Xosé M. Núñez Seixas: Die bewegte Nation. Der spanische Nationalgedanke 1808-2019. Aus dem Spanischen von Henrike Fesefeldt, Hamburg: Hamburger Edition 2019, 256 S., ISBN 978-3-86854-336-0, EUR 30,00
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Enric Ucelay-Da Cal / Arnau Gonzàlez i Vilalta / Xosé M. Núñez Seixas (eds.): El catalanisme davant del feixisme (1919-2018), Maçanet de la Selva: Editorial Gregal 2018, 730 S., ISBN 978-84-17082-73-4, EUR 25,00
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Elke Reuter / Wladislaw Hedeler / Horst Helas / Klaus Kinner (Hgg.): Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 - Die KPD am Scheideweg, Berlin: Karl Dietz 2003
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Walther L. Bernecker: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, 4. Aufl., München: C.H.Beck 2010
Im spanischen Original heißt das Buch des an der Universität von Santiago de Compostela lehrenden Historikers Xosé M. Núñez Seixas "Suspiros de España" ("Seufzer Spaniens"). Ein in Spanien leicht zu entschlüsselnder Titel, denn so heißt ein spanischer Tanz von Anfang des 20. Jahrhunderts, ein "Pasadoble", der seine Bekanntheit vor allem auch dem bald hinzugefügten - dann mehrfach variierten - Text verdankt. Über die Jahrzehnte ist dieser Ausdruck immer wieder herangezogen worden, wenn es um die Mobilisierung eines patriotischen, auch Klischees einsetzenden Sehnsuchtsgefühls ging. [1]
Auf diese Weise klingt in der spanischen Originalversion die emotionale Seite des Themas an, während eine solche Anspielung mit dem deutschen Titel leider nicht nachahmbar ist. Der Untertitel spitzt auf die konkrete Fragestellung zu: "Geschichte des spanischen Nationalismus" heißt es in der Originalfassung, was in der deutschen Ausgabe zum "spanische(n) Nationalgedanken" geworden ist. Diese Begrifflichkeit ist wesentlich weiter gefasst als im deutschen Sprachgebrauch, wo "Nationalismus" stärker auf eine politische Bewegung fokussiert. Der Inhalt des Buchs umfasst die nun schon mindestens zwei Jahrhunderte langen Dispute um das "Wesen" des Landes in seiner ganzen Breite und in allen Facetten - um das "Problem Spanien", wie es Ende der 1940er Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer Debatte am intellektuellen Rande des frankistischen Regimes hieß. Man könnte es auch, wie in der neueren Nationalismusforschung, als die Debatte um die "Erfindung" des Landes und, daraus abgeleitet, um die Formulierung seiner Identität bezeichnen.
Der spanische Gesamtstaat war Ende des 15. Jahrhunderts, also lange vor der Begründung der Nation(en) gegen Ende des 18. Jahrhunderts, durch eine dynastische Union geschaffen worden. Seine verschiedenen staatlichen Bestandteile existierten zunächst noch lange in weiten Bereichen parallel. Er war und verblieb multisprachlich und -kulturell und bildete zugleich den Kern eines der ersten neuzeitlichen Weltmächte. Trotz dieser lange zurückreichenden Wurzeln gilt auch hier, dass der Anspruch auf die Schaffung einer modernen Nation mit Napoleon begann, mit seiner Besetzung des Landes 1808 und mit dem sich dagegen formierenden Widerstand, in dessen Verlauf die Souveränität der - eben einen - spanischen Nation in der Verfassung von 1812 proklamiert wurde. Mit diesem Prozess eng verknüpft war der Anfang vom Ende des Weltreichs.
Der Autor entfaltet nun nach einem kurzen Blick auf die Vorgeschichte ab dem 15. Jahrhundert das ganze Panorama der Vorstellungen, wie sie sich in den verschiedensten Schattierungen vom 19. Jahrhundert ab fanden, wobei er seine Darstellung anhand der zentralen Publikationen der Protagonisten in diesen Debatten entfaltet. Weibliche Namen tauchen praktisch nur durch einige Königinnen auf, was noch einmal einen Hinweis auf die Verbindung von Nationalismus und Gendergeschichte liefert. Das Buch ist also keine allgemeine politische Geschichte des Landes, deren grobe Züge als bekannt vorausgesetzt werden.
