Erziehung. Das wird auch bei Winfried Siebers deutlich, der anhand Ehrenfried Walter von Tschirnhaus' 1727 postum publizierter und schon zuvor intensiv genutzter Schrift "Getreuer Hofmeister auf Academien und Reisen" herausarbeitet, inwieweit die zahlreichen Wissensfelder einer Kavalierstour denen diplomatischer Anforderungen entsprachen.
Diplomaten bedurften eines Zugangs zu spezifischem Wissen, aber sie vermittelten solche Zugänge auch. Julian zur Lage untersucht, wie der schottische Historiker William Robertson in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch ein Netzwerk, zu dem auch Diplomaten gehörten, Manuskripte, Drucke und Fachwissen erhielt. Die Bedeutung lag wesentlich im Akt der Vermittlung selbst, weniger in tatsächlich neuen Informationen: Das vermeintliche Insiderwissen verlieh Robertsons Publikationen Autorität, nicht zuletzt deswegen, weil Spanien die Zugänge zu entsprechendem Wissen restriktiv kontrollierte, was den Anschein der Exklusivität steigerte. Aus gleich zwei Perspektiven wird der englische Gesandte Robert Beale betrachtet: Während David Gehring seinen Bildungshintergrund als den eines europäisch gebildeten und vernetzten Gelehrten nachzeichnet, analysiert Katharina Möhle, wie Beale in seinem 1569 verfassten Bericht über Deutschland vor allem Persönlichkeitsmerkmale betonte und dabei auf ein Bündnis mit dem Kurfürsten von der Pfalz und gegen eines mit dem Kurfürsten von Sachsen hinarbeitete.
Im Kapitel "Wissen" zeigt sich bereits, dass in einer Epoche, in der spezifisches Wissen selbst für politisch-diplomatische Akteurinnen und Akteure nicht ohne weiteres verfügbar war, seine Vermittlung strategisch genutzt werden konnte. Entsprechend ist es auch im Kapitel "Strategien" präsent. Der Extremfall der strategischen Nutzung von Wissen ist die Lüge mit ihren verschiedenen Graubereichen. Der englische Gesandte Stephen Lesieur drohte 1613 Kaiser Matthias I. mit einem internationalen Bündnis, um ihn im Vorfeld des Regensburger Reichstags zum Einlenken gegenüber den Protestanten zu bringen. Er handelte im Sinne seines Auftrags friedenswahrend. Dass ein solches Bündnis nicht zustande kommen würde, musste Lesieur nach den Darlegungen Stefanie Freyers bewusst sein. Sie wägt die Chancen und Risiken des Lügens und Dissimulierens ab, deren Erfolg nicht zuletzt von Faktoren abhing, die der Akteur nicht beeinflussen konnte. Lügen konnten kurzfristig erfolgreich sein, aber ein Verhältnis langfristig belasten.
Im Kapitel "Strategien" werden bemerkenswert viele Akteurinnen und Akteure thematisiert, die sich durch strategisches Handeln erst im diplomatischen Gefüge behaupten mussten: der Militärunternehmer Bernhard von Weimar, der ein Netzwerk aus Klienten aufbaute, für die wie für ihn selbst der Dreißigjährige Krieg die Möglichkeit bot, sich gesellschaftlich und ökonomisch zu verbessern oder politisch zu etablieren (Astrid Ackermann); die "Dritte Partei" des Westfälischen Friedens, eine nicht klar umrissene Gruppe von Reichsständen und Gesandten, die durch spezifische Kommunikationsprozesse auf die großen Kriegsparteien einwirkte, Frieden zu schließen (Volker Arnke); der katholische Geistliche Agostino Steffani (1654-1728), der als Hofkapellmeister in Hannover durch seine Kompetenzen zum Diplomaten in braunschweigischem Dienst wurde und von dort aus weiter Karriere machte (Claudia Kaufold); Wilhelmine von Preußen, die während der Unruhen in der niederländischen Republik 1787 das Heft des Handelns an sich riss und das Eingreifen Preußens zugunsten ihres Mannes, des Erbstatthalters Wilhelm V., erzwang (Pauline Puppel). Insgesamt zeigt sich, dass Diplomatie ein offenes Konzept war: Diplomat war man weniger durch Karriere und Amt als durch Wissen und Handeln.
Der Band bietet viele interessante Einblicke, die sich allerdings nicht recht zu einem gemeinsamen Ganzen fügen. Die Beiträge stehen weitgehend unverbunden nebeneinander. Einige Beiträger bleiben zudem stark auf ihr eigenes Fallbeispiel fokussiert und ordnen es nicht in eine allgemeine Forschungsperspektive ein. So präsentiert David Gehring Robert Beale in seiner Offenheit gegenüber anderen Konfessionen und seiner Verbindung von nationaler und europäischer Perspektive als vermeintlich zeituntypisch und fortschrittlich. Dabei ließe sich Beale gut in die Denkfigur der Gelehrtenrepublik einordnen. Der überkonfessionell und international orientierte Diplomat war in dieser Epoche kein Einzelfall, sondern durchaus ein Typus: Jean Hotman oder Benjamin Aubery du Maurier wären dafür bekannte weitere Beispiele. Im Gesamtkonzept erscheint der Band nicht wirklich schlüssig: Während die Herausgeberinnen im Bereich der Wissensgeschichte die intensiven konzeptionellen Überlegungen der vergangenen Jahre aufgreifen können, lassen einen die "Strategien", die durch die Gliederung erratisch vom "Wissen" getrennt werden, etwas ratlos zurück. Die Herausgeberinnen erläutern weder begrifflich noch methodisch, was sie unter Strategien verstehen, verbinden diese aber in der Einleitung eng mit dem Handlungsbegriff, wenn sie zum Beispiel vom "strategische[n] Handeln diplomatischer Akteure" (VII) oder "Handlungsmustern und Handlungsstrategien in der diplomatischen Praxis" (XVII) reden. Der offenere und in jüngster Zeit methodisch-konzeptionell gut eingeführte Begriff der Praktiken wäre vielleicht angemessener gewesen.
Anuschka Tischer