Jörn Happel: Der Ost-Experte. Gustav Hilger - Diplomat im Zeitalter der Extreme, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 533 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78609-8, EUR 68,00
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Gustav Hilger (1886-1965) zählte zu der nicht ganz kleinen Gruppe der "Ostexperten" seiner Zeit, jener intimen Kenner des alten Russland und später der Sowjetunion. Unter allen anderen zeichnete ihn aus, dass der gebürtige Moskauer nach der Internierung im Ersten Weltkrieg bereits bald nach der Oktoberrevolution, nämlich 1918, wieder und dann nach einer kurzen Unterbrechung von 1920 bis 1941 dauernd in Russland lebte, und zwar stets mit der Bevollmächtigung der Reichsregierung: zunächst als Organisator in der Kriegsgefangenenfrage und ab 1922 nach der Wiedererrichtung der Botschaft als Mitglied dieser Vertretung, zuletzt als Botschaftsrat. An die Botschaft war der studierte Ingenieur geraten, weil er zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort war und weil es nach dem Ersten Weltkrieg eine kurze Phase gab, in der es Quereinsteigern möglich wurde, wegen spezifischer Qualifikationen - im Falle Hilgers der perfekten Zweisprachigkeit und der Vertrautheit mit den Zuständen in Russland - in die Diplomatie zu gelangen. Allerdings schwebte über ihm wie über anderen für längere Zeit stets das Damoklesschwert des Zeitvertrags.
Das Bild Hilgers in der Öffentlichkeit wurde später von seinen Memoiren geprägt, die er unter Mitwirkung eines jungen amerikanischen Historikers gut ein Jahrzehnt vor seinem Tod zunächst auf Englisch, dann auf Deutsch veröffentlichte. [1] Wie Jörn Happel in seiner Baseler Habilitationsschrift zeigen kann, wurden sie allerdings in einer bestimmten Phase seines Lebens und seiner politischen Anschauungen verfasst - doch dazu später.
Happels Schrift ist keine reine Biographie, sondern sie versucht erklärtermaßen, die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Kanzlerzeit Adenauers anhand eines Lebensbildes zu analysieren. Dies ist nicht ganz einfach, und es ist auch nicht an allen Stellen vollständig gelungen: Wo Hilger nicht unmittelbar beteiligt war, z.B. bei den Vorarbeiten zum Vertrag von Rapallo von 1922, erfährt man von dessen Intention und Entstehung ganz wenig. An anderen Stellen wird dagegen die Lebensbeschreibung fast völlig verlassen, und es werden Themen abgearbeitet, die mit Hilger kaum noch etwas zu tun haben. Nicht ganz überzeugend ist auch die Darstellung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur Zeit der Weimarer Republik, für die seitens der Moskauer Botschaft Hilger als Leiter der entsprechenden Abteilung zuständig war: Immer mal wieder finden sich Einzelangaben, aber auf einen resümierenden Zugriff, den Hilger selbst in seinen Memoiren tätigt, wenn er auf die vielfach enttäuschten Erwartungen eingeht (was sich übrigens auch bei zahlreichen anderen Memoirenschreibern unter diesen "Ostexperten" wiederfindet [2]), wird verzichtet. Abgehoben wird dagegen ausführlich auf die verschiedenen krisenartigen Zwischenfälle in der Sowjetunion seit 1924 (Kindermann-Wolscht-Affäre 1924/25; Schachty-Prozess 1928), in denen Hilger Gefahr lief, selbst in die Fänge des sowjetischen Geheimdienstes zu geraten, dessen Aufstieg und umfassende Kontrolle parallel zur Machtstabilisierung Stalins ablief. Dagegen versäumt es Happel hier wiederum, für diese mittlere Phase der Weimarer Republik die eindeutig geänderte Haltung der Zentrale, nämlich Stresemanns und seines Staatssekretärs Schubert hin zu einer Westorientierung der Berliner Außenpolitik, wie sie zuletzt durch die Edition aus dem Schubert-Nachlass noch einmal nachdrücklich vor Augen geführt wurde [3], in Rechnung zu stellen, obwohl dieser Wandel unmittelbar die Politik der Moskauer Botschaft und des Botschafters Brockdorff-Rantzau betraf.
