Alexander van Wickeren: Wissensräume im Wandel. Eine Geschichte der deutsch-französischen Tabakforschung (1780-1870) (= Peripherien; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 329 S., ISBN 978-3-412-51812-7, EUR 55,00
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Der "spatial turn" ist auch in der Wissenschaftsgeschichte angekommen. Welches Potential darin steckt, will das vorliegende Buch von Alexander van Wickeren, hervorgegangen aus einer in Paris und Köln verteidigten Dissertation, an einem sehr konkreten Fallbeispiel ausloten, nämlich der Tabakforschung. "Forschung" versteht van Wickeren dabei zu Recht in einem sehr weiten Sinn, der vielfältigste Formen von Wissensproduktion - auch solche, die noch vor-wissenschaftlichen Charakter haben - umfasst. Es gehört zu den Stärken des Buches, dass der Prozess der Verwissenschaftlichung, der das ganze 19. Jahrhundert andauerte und mit dem zunehmenden Ausschluss von bisher ganz selbstverständlich an der Wissensproduktion beteiligten Akteuren einherging, explizit reflektiert und aufmerksam rekonstruiert wird. Die Akteure, die dabei das Netzwerk der Forschenden ausmachen, sind vielfältig - und nicht immer ist "Forschung" ihre Hauptbeschäftigung, eher im Gegenteil. Es sind reformorientierte, experimentierfreudige Landwirte, Beamte in den landwirtschaftlichen Abteilungen der regionalen oder überregionalen Verwaltungen bzw. in der Verwaltung des französischen Tabakmonopols, Wissenschaftler an Universitäten und Privatgelehrte. Oftmals war eine genaue Zuordnung zu diesen Kategorien gar nicht möglich. Der Hauptfokus der Arbeit ist aber nicht akteurs-, sondern raumorientiert. Im Zentrum der Untersuchung stehen die "sich verändernden Raumregime für Wissensproduktion" (17), die Frage also, welche räumlichen Zusammenhänge für die Forschenden in welcher Intensität und in welchen Kontexten relevant waren. Van Wickeren fragt dabei nach den "regionalisierenden, nationalisierenden und globalisierenden Prozessen" (18), die bei der tabakbezogenen Forschung handlungsleitend waren; insbesondere die - in anderen Zusammenhängen entwickelte - These einer fortschreitenden Nationalisierung der Wissenschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts will er mit seiner Untersuchung einer kritischen Überprüfung unterziehen.
Auch wenn der Untertitel des Buches eines "Geschichte der deutsch-französischen Tabakforschung" verspricht, steht im Zentrum der Analyse eine ganz bestimmte Region, nämlich das Elsass, gebildet aus den beiden Départements Haut-Rhin und Bas-Rhin. Um die Vernetzung dieser Region mit anderen Raumeinheiten geht es dem Autor. Dabei blickt er auf personelle Verflechtungen ebenso wie auf Rezeptions- und Übersetzungsprozesse von Büchern, Kooperation in gelehrten Gesellschaften, die Übernahme bestimmter Technologien oder Anbaumethoden, Handelswege oder Unternehmenskooperationen. Das Elsass bietet sich als Untersuchungsgegenstand nicht zuletzt deshalb an, weil es einerseits Teil der französischen Verwaltungsstruktur war, andererseits aber aus sprachlichen, kulturellen und historischen Gründen auch eng mit den angrenzenden deutschen Regionen, insbesondere Baden, der Pfalz und dem Rheinland, verbunden war. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung erstreckt sich vom späten napoleonischen Empire (die Einführung des französischen Tabakmonopols 1810/11 kann als Initialzündung einer Intensivierung der Reformbemühungen im Tabakanbau angesehen werden) bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Sicherlich wäre es ausgesprochen reizvoll gewesen, den Untersuchungszeitraum auf die Zeit des erzwungenen Nationswechsels - also die sogenannte "Reichslandszeit" zwischen 1871 und 1918 - auszudehnen; dass der Autor sich dagegen entschieden hat, ist aus forschungspraktischen Gründen sicherlich verständlich, bleibt aber nichtsdestotrotz bedauerlich.
Chronologisch zerfällt die Untersuchung grob in zwei etwa gleichgewichtige Blöcke. Nach einer Einleitung (Kapitel 1), in der er auf beeindruckende Weise das eigene Thema in die weitverzweigte Forschungslandschaft einbettet, widmet sich van Wickeren in den ersten drei Kapiteln (Kapitel 2-4) den Entwicklungen der Tabakforschung von den napoleonischen Reformanstößen bis zur Jahrhundertmitte: An den Beispielen des aus Koblenz stammenden Landwirtschaftsexperten Johann Nepomuk Schwerz und des Straßburger Präfekten Lezay-Marnesia zeigt der Autor zunächst die enge, sowohl personelle als auch administrative Vernetzung zwischen dem Elsass und den anderen Tabakanbaugebieten an Ober- und Niederrhein. Die Zentralverwaltung in Paris und auch die übrigen französischen Anbaugebiete spielten demgegenüber, trotz der Zentralisierungsversuche des Empire, eine eher untergeordnete Rolle, Spannungen zwischen der regionalen und der nationalen Ebene waren keine Seltenheit. Das Ende der napoleonischen Herrschaft und damit der politische Bruch zwischen dem französischen Elsass und den nun zu verschiedenen Territorien des Deutschen Bundes gehörenden Anbaugebieten war dabei gewiss eine Zäsur, darf aber, so der Autor, auch nicht überbewertet werden: Die Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg blieben bestehen, konzentrierten sich nun aber zunehmend auf die unmittelbaren Nachbarregionen, während die Beziehungen zu den niederrheinischen Anbaugebieten, die bis 1814/15 Teil des Empire gewesen waren, deutlich zurückgingen (70f.).
