Heiner Möllers: Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr, Berlin: Ch. Links Verlag 2019, 366 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-037-7, EUR 25,00
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Heiner Möllers, Wissenschaftler am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam, untersucht die sogenannte Affäre Kießling, die er als "größte[n] Skandal der Bundeswehr" einstuft. Das trifft zu; zugleich aber war die Affäre einer der größten Skandale der westdeutschen Demokratie überhaupt, der in keiner umfassenden Geschichte öffentlicher Skandale fehlen darf. [1] Eine skandalhistorische Kontextualisierung fehlt jedoch bei Möllers - abgesehen von der Fritsch-Affäre des Jahres 1938 (54, 128, 162, 178, 183 f.), die aber gerade nicht zu einem öffentlichen Skandal geworden war. Außerdem hat sich mittlerweile die präzisere Bezeichnung "Wörner-Kießling-Skandal" überwiegend durchgesetzt. Das sieht der Verfasser offenbar genauso (z. B. 14, 113), ohne dass sich dies im Buchtitel niedergeschlagen hätte.
Die Schrift gliedert sich - nach einem Geleitwort des früheren Bundeswehr-Generalinspekteurs Klaus Naumann und einem Vorwort - in sieben Kapitel. Möllers setzt mit dem (scheinbaren) "Triumph" Kießlings (16) durch dessen ehrenvolle Verabschiedung im März 1984 ein. Im zweiten Kapitel wendet er sich dem "Werden einer Affäre" (34) zu, indem er Kießlings Vita ebenso Revue passieren lässt wie den homophoben Umgang der Bundeswehr mit Homosexualität. Sobald dem NATO-General 1983 angelastet wurde, homosexuell zu sein, wurde er zum "Sicherheitsrisiko" erklärt und entlassen. Dabei wurde die zwischen Minister und General zunächst vereinbarte vorzeitige ehrenvolle Verabschiedung, die Kießling ohnehin anstrebte, nachträglich einseitig vorgezogen und demütigend vollzogen.
Das dritte Kapitel zeigt, wie sich die "Affäre" zum "handfesten Skandal" weitete (113). Hatte man die "Affäre" 1983 noch intern zu regeln versucht, wurde dies 1984 nach der Skandalisierung durch die Medien unmöglich. Die Konfliktausweitung geschah nicht nur deshalb, weil die Medien Beweise für die Homosexualitäts-Unterstellung verlangten, die das Ministerium nicht liefern konnte, sondern auch dadurch, dass der entlassene General öffentlich um seine Reputation kämpfte. Aus einem Kießling-Skandal wurde ein Minister-Skandal, vor allem, nachdem Wörner die Fehlentscheidung traf, sich mit fragwürdigen Belastungszeugen - insbesondere dem Schweizer Publizisten Alexander Ziegler - aus der Homosexuellen-"Szene" zu treffen. Es folgten eine Wörner-kritische Medienberichterstattung, heftige Debatten im Bundestag und schließlich ein Untersuchungsausschuss, der massive Ermittlungsfehler des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) zutage förderte.
Das vierte Kapitel schildert die "Nachwehen des Skandals" (246) - von des Ex-Generals massiver "Frustration" (253) über die mangelnde Solidarität seiner Kameraden bis zur nach der Wiedervereinigung offengelegten Spionagetätigkeit von Joachim Krase, dem stellvertretenden MAD-Chef zum Zeitpunkt der Affäre. Kapitel V resümiert die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, der den Skandal, der mit dem Fokus auf Kießling begonnen hatte und dann zu Wörner weitergewandert war, als MAD-Skandal enden ließ - wodurch die Regierungsparteien ihren wankenden Minister aus der Schusslinie zu bringen vermochten. Das sechste Kapitel fragt nach dem seitherigen Umgang der Bundeswehr mit "schwule[n] Soldaten" (311), deren Emanzipation noch lange auf sich warten ließ. Ein knapper "Schluss" versucht eine "Annäherung" an den "Grenzgänger" Kießling - dem trotz seiner Rehabilitierung lebenslangen Opfer des Skandals.