Dies mag daran liegen, dass Happel sich ohnehin für die Jahre der Weimarer Republik ganz wenig mit der Berliner Russland-Politik befasst. Somit kann der Leser gelegentlich den Eindruck bekommen, die deutschen Vertreter in Moskau hätten im luftleeren Raum agiert. Es wäre wohl vorschnell geurteilt, wollte man dies auf mangelnde Kenntnis und Expertise der Berliner Politik und der Zustände im Reich schlechthin zurückführen, obwohl einige Formulierungen dies nahelegen, etwa: "Zwischen dem 11. und 16. Januar 1923 waren das Ruhrgebiet und weite Teile Westdeutschlands vornehmlich von Franzosen, später [!] auch von Engländern und Belgiern besetzt." (108) "Im Deutschen Reich regierte [!] seit Mai 1925 Paul von Hindenburg" (147).
Deutlich präziser und ausführlicher wird Happel, wo es um die Jahre nach 1933 geht. Hilger gelang der Regimewechsel recht problemlos, und es war für ihn im Nachhinein wohl eher ein glücklicher Zufall, dass sein Antrag auf Parteimitgliedschaft abgelehnt wurde - wegen des Verdachts, er sei zu lang und zu eng mit den Bolschewiki zusammen gewesen und daher partiell infiziert. Immerhin traf er bei einer seiner Deutschlandreisen mit Hitler selbst zusammen, der ihn sichtlich beeindruckte; umgekehrt war dies jedoch kaum der Fall: Hilgers Ratschläge für eine Zusammenarbeit mit Stalin setzte Hitler allenfalls taktisch um. Zu der von Hilger als einem der Höhepunkte seiner Laufbahn wahrgenommenen Tätigkeit zählte dann auch seine Teilnahme an den Verhandlungen für den Hitler-Stalin-Pakt, der vermeintlich seinen Vorschlägen gegenüber Hitler nahekam. Aber als Hilger im Frühjahr 1941 erkannte, dass der Krieg gegen die Sowjetunion bereits geplant war, entschloss er sich gemeinsam mit Botschafter Schulenburg dazu, dies sowjetischen Führern zu verraten, wie Happel - entgegen gelegentlichen Zweifeln in der Memoiren- und Forschungsliteratur - aus den Akten eindeutig belegen kann.
Wirksam war dies bekanntlich nicht, und nach der mühsamen Ausreise der Diplomaten infolge der Kriegserklärung wurde Hilger im Auswärtigen Amt als Zuarbeiter für Ribbentrop in Russlandfragen genutzt. Auch hier war er politisch wenig wirkungsvoll: Seine Befürwortung der Zusammenarbeit mit kollaborationsbereiten Russen widersprach zu diametral der NS-Vorstellung vom Vernichtungskrieg, und erst 1944 konnte er - schon in der Agonie des Regimes - davon überzeugen, dass man unter Wlassow eine russische Armee aufbauen solle, die aber bekanntlich keine militärische Bedeutung mehr entwickelte.
Hilger war wendig: Hatte er im Rahmen seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt von den deutschen Kriegsverbrechen und dem Holocaust erfahren und war er in die Deportation italienischer Juden vom Schreibtisch aus involviert, so konnte er diese Jahre seiner Tätigkeit gegenüber den US-Amerikanern, die ihn bei Kriegsende zunächst internierten und dann nach Amerika mitnahmen, wie auch später in seinen Memoiren mit dem Deckmantel des weitgehenden Verschweigens zudecken. Aber für die USA hatte er nun seinen Wert: Er galt als der deutsche Russland-Experte schlechthin; zu diesem Ruf trug bei, dass er in seiner Moskauer Zeit Kontakte zu dortigen US-Diplomaten, darunter dem jungen George Kennan, geknüpft hatte. So wurde er erneut, nun in den USA, als "Ost-Experte" genutzt, eben als kenntnisreicher Berater für US-Geheimdienste und die amerikanische Außenpolitik in der Frühphase des Kalten Krieges. Und entgegen seiner früheren Haltung, die immer auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gesetzt hatte, wurde er nun selbst zum Kalten Krieger, der die Containment- und Roll-Back-Ideen Kennans in der Zielsetzung mittrug, wenn er auch eher auf die psychologische als auf die militärische Kriegführung als erfolgversprechend hinwies. So erfand er sich auch in seinen in diesen Jahren verfassten Memoiren ganz neu: als Freund der Amerikaner, Feind des Nationalsozialismus und Gegner des Bolschewismus, wie Happel gut herausarbeiten kann.
