Simona Boscani Leoni / Martin Stuber (Hgg.): Wer das Gras wachsen hört. Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes), Innsbruck: StudienVerlag 2017, 256 S., zahlr. Tbl., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7065-5658-3, EUR 29,90
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Simona Boscani Leoni (Hg.): Wissenschaft - Berge - Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, Basel: Schwabe 2010
Jon Mathieu / Simona Boscani Leoni (Hgg.): Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Agrargeschichte und Wissensgeschichte traten lange Zeit kaum miteinander in Verbindung. Erst in jüngerer Zeit kam es immer häufiger zu einem diesbezüglichen Austausch und der von Simona Boscani Leoni und Martin Stuber herausgegebene Band, der auf den Workshop "Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen in der longue durée" in Bern im Jahr 2016 rekurriert, bringt die Disziplinen im Bereich frühneuzeitlicher Botanik miteinander in eine fruchtbare Diskussion, die eine Konvergenz der Methoden und der Fragestellungen mit sich bringt.
Das steigende Interesse an agrarischem Wissen, der zunehmende technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der frühen Neuzeit, der in die Bewegung der Ökonomischen Aufklärung mündete, bilden den Hintergrund dafür. Die detailreichen und quellennahen Beiträge des Bandes nehmen je eine unterschiedliche Pflanzengruppe (Obst, Gemüse, Tabak, Futter-, Heil- oder Textilpflanzen) in den Fokus und nähern sich aus verschiedenen Perspektiven dem Wissen um pflanzliche Ressourcen zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert an. Zentrale Fragestellungen sind die Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren wie Amtsträgern, Bauern, Gelehrten, Gutsbesitzern oder Priestern sowie die Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen administrativen, praktischen oder gelehrten Wissensbeständen.
Eine Klammer über alle Beiträge stellt der Umstand dar, dass sie sich in der einen oder anderen Weise mit gedrucktem Schrifttum der frühen Neuzeit befassen. Vor diesem Hintergrund wird in den Beiträgen das dort niedergelegte Wissen mit anderen Wissensformen, etwa handschriftlichen Texten wie beispielsweise Verwaltungsakten oder privater Korrespondenz sowie konkreter agrarischer Praxis wie dem Saatguthandel oder der Erprobung spezifischer Anbaupraktiken, in Verbindung gebracht. Außerdem wird Brüchen und Kontinuitäten innerhalb der verschiedenen Formen des gedruckten Schrifttums nachgegangen.
Die in den Beiträgen von Meike Knittel, Simona Boscani Leoni und Sophie Ruppel untersuchten Schriften belegen eindrücklich die enge Verbindung zwischen Systematisierungen in der zeitgenössischen Botanik und ökonomischen Überlegungen zur Nutzung pflanzlicher Ressourcen. In den Beiträgen von Sarah Baumgartner, Gerrendina Gerber-Visser und Martin Stuber wird deutlich, dass botanische Klassifikationen besonders häufig in praxisorientierten Texten auftauchten. Ein Ergebnis des Bandes ist daher, dass Elemente der zeitgenössischen wissenschaftlichen Botanik in den untersuchten Schriften keineswegs klar von Praktiken des Anbaus und der Nutzung pflanzlicher Ressourcen getrennt waren.
Die persönlichen Erfahrungen frühneuzeitlicher Autoren mit der Praxis und dem Anbau der von ihnen beschriebenen Nutzpflanzen werden in den Beiträgen von Ulrike Kruse und Dorothee Rippmann Tauber gezeigt. Auch werden in einigen Beiträgen handschriftlich überlieferte Textsorten mit den untersuchten Druckschriften in einen Kontext gestellt. Exemplarisch sei dazu auf das im Beitrag von Regina Dauser untersuchte Verwaltungsschrifttum zum Tabakanbau in der Kurpfalz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwiesen. Gedruckte Memoranden und Anleitungen sowie protokollierte Rückmeldungen von den Ämtern ermöglichen Einblicke in das divergente Wissen von Obrigkeit und Bauernschaft. Besonders interessant ist hierbei die Rolle der lokalen Amtsträger an der Schnittstelle zwischen Herrschaft und ländlicher Gesellschaft.
Die Initiativen der Gebrüder Scheuchzer zur Torfgewinnung in der Region Zürich analysiert Simona Boscani Leoni und verweist damit auf die mitunter enge Verquickung von ökonomischen Überlegungen und wissenschaftlichen Diskursen. Gerrendina Gerber-Visser verdeutlicht exemplarisch am Flachsanbau wie überregional rezipierte Schriften mit Erfahrungen in lokalen Kontexten miteinander in Beziehung gesetzt wurden.
All diese Beiträge zeigen die zahlreichen Probleme in der Umsetzung der autoritativen Empfehlungen in die Praxis und zeichnen ein komplexes Gesamtbild verschiedener Phasen in der Kommunikation zwischen ländlicher Bevölkerung und Obrigkeit. Letztere versuchte die Verbreitung des Wissens durch gedruckte Medien zu beschleunigen. Dem Mythos, dass agrarisches Wissen erst mit der Entwicklung der Agrarwissenschaft im 19. Jahrhundert zu einem diskutierten und differenzierten Forschungsfeld wurde, treten die Ergebnisse der Beiträge klar entgegen. Es zeigt sich vielmehr ein sich durch die Frühe Neuzeit entwickelnder Formalisierungsprozess von Wissen in schriftlichen Texten, die bestimmten Akteuren und sozialen Gruppen zugewiesen werden können. Diese führten in weiterer Folge zu einem regen Austausch sowie zu Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit in den Fragen der Nutzung pflanzlicher Ressourcen. Hinsichtlich der longue durée ermöglicht der Beitrag von Juri Auderset und Peter Moser einen Ausblick vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert am Beispiel der Praxis von Pflanzenzüchtungen. Der Band wird durch eine Conclusio über die Beiträge von Marcus Popplow, der auch mögliche anknüpfende Forschungen skizziert, abgerundet.
Im Forum findet sich schließlich noch ein nicht zum Schwerpunktthema des Bandes gehöriger Beitrag von Martin Bauer zu Schätzungsoperaten des Franziszeischen Katasters als agrarhistorische Quelle.
Summa summarum kann der Band allen agrar- und wissensgeschichtlich Interessierten wärmstens empfohlen werden. Durch innovative Zugänge seitens der Autorinnen und Autoren werden Fragen und Methoden der beiden Disziplinen in einen ergiebigen Austausch gebracht. Das einzige kleine Manko der Publikation ist angesichts der zahlreichen wissenschaftlich hoch qualifizierten Verfasserinnen und Verfasser das Fehlen von Kurzbiografien der einzelnen Autorinnen und Autoren.
Michael Kasper