Jens Steffek / Leonie Holthaus (eds.): Prussians, Nazis and Peaceniks. Changing images of Germany in International Relations, Manchester: Manchester University Press 2020, 256 S., ISBN 978-1-5261-3571-1, GBP 80,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Guido Grünewald (Hg.): Alfred Hermann Fried: Organisiert die Welt! Der Friedens-Nobelpreisträger - sein Leben, Werk und bleibende Impulse, Bremen: Donat Verlag 2015
Petra Goedde / Akira Iriye (eds.): International History. A Cultural Approach, London: Bloomsbury 2022
Thomas Mahnken / Joseph Maiolo / David Stevenson (eds.): Arms Races in International Politics. From the Nineteenth to the Twenty-First Century, Oxford: Oxford University Press 2016
Ein merkwürdiger Titel: Preußen und Nationalsozialisten, vulgo Nazis, kommen in dem Buch kaum vor, Peaceniks gar nicht, auch nicht im Sinne von Friedensfreunden oder Pazifisten. Gleich drei Beiträge paraphrasieren den Inhalt der anderen Aufsätze. Im Vorwort schreibt Roland Bleiker (University of Queensland), es handle sich um einen "compelling and highly sophisticated account of the complexities associated with these changing images of Germany in IR [International Relations]," aber er datiert Kennedys Berlinrede zwei Jahre zu früh auf 1961 und hat merkwürdige Vorstellungen, wie sich die beiden deutschen Staaten in anscheinend gleicher Weise die Achtung ihrer Gründungsmächte erwarben. Jens Steffek und Leonie Holthaus (beide Politologen lehren Internationale Beziehungen an der TU Darmstadt) nennen einleitend klarer ihre Ziele, nämlich, die externe Wahrnehmung Deutschlands während des 20. Jahrhunderts zu analysieren und dabei wie in einem Prisma am deutschen Beispiel westliche Konzepte von IR brechen zu lassen.
Es geht also um Bilder, die man sich von Deutschland machte. Wiederholt arbeiten die folgenden zehn Aufsätze heraus, dass Selbstbilder und Fremdbilder differierten, sich im Zeitablauf wandelten und dass dies von Bedeutung war. Das dürfte seit den einschlägigen Studien von Robert Jervis, die dieser seit 1970 vorlegte, kaum mehr strittig sein. Bemerkenswert ist ferner, dass der Band ohne Erläuterung bis auf wenige Randbemerkungen nur die USA und Deutschland in den Blick nimmt - als ob dies der Pivot der Weltgeschichte sei. Blickte man außerhalb der englischsprachigen Welt nicht auf Deutschland? Nur aus der Fußnote zu einem Beitrag entnimmt man, dass es sich hier um die Wiedergabe eines Workshops von 2016 handelt.
Andreas Osiander, als Frühneuzeithistoriker hervorgetreten, handelt deutsche Macht im Schnelldurchgang über tatsächlich 1000 Jahre ab. Er betont, dass Deutschland über weite Strecken als mit dem Reich identisch gesehen wurde. Es scheine zwar ein Problem mit der Macht gehabt zu haben. Doch kein Fürst habe sich jemals angeschickt, dieses Reich zu verlassen. Durch Bismarcks außergewöhnliche Leistungen sei Preußen 1871 führend beim Aufstieg zum neuen Reich gewesen, jedoch nicht als besonders aggressiv angesehen worden. Erst nach dem Ersten Weltkrieg sei eine leyenda nera des deutschen gewaltsamen Sonderwegs aufgekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg (die Zwischenkriegszeit wird ausgespart) hätte sich die Bundesrepublik friedlich verhalten; nur seit 2015 seien Sorgen um eine machtbewusstere deutsche Politik aufgekommen. Perzeption von außen: Deutschland ein Glied im Mächtesystem. Da ist mehr von aktiver Rolle als von passivem Bild die Rede.