Möllers' Studie basiert auf Quellen des Militärarchivs im Bundesarchiv sowie den im Parlamentsarchiv verwahrten Akten des Untersuchungsausschusses. Hinzu kommt eine Presseausschnittsammlung aus dem Verteidigungsressort, die im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) liegt. Ergänzend werden Memoiren von Beteiligten herangezogen. Möllers' einzige Erwähnung zeithistorischer Gesamtdarstellungen der Bundesrepublik (347, Anm. 280) - wobei er ausgerechnet die ausführlichste Darlegung nicht einbezieht - lässt deutlich werden, in welch irritierend unzureichender Weise der Skandal und dessen homophobe Hintergründe von der Forschung bislang behandelt worden sind. [2]
Wie brisant das Thema Homosexualität bis heute zu sein scheint, lässt die bezeichnend ungenaue Erinnerung von Ex-General Naumann erkennen, man müsse "in dieser Affäre [...] die heute weitgehend vergessenen Umstände sehen: Homosexualität war ein Straftatbestand und ein homosexueller Vorgesetzter in der Bundeswehr war schlicht unvorstellbar" (9). Es verhielt sich 1983/84 etwas anders: Bereits seit 15 Jahren waren damals einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern eben kein Straftatbestand mehr - und dennoch verhielt sich die Bundeswehr so, dass Homosexuelle als Vorgesetzte "schlicht unvorstellbar" blieben. Doch galt auch Letzteres 1984 nicht mehr für die gesamte Politik und Gesellschaft; gerade die kontroverse, gespaltene Reaktion der Öffentlichkeit in ihrer Haltung zu Homosexuellen war eine zentrale Dimension des Skandals. All dies arbeitet Möllers nicht heraus. Doch auch er sieht, dass der Skandal nicht nur die Bundeswehr betraf, sondern dass die Medien "wirkungsvoll" agierten und die Regierung zu Kurskorrekturen nötigten; und er erkennt, dass "der Parlamentarismus in einer selten zu beobachtenden Form" Kraft entfaltete - durch "wirkungsvolle Opposition" (14 f.). Hier wären die "Grünen" als parlamentarische Vertretung auch der organisierten links-alternativen Homosexuellen deutlicher hervorzuheben; zugleich müsste man die Rolle des Kohl-Koalitionspartners FDP stärker würdigen, als dies bei Möllers der Fall ist. [3]
Zu Recht betont Naumann im Geleitwort, dass "erst durch Wörners eklatantesten Fehlgriff, die Einladung eines Schweizer Homosexuellen zur Einvernahme als Belastungszeugen", in der Bundeswehr "eine Welle der Empörung" ausgelöst worden sei (10). Auch Möllers nimmt sich des "schweizerische[n] Rohrkrepierers" an (198), der zum Umschlagspunkt des Skandals wurde, indem - wie eine von Möllers nicht herangezogene Studie der 1980er Jahre zeigt - auch bei konservativen Medien ein Umschwenken zur Wörner-Kritik erfolgte. [4] Bedauerlich erscheint, dass der schillernde Wörner-Gesprächspartner Ziegler zwar in negativen Aspekten gut skizziert wird (198-206), jedoch dessen in den 1970er Jahren bedeutende Rolle als linksliberaler Medien-Heros nicht herausgearbeitet wird. Die einst von Ziegler geleitete Zeitschrift "Du & Ich" wird zwar erwähnt (201, 204), aber in ihrer Relevanz als bedeutendste Homosexuellen-Zeitschrift der Bundesrepublik nicht erkennbar. [5]
Lobenswert hingegen ist, wie Möllers der verschwörungstheoretischen These, Kießling wie Wörner seien einer Intrige der DDR-Staatssicherheit zum Opfer gefallen, mit Sachlichkeit entgegentritt (268-273). Vor einiger Zeit hat der frühere Wörner-Sprecher Reichardt die Stasi-These wiederbelebt, um die Alternativthese kleinzureden, der Skandal sei von US-amerikanischer Seite ausgelöst worden. [6] Naumann stellt zu alledem lapidar fest: "Beweise dafür gibt es nicht." (11)
