Jon Mathieu / Simona Boscani Leoni (Hgg.): Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance (= Studies on Alpine History; Vol. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 451 S., ISBN 978-3-03910-774-2, EUR 53,80
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Die Geschichte der Alpen und der Alpenwahrnehmung hat eine lange Tradition. In vielen Disziplinen war und ist sie beheimatet und scheint eine ähnliche Faszination auszuüben wie ihr Gegenstand selbst - die Bergwelt. Dennoch war diese Forschung, wie die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes darlegen, wenig kontrovers, beherrschte doch bisher mehr oder weniger ein Narrativ die Studien: die Vorstellung, dass es zwei Zeitphasen der Alpenwahrnehmung gäbe - eine ältere, dunkle Phase, in der die Alpen als 'locus horribilis' betrachtet worden wären, und eine hellere Phase, je nach Datierung im 16. oder im 18. Jahrhundert beginnend, in der die Alpenlandschaft zur besonders schönen, zivilisationsverschonten Landschaft avancierte und Gegenstand der Bewunderung und Begeisterung war. (Gelegentlich wird dabei noch eine Zwischenphase konstatiert, die dem Barock einen erneuten Rückgang des Interesses an den Bergen attestiert, was aber die Grundstruktur der Metaerzählung nicht verändert.)
Dieses Bild zu hinterfragen ist ausdrückliches Anliegen des von Jon Matthieu und Simona Boscani Leoni herausgegebenen Bandes, der einen weiten Bogen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert spannt. Die Autoren setzten sich dabei zwei Ziele: zum einen die Beschreibung der alpinen Natur und Bevölkerung auch als Selbstbeschreibung der Autoren zu lesen, zum anderen solche Stimmen in die Untersuchung einzuschliessen, die bisher nicht gehört wurden - etwa, wie die Bergbevölkerung selbst auf die an sie herangetragenen Bilder und Diskurse reagierte.
Es handelt sich bei dem Sammelband um das Ergebnis eines Forschungsprojektes, das an der Università della svizzera italiana unter der Leitung von Jon Matthieu angesiedelt war und sich in drei Workshops einer internationalen Zusammenarbeit öffnete. So kam nicht nur eine stattliche Zahl von Beiträgern zusammen, sondern auch eine extreme Bandbreite von Einzelstudien, die sich je unterschiedlichen Regionen und Epochen widmen. In nicht weniger als 25 Aufsätzen - in deutscher, französischer und italienischer Sprache verfasst - werden nicht nur die schweizerischen und österreichischen Alpen bzw. die sie aufgreifenden Diskurse bedacht, sondern ebenso die Stimmen aus Frankreich, Italien oder Slowenien berücksichtigt.
Zwei einführende Aufsätze und Kurzzusammenfassungen erläutern dabei zunächst die großen Linien und Anliegen des Bandes, worauf die Einzelthemen folgen, die chronologisch nach Epochen (Mittelalter und Übergang zur Moderne, Aufklärung und Romantik, Industrielles Zeitalter und 20. Jahrhundert) gegliedert sind. Die einzelnen Beiträge zu würdigen, ist in dieser Fülle kaum möglich, deshalb sollen hier nur einige Ergebnisse beschrieben werden.
Eine Einsicht betrifft die radikalen Periodisierungen, die in der Literatur vorherrschen: Auch wenn es zweifelsfrei eine Konzentration der Alpenbegeisterung im 18. Jahrhundert gab, sollte man nach Meinung der Herausgeber von der gängigen Periodisierung einer Schwarz-Weiss-Zeichnung Abstand nehmen. (Sie plädieren eher für eine 'Grau-Weiss'-Abstufung.) Vielfach erscheinen nämlich auch durchaus unterschiedliche Alpenbilder in den verschiedenen Textgattungen derselben Epoche. So gibt es einerseits schon in mittelalterlichen, enzyklopädisch anmutenden Texten positive Beschreibungen der Alpen (Murielle Brunschwig), oder im 18. Jahrhundert wurde andererseits die in den Reiseberichten sich manifestierende Alpenbegeisterung durch nüchterne Berichte in den deutschen Zeitschriften (Holger Böning) konterkariert. Zu vermuten ist beispielsweise auch, dass die Sicht auf die angeblich bergfeindliche Barockzeit heute noch von der aufklärerischen Kritik geprägt ist, was nicht unbedingt der Realität des 17. Jahrhunderts entsprechen muss.
Nationale Unterschiede des Alpendiskurses sind dabei ebenso zu beachten, denn rezipiert wurde in der Geschichtswissenschaft weitgehend die Schweizbegeisterung der deutschen Aufklärung, die sich mit der Begeisterung für die politische Situation der Schweiz (als republikanische "Felsenburg der Freiheit") paarte. Bezeichnenderweise begeisterte man sich für die Schweizer Alpen, nicht für die österreichischen. Alpen- und Schweizbegeisterung war also durchaus ein Phänomen des Nordens, die Reaktion der Bergbewohner selbst schwankte dagegen zwischen einem Aufgreifen der an sie herangetragenen Bilder und einer dezidierten Ablehnung. Quellen für diese alpinen Stimmen zu finden ist jedoch nicht einfach - am ehesten gelingt dies bei der Arbeit mit Korrespondenzen (Simona Boscani Leoni).
Der Massentourismus des 19. Jahrhunderts dagegen zeigt zudem noch eine ganz eigene, bisher wenig beachtete Annäherung an die Bergwelt, die möglicherweise in einer Geschichte der Alpenwahrnehmung einen neuen Stellenwert bekommen müsste. Der Alpinismus erhält mit den Erstbesteigungen gerade auch im 19. Jahrhundert nicht zuletzt eine hegemoniale Konnotation, wobei es hier schon nicht mehr nur um die Erstbesteigung selbst ging, sondern um deren mediale Umsetzung - also die Frage, ob man die eigene Leistung auch entsprechend dem Publikum vor Augen stellen konnte.
Im 19. und 20. Jahrhundert herrschte jedoch dann eine Vielfalt der Haltungen und Strategien vor, die kaum entwirrbar ist. Die Schweizer Alpen wurden beispielsweise in den politischen Diskursen jeweils nach Situation entsprechend aufgeladen: entweder als Argument für den Föderalismus, indem man auf die Vielfalt der Alpentäler rekurrierte, oder aber für den Zentralismus, wenn man die Alpen als einigendes Element in die Debatte warf.
Mit der zunehmenden Verstädterung entwickelte sich sodann der ideologisch aufgeladene Diskurs der 'reinen' und 'tugendhaften' Bergwelt, bis hin zu den Bergfilmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem bis heute andauernden Erfolg der Figur der 'Heidi', die heute noch in der Werbung als Ikone der quasi-sakralen unverdorbenen, heimatbietenden Bergwelt als Gegenbild der globalisierten, heimatlosen Gegenwart fungiert.
Die Autoren betonen in ihrer Zusammenfassung ausdrücklich den Wunsch nach der Fortsetzung einer Internationalisierung der Forschung - ein Ziel, das sie mit einem so breit angelegten Band zweifelsfrei schon teilweise erreicht haben, wenn auch hier und da mit der Konsequenz, dass nicht alle Beiträge von gleich hohem Niveau sind. Spannend bleibt die von den Herausgebern angesprochene Frage nach interkulturellen Vergleichen mit anderen Gebirgen, etwa warum der Himalaya so stark religiös eingebunden war, die Religion im Fall der Alpen aber eine geringere Rolle spielte. Hier eröffnen sich heute neue, globalhistorische Dimensionen der Beziehung des Menschen zur Natur.
Sophie Ruppel