Liberale Internationalisten - bekanntlich ein Schulbegriff der IR-Theorie - zumal in Großbritannien konstruierten schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Deutschlandbild, so Leonie Holthaus, in dem sie schließlich die ganze deutsche Philosophie für diesen Sonderweg verantwortlich machten, dies zu einer Zeit, als die Macht des Empire abnahm und die liberale Demokratie innen- und außenpolitisch infrage gestellt wurde. Das versucht immerhin eine sozialpsychologische Erklärung. Lucian M. Ashworth nimmt die deutschen Geopolitiker als Thema, viel untersucht vor allem in Frankreich, was der Verfasser nicht kennt. Die späte Verurteilung Karl Haushofers als angebliches Mastermind der NS-Herrschaftspläne hatte nichts mit der früheren Hochachtung der deutschen Geopolitik im 19. Jahrhundert, vor allem von Friedrich Ratzel, zu tun. Prominent ist hier der Wandel von Isaiah Bowman, über dessen wichtige Rolle in den amtlichen US-Deutschlandplanungen im Zweiten Weltkrieg man leider hier nichts erfährt. In der Zwischenkriegszeit sahen US-Politologen die Weimarer Republik und ihre Verfassung - so Paul Petzschmann - durchaus positiv. Einige Autoren verglichen gern mit dem US-Beispiel: Für sie gab es ein gutes System von checks und balances. Die Stellung des Reichspräsidenten mit den Sondervollmachten, besonders Hindenburg selbst, wurden positiv gesehen. Doch wo ist der IR-Bezug?
Steffek und Tobias Heinze nehmen den wenig bekannten Edwin Borchard in den Blick, einen New Yorker Juristen mit familiärem deutschen Hintergrund. Er machte sich den Kampf gegen Versailles in den USA zum Thema und argumentierte damit ähnlich wie manche Deutschen; ein "Realist" also, bevor der Begriff populär wurde. Geht es hier um inneramerikanische Debatten oder hat das einen Bezug zum "Deutschen"? Chronologisch folgend gibt Annette Weinke einen breiten Überblick über 100 Jahre internationaler Auseinandersetzung mit dem Internationalen Recht, dazu unten mehr. In den IR sieht Felix Rösch eine "silent presence" von Deutschen in den USA, die lange völlig übersehen worden sei. Davon kann aber nach Auffassung des Rezensenten eigentlich seit Jahrzehnten nicht mehr die Rede sein, wenn man Geschichtswissenschaften zur Kenntnis nimmt. Hans Morgenthau, John Herz oder C. J. Friedrich sind in ihrer Rolle in den USA neben manchen anderen schon gründlich analysiert worden und wurden - notabene - auch in der Bundesrepublik rezipiert. Nach Rösch waren diese Emigranten intellektuell ungeheuer erfolgreich, suchten sich aber im fremden Land den dortigen Standards unauffällig anzupassen, so dass sie nicht als Deutsche wahrgenommen wurden.
Brian Etheridge, der mit dem Aufsatz "Deutschtum and Americanism: memory and identity in Cold War America" vertreten ist, hat 2016 ein umfassendes Buch zum Thema US-amerikanischer Erinnerung an Deutschland geschrieben [1]. Diesem Ansatz entsprechend will er sich nicht auf Wissenschaftler konzentrieren, sondern die ganze Breite der kulturellen Produktion in den Blick nehmen. Dazu unterscheidet er drei Phasen von einen cold war consensus, der angeblich von 1945 bis 1959 reichte - sehr zweifelhaft! -, über einen "fracturing" Konsens im folgenden Jahrzehnt. Sodann habe der Konsens im Zeichen von "Berlin" und "Holocaust" von 1969 bis 1999 wieder weitgehend gehalten. Man kann dem Autor nur zustimmen, dass seine beliebig gestreuten Fallbeispiele Teil eines komplexeren Musters waren, über die im Übrigen historisch schon viel gearbeitet worden ist. Der Begriff von Deutschlands Rolle als "Zivilmacht" wurde wissenschaftlich von Hanns W. Maull (Trier) um 1990 geprägt. Ob man das eine "konstruktivistische Theorie" nennen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls führt sein Schüler Siegfried Schieder das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik unter diesem Primat des Zivilen (und damit Nicht-Militärischen) vor, der unter anderem einen kritischen Umgang mit der NS-Zeit beinhaltete. Dieses Selbstverständnis sei von außen weitgehend akzeptiert worden; es komme jedoch in den letzten Jahren durch zunehmende Erwartungen an Deutschlands Sicherheitspolitik durch Europa und anderswo ins Wanken. Wirklich? Im Mai 2020 diskutiert man gerade, ob Deutschland den NATO-Atomschirm verlassen könne, unter dem es die ganzen Jahrzehnte zuvor stand.