Wie weit traditionell, das heißt katholisch-monarchisch, oder wie weit demokratisch, und zunehmend damit auch republikanisch, sollte sich Spanien als Nation und Staat verstehen? Dabei stand immer das Konzept des Zentralismus im Mittelpunkt. Wie weit sollte Spanien eine Erweiterung Kastiliens sein und damit auch - notfalls exklusiv - spanisch-sprechend? Oder könnte ein spanischer Staat existieren, in dem Elemente der Staatlichkeit "nach unten", an seine mehr oder weniger historischen Regionen, delegiert wären? Und was würde das angesichts von deren eigenständigen Wurzeln und besonderen kulturellen (vor allem sprachlichen) Traditionen für ein Echo hervorrufen? Ganz vereinfacht ging es also um die verschiedensten politischen Vorschläge, die sich im Gegensatz von Einheitsstaat und Föderalismus entfalteten, verkompliziert um die Wechselwirkungen, die sich mit dem Eigenständigkeitsanspruch vor allem in Katalonien und dem Baskenland seit Aufkommen der "peripheren Nationalismen" entwickelten. Nicht umsonst wird dies in Spanien auch als Territorialfrage bezeichnet.
Den Schwerpunkt mit über der Hälfte des Umfangs bildet die Zeit seit dem Ende der Franco-Diktatur 1976/77, die, vom kurzen Zwischenspiel der zweiten Republik (1931-1939) abgesehen, überhaupt erst in einem breiten Umfang politische Möglichkeiten zu einem neuen Spanien-Verständnis eröffnete. Dies schlug sich zunächst in dem von der Verfassung von 1978 definierten "Staat der Autonomien" nieder, wobei aber durch das Offenbleiben vieler Einzelheiten eine stetige Diskussion über dessen konkrete Gestalt einsetzte. Zudem hat in den letzten Jahren die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und die dadurch hervorgerufenen Massenmobilisierungen auf beiden Seiten das Thema in der breiten Öffentlichkeit sicherlich noch virulenter gemacht.
Núñez Seixas wählt für sein Buch die Form des Essays, der sich an ein breiteres, über die allgemeinen Hintergründe bereits informiertes Publikum wendet. Doch ist es so formuliert, dass ihm auch eine deutsche Leserschaft ohne allzu großes hispanistisches Vorwissen folgen kann. Dabei bemüht er sich, alle Seiten der Debatten gleichermaßen darzustellen, obwohl man durchaus gewisse Sympathien in Richtung auf eine stärkere Föderalisierung des spanischen Staates erkennen kann. Dem Essay-Charakter entsprechend tauchen nur wenige, zumeist allgemeine Nachweise in Fußnoten auf. Allerdings enthält es auch eine ausführliche Bibliographie, die nicht nur auf die im Text herangezogene Literatur verweist, sondern auch auf weitergehende neuere, allerdings fast ausschließlich spanische Forschungsliteratur. Eine nützliche Ergänzung liefert ein Personenregister und macht es so auch zu einem Nachschlagewerk.
Das Werk hat in Spanien, angesichts der politischen Lage sicherlich nicht verwunderlich, ein großes Echo hervorgerufen. Es erhielt 2019 den Nationalpreis des Kulturministeriums für "Ensayo", eben "Essay" - was allerdings vom Umfang her in Deutschland an ein "Sachbuch" heranreichen würde. Zweifellos liefert es einen bestens fundierten und auch gut lesbaren Abriss. Die Aktualität des Themas zeigt sich bis zur jüngsten Krisenentwicklung, in der die Mobilisierung gegen die Maßnahmen der Regierung Sánchez zur Pandemieeinhegung nicht zuletzt mit den symbolischen Mitteln des spanischen Nationalismus erfolgt ist. Die Auseinandersetzung um die "Identität" des Landes verspricht, wie in vielen geschichtlichen Vorlagen, die Bewältigung der jetzt einsetzenden Wirtschaftskrise zu überlagern, wenn nicht zu bestimmen.
Núñez Seixas ist auch einer der drei Mitherausgeber - die beiden anderen, Enric Ucelay-Da Cal und Arnau Gonzàlez i Vilalta, lehren an der Autonomen Universität Barcelona - des schon von seinem Charakter her akademisch geprägten Sammelbandes über das Wechselverhältnis von katalanischem Nationalismus und Faschismus. Insgesamt sind darin 22 Historikerinnen und Historiker zumeist, wenn auch nicht ausschließlich, von katalanischen Universitäten vertreten. Obwohl der Titel den Eindruck der gleichwertigen Behandlung eines bis in die Gegenwart reichenden Zeitraums erweckt, liegt doch der Schwerpunkt auf der Zeit seit Mitte der 1920er Jahre bis zum Bürgerkrieg, eben der Zeitspanne, in der der Faschismus einen Dominanzanspruch behaupten konnte.