Die Bedeutung des Wörner-Kießling-Skandals für die westdeutsche Gesellschaft und die in ihr lebenden homosexuellen Menschen thematisiert Möllers nur mit Blick auf die Bundeswehr. Das ist alles andere als umfassend. Dass der Umgang mit Kießling nicht nur einen General und nicht nur homosexuelle Soldaten betraf, sondern das labile Verhältnis einer heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft zu dieser sexuellen Minderheit insgesamt, wird kaum ersichtlich. Dabei entfaltete sich der Skandal zu einem Zeitpunkt, als die Fortschritte der Reformjahre um 1970 durch eine konservative "geistig-moralische Wende" ebenso bedroht schienen wie durch mediale Angst-Kampagnen gegen die vermeintliche Risikogruppe der Homosexuellen in der AIDS-Pandemie. Möllers' kritisch gemeinte Beobachtung, der Skandal habe "eine kurze und nicht besonders intensive Diskussion über die Behandlung von Homosexuellen in der Bundeswehr" ausgelöst (311), lädt ebenfalls zu Differenzierungen ein. Die Diskussion war zweifellos kurz; doch da sie sich bei der Wertung von Homosexualität zutiefst gespalten zeigte, war sie gerade das Gegenteil einer "nicht besonders intensive[n]" Debatte: So etwa, als "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein dem Verteidigungsminister vorwarf, "die Schwulen und damit uns alle zivilisatorisch um viele Jahre zurückgeworfen" zu haben. [7] Möllers wertet diese Augstein-Kolumne zwar aus, fokussiert aber ganz auf Kießling (162) und lässt die öffentliche Parteinahme des prominenten Publizisten für sämtliche Homosexuellen - gleichgültig, ob Kießling "schwul" war oder nicht - völlig außer Acht. Ebenso unbeachtet bleibt, dass der Skandal von 1984 eine Neuformulierung der "Sicherheitsrichtlinien" der Bundesregierung ausgelöst und damit die Diskriminierung homosexueller Soldaten zumindest in Frage zu stellen begonnen hat. Möllers erwähnt nur die homophoben Richtlinien von 1971, die dem Fall Kießling zugrunde gelegt wurden (63, 94, 276), aber nirgends die 1984 geführte Reformdebatte, die von Grünen und FDP ausging. Auch wenn es richtig ist, dass erst im Jahr 2000 die Diskriminierung homosexueller Männer in der Bundeswehr beendet wurde (311), ist doch der Wörner-Kießling-Skandal keine bloße Fortschreibung von Diskriminierung, sondern ein höchst ambivalenter Wendepunkt.
Derart übergreifende Fragen zu Homosexualität und Gesellschaftsgeschichte werden in Möllers' Studie nirgends entfaltet. Der Fokus liegt auf der endogenen bundeswehr-bezogenen Dimension des Skandals. In diesen Grenzen ist eine quellengesättigte, weithin chronologisch strukturierte Studie entstanden. Wer nach gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Kontexten sucht, muss andernorts weiterlesen.
Anmerkungen:
[1] Allerdings wurde dieser Skandal 2007 nicht in eine Ausstellung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik integriert; vgl. Skandale in Deutschland nach 1945. Begleitbuch zur Ausstellung, hg. v. der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, redigiert von Petra Rösgen, Bielefeld / Leipzig 2007.
[2] Möllers nennt die Skizzen von Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, 362, und Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009, 594, nicht jedoch die ausführliche Schilderung bei Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006, 59-65; die neuesten Studien von Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, und von Petra Weber: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020 erwähnen den Skandal nicht.
[3] Vgl. ausführlicher Michael Schwartz: Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales Stereotyp im 20. Jahrhundert, Berlin / Boston 2019, 278-322.
[4] Vgl. Rainer Mathes: Medienwirkung und Konfliktdynamik in der Auseinandersetzung um die Entlassung von General Kießling. Eine Fallstudie und ein Drei-Ebenen-Modell, in: Max Kaase / Winfried Schulz (Hgg.): Massenkommunikation. Theorien, Modelle, Befunde (=Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderheft 30), Opladen 1989, 441-458.
[5] Vgl. Schwartz: Homosexuelle, Seilschaften, Verrat, 293 f., und Magdalena Beljan: Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD, Bielefeld 2014, 26 f., 119 f. und 149.
[6] Vgl. Jürgen Reichardt: Hardthöhe Bonn. Im Strudel einer Affäre, Bielefeld / Bonn 2008.
[7] Zit. nach Schwartz: Homosexuelle, Seilschaften, Verrat, 295.
Michael Schwartz