Andrea Wiegeshoff: "Wir müssen alle etwas umlernen". Zur Internationalisierung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland (1945/51-1969), Göttingen: Wallstein 2013, 477 S., ISBN 978-3-8353-1257-9, EUR 42,00
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"Deutsch sein, heißt zahlreich sein - und schweigen", so ein Diktum in Diplomatenkreisen nach der Wiederbegründung des Auswärtigen Amts 1951. Damit schien eine sich mäßigende Außenpolitik, eingebettet in einen multilateralen Rahmen, letztlich den Interessen des Landes langfristig mehr zu dienen als das bisherige brutale Hegemoniestreben des Deutschen Reichs. Andrea Wiegeshoff untersucht in ihrer Studie die Neugründung des Auswärtigen Dienstes und den Anteil der Angehörigen des Auswärtigen Amts an der Etablierung der jungen Demokratie. Wiegeshoff leistet damit einen Beitrag zur New Diplomacy, d. h. Forschungen zur Diplomatiegeschichte, die über klassische, politikgeprägte Untersuchungen hinausgehen. Bisher ist dieser in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen westlichen Staaten immer noch stiefmütterliche Forschungsbereich nur durch wenige Studien vertreten. Wiegeshoff nutzt dabei u.a. mentalitätsgeschichtliche und gruppenbiographische Ansätze, um Diplomatiegeschichte neu zu schreiben.
Für ihre Längsschnittanalyse wählte Wiegeshoff eine Stichprobe von 30 Diplomaten aus, die 1969 zu den Spitzenbeamten zählten. Als Kriterien dienten der Einsatzort in jenem Jahr in der Zentrale sowie an Auslandsvertretungen bei internationalen Organisationen und ausgewählten Botschaften weltweit. Von diesen 30 Personen waren 14 bereits im Alten Amt beschäftigt, 19 hatten einst der NSDAP angehört, zwei sogar der SS. 26 von ihnen wurden in der Weimarer Republik, vier erst in der Zeit des Nationalsozialismus sozialisiert.
Wiegeshoff untersucht Lernprozesse dieser Angehörigen des Auswärtigen Amts nach 1945 und erforscht, inwieweit diese beispielsweise auf Enttäuschung oder Opportunismus gründeten. Zugleich zeichnet sie den Weg dieser Gruppe von Diplomaten aus der Diktatur in die junge Demokratie nach. Wiegeshoff beschreibt zudem den neuen Stil der Bonner Außenpolitik nach 1951, der sich durch Zurückhaltung und Mäßigung sowie einen gesteigerten Willen nach Multilateralität auszeichnete. Dies erschien der Diplomatie als einzig möglicher Weg, um der Bundesrepublik zwar keine Autonomie, wohl aber im Zeitverlauf eine relative Gleichberechtigung auf dem internationalen Parkett zu ermöglichen. Dabei prägte insbesondere die "doppelte Hypothek" (125) aus NS-Vergangenheit und deutscher Teilung den diplomatischen Alltag, deutlich erkennbar etwa im Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel bzw. den arabischen Staaten.
Den wichtigsten Beitrag leistet die Studie durch die Untersuchung von Kontinuitätslinien im Denken und Handeln der zentralen Akteure vor und nach 1945, auch wenn diesem Umstand bedauerlicherweise nicht systematisch nachgegangen wurde. So konnte in vielen Fällen antidemokratisches Denken vor 1945 in modifizierter Form nach 1951 im multilateralen Rahmen fortgeführt werden. Im Zentrum stand dabei neben dem Antikommunismus vor allem die europäische Integration. Hier konnten einige Akteure nahtlos an ihre Vorstellungen eines deutsch dominierten Mitteleuropa oder aber an die wirtschaftlichen Verflechtungen während des Zweiten Weltkrieges anschließen, in deren Rahmen bereits seit Sommer 1940 der Kohle- und Stahlsektor auf dem Gebiet der späteren Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl für die deutsche Kriegsmaschinerie produzieren musste. An dieser Stelle genauer herauszuarbeiten, welche Kontinuitätslinien warum im Auswärtigen Amt bestanden, hätte einen wichtigen Erkenntnisgewinn bedeutet.
