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Adrian Hänni / Daniel Rickenbacher / Thomas Schmutz (Hgg.): Über Grenzen hinweg. Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2020, 370 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51110-8, EUR 39,95
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Rezension von:
Thomas Riegler
Wien
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Thomas Riegler: Rezension von: Adrian Hänni / Daniel Rickenbacher / Thomas Schmutz (Hgg.): Über Grenzen hinweg. Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/34036.html


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Adrian Hänni / Daniel Rickenbacher / Thomas Schmutz (Hgg.): Über Grenzen hinweg

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Elf Fallstudien zu transnationaler politischer Gewalt im 20. Jahrhundert umfasst der hier zu besprechende Sammelband, den Adrian Hänni, Daniel Rickenbacher und Thomas Schmutz herausgegeben haben. Die einzelnen Beiträge belegen die Bedeutung grenzüberschreitender Gewalt- durch Vernetzung bewaffneter Gruppen und Organisationen untereinander, aber auch mit externen Akteuren. Auf diese Weise werden, wie Adrian Hänni einleitend ausführt, wechselseitige Nachahmungs- und Lernprozesse initiiert, genauso wie Ressourcenflüsse und dynamisierende Konkurrenzverhältnisse. Die Fallbespiele hierzu bieten eine gute Orientierungshilfe, vor allem weil transnationale Gewalt im deutschsprachigen Raum bislang wenig reflektiert wurde. Darüber hinaus sind die Beiträge quellengestützt und warten mit neuen Erkenntnissen auf. Das betrifft die Geschichte des Terrorismus, aber beispielsweise auch den Hintergrund der ominösen, jüngst auch fiktional in der TV-Serie Babylon Berlin behandelten "Schwarzen Reichswehr".

Eingangs untersucht Florian Grafl transnationale Gewaltgemeinschaften, die in Barcelona vor dem Spanischen Bürgerkrieg aktiv waren. [1] Zwischen 1893 und 1936 lieferten sich anarchistische Aktivisten und Gewerkschafter auf der einen Seite und die Arbeitgeber auf der anderen Seite blutige Auseinandersetzungen, die sich in Anschlägen, Auftragsmorden und organisierter Kriminalität niederschlugen. Ausländische Akteure hatten "einen nicht zu unterschätzenden Anteil" an diesen Gewaltpraktiken. (87)

Akteure latenter und manifester transnationaler Gewalt untersucht Florian Wenninger anhand der Freikorps und paramilitärischen Verbände, die in den Jahren 1919 bis 1922 tätig waren. Über die bekannte Rolle der Freikorps in Grenzkonflikten im Baltikum und in Polen bzw. als antirevolutionäre Kraft hinaus, konstatiert Wenninger bei ihnen im süddeutschen Raum und in Österreich "deutliche Tendenzen zu einem Perpetuum mobile, zu einem expandierenden System, das sich selbst als Kraftquelle und Daseinsberechtigung genügt". (118)

Ibolya Murber verortet die österreichischen Heimwehren in einem Netzwerk, das sich bis in die frühen 1930er Jahre zwischen Italien, Österreich und Ungarn herausbildete. Ermöglicht wurden einerseits illegale Waffenlieferungen und andererseits die Anbahnung eines "revisionistischen Blockes" (133) von Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs, die zudem das gemeinsame Feindbild der "Linken" (136) verband.

Ein "hochmobiles Gewaltunternehmen" stellte laut Martin Göllnitz der Gegenterror durch die "Petergruppe" in Dänemark zwischen 1943 und 1945 dar. Es handelte sich dabei um klandestin operierende deutsche Sonderverbände, die Mordanschläge und Sabotageaktionen begingen und dabei den Anschein erweckten, der dänische Widerstand sei verantwortlich. Bei insgesamt 267 Vorfällen gab es 127 Opfer zu beklagen, die überwiegende Mehrzahl davon waren Zivilisten. Laut Göllnitz setzte ab Ende 1944 ein Radikalisierungsprozess ein, mit dem Effekt, dass "verstärkt aus eigenem Antrieb größere und blutigere Terroranschläge" verübt wurden. (173)

Lucas Federer widmet sich der Tätigkeit von Schweizer Unterstützungsnetzwerken für die Unabhängigkeitsbewegung während des Algerienkrieges (1954-1962). Vor allem in der Westschweiz wurde für die algerische Sache agitiert und logistische sowie finanzielle Hilfe organisiert. Gleichzeitig fand der französische Geheimdienst ebenso "willige Helfer", "um wichtige Informationen zusammenzutragen - immer im Kontext des Schutzes der Schweiz und Europas vor der kommunistischen Bedrohung". (200)

Transnationale Verbindungen unterhielten auch exilkroatische Gruppen, die ab den 1960er Jahren mit zunehmend gewalttätigen Mitteln versuchten, in ihrer Heimat eine revolutionäre Stimmung zu entfachen. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland streicht Matthias Thaden dabei insbesondere die "zunehmende Zirkulation von Personen und Gütern im Zuge der Gastarbeitermigration" hervor, die es den eigentlich kleinen Exilgruppen ermöglicht habe, "mit recht bescheidenen Mitteln und Ressourcen eine verhältnismäßig große Wirkung zu erzielen". (221)