Mit seinem Aufkommen in Italien - das aufgrund vieler Verbindungen stärker wirkte als dann die NS-Bewegung aus Deutschland - blickten einzelne katalanische Nationalisten immer wieder über das Mittelmeer. Zahlreiche seiner intellektuellen Vertreter diskutierten, ob sich dort ein Vorbild finden ließe. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die starke Rolle der katalanischen (anarchistischen) Arbeiterbewegung, die, von Ausnahmen abgesehen, für nicht wenige katalanische Nationalisten genauso niederzuringen war wie der spanische Zentralismus. Doch es blieb nicht nur bei intellektuellem Transfer, sondern fand einen Ausdruck in verschiedenen politischen Organisationsversuchen. Von ihnen war "Estat Català" ("katalanischer Staat") der bedeutendste, da er zeitweise als Fraktion innerhalb der auch mit einem linksliberalen Flügel versehenen Regierungspartei Kataloniens ab 1931 wirkte. Dass die verschiedensten faschistischen Bemühungen scheiterten, lag freilich daran, dass die Konfliktachse innerhalb der katalanischen Gesellschaft von der zwischen Katalonien und dem Zentralstaat überlagert wurde, wozu dann noch der Putsch Francos trat. Der spanische Faschismus der Falange hatte in Katalonien nur wenige Adepten. Dadurch wurde die Weiterentwicklung von faschistischen Sympathien innerhalb des katalanischen Nationalismus, trotz einzelner Strömungen mit Stoßrichtung gegen die spanisch-sprechende Immigration in Katalonien, mangels einer realen Machtperspektive aufgehalten. Dazu kam das Desinteresse sowohl Hitlers und Mussolinis, bei Letzterem trotz einiger vor 1936 ausgestreckter Fühler, an einem potenziellen katalanischen Faschismus. Sie setzten lieber auf den sichereren und geopolitisch vielversprechenderen Franco.
Gruppiert sind die Beiträge in verschiedene thematische Blöcke: Definitorische Fragen nach Nationalismus und Faschismus, katalanische Rezeptionen und organisatorische Nachahmungen, internationale Verwicklungen insbesondere ab 1936 und schließlich Auswirkungen des Frankismus und der Nach-Franco-Zeit. Das Eingehen auf die verschiedensten, oftmals in aller Kleinteiligkeit abgehandelten Aspekte würde den hier zur Verfügung stehenden Platz sprengen. So sei auf das Fazit verwiesen, wonach es angesichts des realen historischen Spielraums zwar auch unter den katalanischen Nationalisten einige mit faschistischen Vorstellungen gab, aber der katalanische Nationalismus in seiner überwältigenden Mehrheit - trotz durchaus erfolgter propagandistischer Attacken auf ihn durch seine Gegner mit eben dieser Behauptung - keineswegs einen Faschismus darstellte. Auf die im Schlussteil des Bandes diskutierten Versuche sowohl des Franco-Regimes zur Schaffung eines "katalanischen Gesichts" als auch in der Zeit nach dessen Ende zur Etablierung eines katalanischen Faschismus mit der Stoßrichtung gegen die breite Arbeitsimmigration aus Südspanien seit den 1950er Jahren, heute allerdings gegen islamische Migranten, die alle letztlich marginal blieben, sei hier der Vollständigkeit halber wenigstens verwiesen.
Alles in allem handelt es sich um einen faktenreichen Sammelband, der das auch in anderen Fällen von Minderheitsnationalismen (bzw. staatenlosen Nationalismen) in der Zwischenkriegszeit oft diskutierte Wechselverhältnis an einem konkreten Fall ausführlich analysiert. Transnationale Vergleiche werden allerdings nicht gezogen, nur auf den bretonischen Fall wird quasi im Vorübergehen verwiesen. Die Herausgeber bemühten sich allerdings durch ihre Gesamteinleitungen wie in denen zu den verschiedenen Themenblöcken, die Fragestellung in den weiteren Kontext der allgemeinen Nationalismus- wie Faschismusforschung einzuordnen und damit auch einen Zugang für den nicht mit Katalonien vertrauten Interessierten zu eröffnen.
Für die vergleichende Nationalismusforschung ist der spanische Staat spätestens seit der jüngsten Entwicklung in Katalonien verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Dazu liefern beide Bände je nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten lesenswerte Beiträge.
Anmerkung:
[1] Ein vielleicht extremes Beispiel dafür, wo es ansonsten oft nur um ein romantisch-verklärendes Heimwehmotiv ging, ist der gleichnamige Spielfilm, den die entstehende frankistische Filmindustrie im Jahre 1938 aufgrund der Bürgerkriegssituation bei der UFA in Babelsberg - als einen von mehreren Propaganda-Spielfilmen - drehte.
Reiner Tosstorff