Damit wäre auch die präsentierte, allzu glatte Erfolgsgeschichte der westdeutschen Diplomaten auf dem Weg in die Demokratie deutlicher durchbrochen worden. Nun aber erscheint trotz gewisser Einschränkungen und Ambivalenzen das Auswärtige Amt in ausgesprochen positivem Lichte. Seine Angehörigen wirken durch die Niederlage 1945 mehr oder minder wundersam geläutert. Bereits zum Ende der 1950er Jahre, so Wiegeshoff, seien die Diplomaten in der neuen Demokratie angekommen. Die Begründungen hierfür, darunter etwa das Argument, dass die Diplomaten die Grenzen ihrer Macht erkannt und deshalb für den Multilateralismus optiert hätten, überzeugen wenig. Gerade in einem derartigen Fall - und die Zeit nach 1918 belegt dies - wäre ein Rückfall in Nationalismus durchaus naheliegend.
Prinzipiell geht Wiegeshoff von einem statischen Demokratiemodell aus. Letztlich misst sie das Verhalten der Diplomaten an aktuellen Demokratievorstellungen. Um jedoch zu untersuchen, wie der Annäherungsprozess der Angehörigen des Auswärtigen Dienstes an die Demokratie erfolgte, müsste sie bestimmen, in welcher Weise Demokratie in den 1950er und 1960er Jahren in westlichen Industrienationen ausgeprägt war. Wie "demokratisch" waren westliche Demokratien, wie "demokratisch" war Außenpolitik in jener Zeit etwa in Großbritannien, Frankreich oder den USA? Aus diesem Grunde wäre die gewählte Fragestellung nur mittels eines Vergleichs zu beantworten gewesen. So aber werden Formen des Antiamerikanismus oder die Suche nach einem "Dritten Weg" abseits der beiden Supermächte als Belege für undemokratisches Denken gewertet. Dies waren sie in Teilen sicherlich auch. Doch zeigen vergleichbare Phänomene im französischen Auswärtigen Dienst, dass eine derartige Interpretation zu kurz greift.
In ähnlicher Weise gelten in der Studie von Wiegeshoff Bekenntnisse der Diplomaten zu Multilateralismus bzw. zur Westbindung als Belege für ein sich wandelndes Denken im Auswärtigen Amt. Auch hier kann dies selbstverständlich als Anzeichen für eine mentale Öffnung gegenüber dem Westen und ein modifiziertes Verständnis von Außenpolitik gewertet werden. Dennoch bedeuteten etwa die Kritik an Multilateralismus und Westbindung, besonders ausgeprägt in Frankreich, keinesfalls per se, dass es sich hier um undemokratisches Gedankengut handelte. Andererseits wiederum hieß Multilateralismus nach 1951 eventuell nur, dass eine in Teilen relativ klassische deutsch Machtpolitik pragmatisch im Rahmen ihrer Möglichkeiten handelte, um deutsche Interessen effektiv durchzusetzen. Multilateralismus und Westbindung sind deshalb nicht in jedem Fall als demokratisch anzusehen, vor allem wenn diese durch eine deutlich antikommunistische Konnotation auf antidemokratischen Vorläufern fußten.
Insgesamt handelt es sich bei Wiegeshoffs Studie um eine ausführlich recherchierte Untersuchung zur Diplomatiegeschichte. Diese bleibt jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die übliche Erfolgsgeschichte der Demokratie nach 1949 wird nicht umfassend hinterfragt. Ebenso sind die in der Studie belegte Internationalisierung des Auswärtigen Dienstes und die nicht immer konfliktfreie Westbindung und Multilateralisierung der westdeutschen Außenpolitik bereits aus den Akten weitgehend bekannt.
Zudem ist die gezogene Stichprobe deutlich zu klein, um übergreifende Aussagen über Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1945 zu belegen. Es gelingt Wiegeshoff durchaus, mittels eines qualitativen Zugangs mentalitätsgeschichtliche Einblicke zu liefern, doch bleiben die Aussagen der Diplomaten - notwendigerweise quellenbedingt - relativ sporadisch und vielfach zu wenig aussagekräftig. Auch wird nicht reflektiert, wer zum Zeitpunkt der Stichprobe (1969) überhaupt noch aus dem Alten im Neuen Amt verblieben war, wer aus welchen Gründen als Quereinsteiger in den Auswärtigen Dienst aufgenommen wurde, und vor allem warum sich bestimmte Personen 1969 gerade auf einzelnen Botschafterposten befanden - etwa, weil sie nach dem Revirement 1966 aus der Zentrale abgeschoben wurden. Weniger statisch wäre die Untersuchung geblieben, wenn etwa zwei Stichproben, z.B. 1959 und 1969, gezogen worden wären. Eine systematische Studie zum Auswärtigen Dienst vor und nach 1945 bleibt also weiterhin ein Desiderat.
Michael Mayer