1953/54 wechselte er mit dieser Haltung ins Bonner Auswärtige Amt, wo er für einige wenige Jahr noch einmal tätig war, nun mit der schon in den USA vertretenen Haltung, man müsse der Sowjetunion mit Entschiedenheit entgegentreten. Mit diesem Tenor trug er auch zur Instruktion des ersten deutschen Nachkriegsbotschafters in Moskau (Wilhelm Haas) bei. Offenbar lieferte er noch in seiner Bonner Zeit weiterhin amerikanischen Dienststellen Informationen; wenn Happel dazu etwas ungenau formuliert, mag dies an der von ihm einleitend formulierten Einschränkung liegen, dass ihm auch westliche Geheimdienstarchive (im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Archiven, die er konsultierte) teilweise verschlossen geblieben seien. Als Historiker mag man - je nach Naturell - darüber eher fassungslos sein oder sarkastisch die Selbsteinschätzung der Geheimdienste konstatieren, dass auch heute noch, nach über sechzig Jahren, die Aufdeckung ihrer damaligen Tätigkeit die Sicherheit des eigenen Staates gefährde.
1956 schied Hilger aus dem aktiven Dienst aus. Er wirkte zwar noch durch Vorträge und ähnliches in der Öffentlichkeit, aber seine Bedeutung für die Politik war aufgezehrt: Die Vertrautheit mit den Zuständen in der Sowjetunion lag nun so lange zurück, und mit dem Tod Stalins und einer neuen Moskauer Führungsschicht hatte sich so vieles gewandelt, dass seine Kenntnisse kaum noch operative Bedeutung haben konnten. Nach Jahren der Demenz verstarb er 1965 in München.
Gut gelungen ist Happel die Darlegung, wie Hilger als in Russland sozialisierter und vor dem Ersten Weltkrieg integrierter Deutscher über lange Jahre hinweg an seiner Heimat und seinem Heimatland hing und daher, selbst unter schwierigen Bedingungen, den Draht zur sowjetischen Führung aufrechtzuerhalten suchte. Erst das Ende des Zweiten Weltkriegs führte ihn zur Überzeugung oder zur taktischen Wendung, wie sie sich im englischen Titel seiner Memoiren findet: "incompatible allies".
Anmerkungen:
[1] Gustav Hilger / Alfred G. Meyer: The Incompatible Allies. A Memoir-History of German-Soviet Relations 1918-1941, New York 1953 [Nachdruck 1971]; überarbeitete deutsche Ausgabe: Gustav Hilger: Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918-1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, Frankfurt a.M. [u.a.] 1955, 21956 [auch Taschenbuchausgabe: Frankfurt a. M. (u.a.) 1964 = Athenäum Paperback].
[2] Vgl. zusammenfassend schon die von Happel nicht berücksichtigte Arbeit von Armin Wagner: Das Bild Sowjetrußlands in den Memoiren deutscher Diplomaten der Weimarer Republik (= Studien zur Weimarer Geschichte; Bd. 2), Münster / Hamburg 1995.
[3] Peter Krüger (Hg.): Carl von Schubert (1882-1947). Sein Beitrag zur internationalen Politik in der Ära der Weimarer Republik. Ausgewählte Dokumente. Mit einer biographischen Einleitung von Martin Kröger (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 73), Berlin 2017; vgl. dazu meine Besprechung: http://www.sehepunkte.de/2018/04/31104.html
Wolfgang Elz