Im zweiten Block (Kapitel 5-8) werden die zahlreichen Fäden, die im ersten Teil ausgelegt wurden, weiterverfolgt. Mehr als zuvor wird nun aber auch die globale Dimension der Tabakforschung und der Tabakwirtschaft berücksichtigt. Denn im Zuge der "nationalen Kubanisierung" Frankreichs (154ff.) orientierten sich Tabakanbau und -verarbeitung zunehmend am Modell der populären Kubazigarren. Quellennah und anschaulich analysiert van Wickeren, wie dieses Modell von den "ingénieurs du tabac" in der Pariser Tabakbehörde in Frankreich und schließlich auch im Elsass propagiert wurde, wie dabei zunehmend eine "atlantische Expertenkultur" die nationalen und regionalen Netzwerke aus Forschern und Praktikern ergänzte und welche Reibungspunkte dadurch zwischen den nationalen Beamten und den in der Region verankerten Experten entstehen konnten. Und er zeigt auch, wie dabei Letztere trotz ihrer Bemühungen, am "nationalen" Diskurs teilzuhaben, immer mehr an den Rand gedrängt wurden: Die "Versprechen einer partizipativen Tabakreform [waren] letztlich wenig mehr als Lippenbekenntnisse", so van Wickeren pointiert (254).
Alexander van Wickeren hat für seine Studie eine große Menge weit verstreuter Quellen ausgewertet; ihm ist wohl kaum eine Denkschrift, kaum ein Handbuch, kaum eine Eingabe zum Tabakanbau im Untersuchungszeitraum entgangen. Der Autor macht es dem Leser allerdings nicht immer leicht, aus mehreren Gründen. Oft geht van Wickeren arg sparsam mit Hintergrund- und Kontextinformationen zu den von ihm verhandelten Themen, Personen und Institutionen um - mit der Materie des Tabakanbaus nicht vertrauten Leser*innen hätten sich vermutlich über eine kurze Skizze der Vorgeschichte der deutsch-französischen Tabakwirtschaft gefreut, also quasi den Ausgangspunkt der "Reformen" mit denen sich das Buch beschäftigt. Ähnliches gilt für die Protagonisten der von van Wickeren erzählten Geschichte: Diese bleiben weitgehend blass, und das ist bedauerlich. So begegnet uns etwa Charles-Henri (Karl Heinrich) Schattenmann, ein wichtiger Gewährsmann des Autors, der in zahlreichen Debatten zitiert wird, im Verlauf des Textes hier als "Gelehrter", dort als "Tabakexperte" oder auch als "Chemiker". Nirgendwo aber wird im Zusammenhang dargestellt, dass dieser ganz offensichtlich eine schillernde Figur der elsässischen Wirtschaft und Wissenschaft mit vielfältigsten Aktivitäten und Interessen war: Er betrieb im nordelsässischen Bouxwiller ein Versuchsgut, war aber daneben auch Direktor der örtlichen Mine und Chemiefabrikant sowie Autor verschiedenster Schriften zum Tabak- und Weinanbau sowie zum Straßenbau; er war also Praktiker ebenso wie Wissenschaftler, ein "Experte", der aber auch mit der Verwaltung in einem stetigen Austausch stand.
Dennoch: "Wissensräume im Wandel" ist eine ausgesprochen anregende, interessante Fallstudie. Sie ist ein überzeugendes Beispiel für das Potential einer raumorientierten Wissensgeschichte, auch wenn sie, wie das Fazit zeigt, keine eindeutigen Ergebnisse, sondern eher ein "sowohl - als auch" hervorbringt: Die elsässische Tabakforschung stand sowohl in regionalen als auch in nationalen und globalen Bezügen, und kein eindeutiger Trend der Veränderung war in den 50 Jahren des Untersuchungszeitraums auszumachen. Das "Nationalisierungsparadigma" wird somit vom Autor zwar relativiert, aber (zu Recht) nicht gänzlich ad acta gelegt. Sie ist aber auch ein gelungenes Beispiel einer Wissensgeschichte, die betont innerfachliche Interdisziplinarität pflegt und geschickt (und äußerst belesen) Impulse etwa aus der Wirtschaftsgeschichte, der Verwaltungsgeschichte und der Konsumgeschichte integriert - und das somit nicht nur von Spezialist*innen der Tabakgeschichte mit Gewinn gelesen werden kann.
Daniel Mollenhauer