Den Abschluss macht Altmeister Richard Ned Lebow, der zusammenfassend über die IR theory und Deutschland schreibt. Neben einigen nicht überraschenden methodischen Bemerkungen macht er sich daran, 21 US-Textbooks zu IR von 1939 bis in die Gegenwart, allen Schulen zugehörig, quantitativ auszuwerten. Von den 23 Autoren seien 16 Amerikaner gewesen. Das Ergebnis: die neun Großmächte kommen am häufigsten vor. Nach Seitenzahlen führen die USA mit 947 Zitationen vor Deutschland mit 920. Großbritannien folgt bereits abgeschlagen mit 773 Zitationen. Mir scheint das ein recht ethnozentrischer Zirkelschluss zu sein; Realgeschichte und Wissenschaftsgeschichte gehen unterschiedslos ineinander über. Lebow unterstreicht selbst die reale Rolle Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fügt dann aber den überragenden intellektuellen Einfluss deutscher IR-Wissenschaftler hinzu. Wie wäre das Ergebnis wohl, wenn man deutsche oder gar französische oder spanische Textbücher untersucht hätte?
Was bleibt aus der Sicht eines Historikers? Inwieweit hier Beiträge zur IR-Theorie gegeben werden, überlasse ich mit Skepsis den Politikwissenschaftlern. Annette Weinke, eine Historikerin, betont in ihrem Beitrag, es mache keinen Sinn, Deutschland und den Westen voneinander insgesamt abzugrenzen. "Focusing on Germany's role as a subject and catalyst of international humanitarian law seems hopelessly anachronistic at a time when 'decentering' European history has become the dominant trend in a growing literary corpus on international, transnational and global history" (123). Ein wenig von einer solchen Überlegung hätte man sich bei der Anlage des Bandes insgesamt gewünscht. Weinke kümmert sich dann um die gemeinsamen diskursiven Anstrengungen und damit Fallstudien, die von der Vorweltkriegszeit (Bryce-Report) über den Zweiten Weltkrieg (Office for Strategic Studies, Morgenthau u.a.) bis in die Gegenwart reichen. Hier hebt sie vor allem die internationale (und nicht etwa bilaterale) Entstehung des Konzepts der Transnational Justice hervor. Dabei zeigt sie, dass Bilder des gewaltsamen Deutschland, eines Sonderweges, für dieses globale Konzept eine wenn auch unterschwellige, aber doch wohl entscheidende Rolle spielten, die an ältere Deutungsmuster anknüpften. Differenzierung gegenüber glatten Narrativen scheinen der Autorin nicht nur bei humanitärem Recht sinnvoll zu sein. Das könnte auch für die politologische Disziplin der IR gelten. Dieser Band enthält einige anregende ideenhistorische Fallstudien, die oft wenig kontextualisiert sind. Die methodischen Anregungen für Beobachtungen zu Eigen- und Fremdbildern im Wandel sind für Historiker zumindest nichts Neues. Und das geht in dem Band von Steffek und Holthaus auch weit über die IR-Intellektuellen hinaus.
Anmerkung:
[1] Brian Etheridge: Enemies to Allies. Cold War Germany and American Memory, Lexington 2016.
Jost Dülffer