Vor dem Hintergrund einer in der Geschichte der Schweiz einmaligen terroristischen Gewaltwelle 1969/70 wurde die dortige Öffentlichkeit zum Ziel einer Kampagne eines transnationalen Netzwerks. Wie Daniel Rickenbacher darstellt, waren darin neben arabischen Akteuren auch Schweizer Unterstützungsnetzwerke involviert. Dazu zählte neben Vertretern der Neue Linken der rechtsextreme Bankier François Genoud. Erreicht werden sollten die Freilassung dreier palästinensischer Attentäter und eine Veränderung der Schweizer Nahostpolitik. Tatsächlich wurden die Terroristen 1970 infolge einer Geiselnahme freigelassen und 1975 kam es zur Errichtung einer Mission der Palästinensischen Befreiungsorganisation am Genfer UNO-Standort. Auch wenn sich der Einfluss der Kampagne darauf "nicht exakt" messen lasse, habe sich das Meinungsklima zugunsten der Palästinenser verschoben. (253 f.)

Max Gedig stellt fest, dass die Geschichte der "Bewegung 2. Juni" ohne das Einbeziehen transnationaler Einflüsse nicht verstanden werden könne. Gerade in schwierigen Phasen hätten die Mitglieder dieser Gruppe nach Innovationen gesucht, "die sie nach Deutschland transferieren konnten". (277). So ging etwa die Entführung des West-Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz 1975 auf "italienische Vorbilder" zurück. (272) Andererseits zeigte die Tätigkeit des Gruppenmitglieds Norbert Kröcher in Stockholm, dass auch westdeutsche Akteure Einfluss in anderen Ländern nahmen. Konkret ging es um die "Operation Leo", den Plan, die schwedische Immigrationsministerin Anna-Greta Leijon zu entführen. Doch dieses Vorhaben scheiterte 1977, als die Polizei die Zelle zerschlug.

Angesichts der ausgeprägten Vernetzungen der Revolutionären Zellen (RZ) plädiert Robert Wolff für eine Revision der "bisherigen Darstellung". (282) Die oft behauptete finanzielle und logistische Abhängigkeit der RZ sei "quellenbasiert nicht nachweisbar", sondern müsse je nach Einzelfall untersucht werden. (301 f.) Auszugehen sei vielmehr von einer "gleichberechtigten Partnerschaft", die sich in aktiven Hilfsleistungen der "internationalen Revolutionären Zellen" niederschlug (292). Ein pauschaler Befund sei dagegen nicht möglich, da sich die RZ in voneinander autonomen Kleinstgruppen strukturierte.

Vojin Sala Vukadinović widmet sich der Organisation Internationaler Revolutionäre (OIR), die Ende der 1970er Jahre von Ilich Ramirez Sanchez, besser bekannt als "Carlos, der Schakal", gegründet wurde. Die OIR habe sich als "Schaltzentrale" von Berufsrevolutionären imaginiert - habe aber eine solche Funktion nie ausfüllen können, "weil sich der Linksterrorismus nicht verwalten ließ". (326) Allerdings sei die OIR mit "wesentlicher Hilfe" seitens osteuropäischer und arabischer Geheimdienste und infolge von "Carlos'" weitreichenden Kontakten "deutlich" über das hinausgegangen, was der "militaristische Antiimperialismus" bis dato aufgeboten hatte. (309)

Die Aktivitäten der libanesischen Hisbollah zeichnen sich laut Michel Wyss durch ein "globales Portfolio aus illegalen Tätigkeiten" (347) aus; insbesondere Schmuggel und Drogenhandel, der durch Zusammenarbeit mit der Diaspora und einer Reihe anderer krimineller Netzwerke organisiert wird. Immer wieder habe die Hisbollah jüdische und israelische Zivilsten auf mehreren Kontinenten ins Visier genommen. Darüber hinaus würden sich ihre paramilitärischen Aktivitäten "über sämtliche gegenwärtige Kriegsschauplätze im Nahen Osten" erstrecken. (348)

Unter dem Strich handelt es sich bei "Über Grenzen hinweg" um einen wichtigen Forschungsbeitrag, der bislang kaum bekannte Aspekte der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur lesbar aufbereitet, sondern auch ein besseres Verständnis aktueller Phänomene eröffnet.


Anmerkung:

[1] Vgl. dazu: Florian Grafl: Terroristas, Pistoleros, Atracadores. Akteure, Praktiken und Topographien kollektiver Gewalt in Barcelona während der Zwischenkriegszeit 1918-1936, Göttingen 2017; vgl. die sehepunkte-Rezension: http://www.sehepunkte.de/2019/04/31086.html [22.04.2020]

Thomas Riegler