Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter, Stuttgart: J.B. Metzler 2020, 510 S., ISBN 978-3-476-05674-0, EUR 29,99
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Hamish Scott (ed.): The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350-1750. Volume I: Peoples and Place, Oxford: Oxford University Press 2015
Günter de Bruyn: Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006
Johannes Süßmann: Vom Alten Reich zum Deutschen Bund 1789-1815, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015
Regina Toepfer, Professorin für germanistische Mediävistik in Braunschweig und Sprecherin des DFG-Schwerpunktprogramms "Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit" hat ein sehr interessantes Buch vorgelegt. Es bietet weit mehr als der Titel verspricht. Auch die Frühe Neuzeit wird berücksichtigt und mittels der Methode der "historisierenden Komparatistik" Bezüge zu Gegenwart hergestellt. Obwohl die Gründe für Unfruchtbarkeit statistisch gesehen im gleichen Maße bei Männern wie Frauen liegen, tendieren wie im Mittelalter Mediziner, Gesellschaft und auch Frauen noch heute dazu, die Gründe vornehmlich bei den Frauen zu suchen. Der methodische Zugang der "historisierenden Komparatistik" wird ergänzt durch eine "normativitätskritische Lektüre" der Quellen (303, 310, 334, 386). "Internalisierte Normen zu hinterfragen, verdeckte Machtmechanismen offenzulegen und Mehrdeutigkeiten herauszustellen, sind [...] Ziele normativitätskritischer Forschung" (398).
Kinderlosigkeit ist nach Regina Toepfer kein biologisches Schicksal, sondern sozial und kulturell geprägt. Mit Bezug auf aktuelle Diskussionen über künstliche Befruchtung, Adoption, Kinderfreiheit und bereute Mutterschaft untersucht sie, wie in der Vormoderne Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit thematisiert wurden. In Theologie, Medizin, im Recht, wie in der Erzählliteratur zeichnen sich deutliche Unterschiede ab. "Für die einen ist Kinderlosigkeit ein großes Problem, für die anderen ein hohes Ideal. Das Buch fragt nach den Gründen für diese Wertungen und nach historischen Veränderungen. Offengelegt werden so verschiedene Erzählmuster, die Geschichten der Kinderlosigkeit bis in die Gegenwart prägen. Das Spektrum reicht vom spät erfüllten Kinderwunsch dank göttlicher oder dämonischer Hilfe über soziale und religiöse Alternativen bis hin zur bewussten Entscheidung gegen Elternschaft und dem wunschlosen Glück innig Liebender" (Buchrücken).
Das erste Kapitel ist der "Theologie: Heilsgeschichten der Un*fruchtbarkeit" gewidmet. Lust während des Geschlechtsaktes galt als Erinnerung an die Erbsünde. Der neuralgische Punkt war die Ehe der Gottesmutter. Wenn die Zustimmung der Ehepartner, miteinander zu kopulieren, für die Gültigkeit der Ehe unverzichtbar war, betraf dies auch Maria (48). Das paulinische Keuschheitsideal führte dann zum Modell der Josefsehe. Letztlich sind die biblischen Aussagen über Un*fruchtbarkeit "vielstimmig und kontrovers" (48).
"Medizin: Körperkonzepte der Un*fruchtbarkeit" bildet den Inhalt des zweiten Kapitels. Unfruchtbarkeit war eine "genderspezifische Krankheit". In der Regel wurden Frauen verantwortlich gemacht (54). Fruchtbarkeit hingegen galt als männliches Privileg.
"Recht: Gesetze zur Un*fruchtbarkeit" werden im folgenden Kapitel behandelt. Hier konnte es für Männer peinlich werden. Impotenz galt als grundlegendes Ehehindernis. Männer mussten sich demütigenden Impotenzprozessen unterziehen und gerichtsöffentlich ihre Erektionsfähigkeit beweisen.
Das vierte Kapitel behandelt "Dämonologie: Metaphysik der Un*fruchtbarkeit". Hier geht es um den Gegensatz "natürlich" versus "übernatürlich" bzw. "unnatürlich". Natur war schon immer ein kulturalistisches Konzept. "Die Abwertung von Unfruchtbarkeit führt zur Aufwertung der Fruchtbarkeit. Die Reproduktion wird als Norm installiert, indem Kinderlose stigmatisiert und zur sozialen Randgruppe erklärt werden" (192).
"Ethik: Lebensideale der Un*fruchtbarkeit" ist der fünfte Abschnitt überschrieben, "Göttliche Hilfe: Auf ein Kind warten" der sechste. Reproduktionstheologischen Handeln wird dort thematisiert. Heute ist dafür die Medizin zuständig.
"Gefährliche Dritte: Ein Kind um jeden Preis" heißt das siebente Kapitel. Die einfachste Möglichkeit war immer der Wechsel des Sexualpartners. Als Leihmutter dienten oft Mägde, die selbst nicht heiraten durften, als sexuelle Verfügungsmasse.
"Soziale Alternative: Ein Kind annehmen" ist das Thema des achten Kapitels. Oft handelte es sich um ausgesetzte Kinder. Jahrhundertelang herrschte der Glaube, dass Zwillinge zwei Väter hätten. Das führte zur Tötung oder Aussetzung eines der Zwillinge (249).
Das nächste Kapitel "Mystische Mutterschaft: Das Kind verehren" handelt vom Kind-Jesu-Kult, insbesondere bei Nonnen. Um "Erzwungene Elternschaft: Ein Kind bereuen" dreht sich das das zehnte Kapitel. Auffällige Neugeborene, die oft schrien oder viel Nahrung verlangten, galten als Wechselbälger, als vom Teufel untergeschoben. Martin Luther empfahl, solche angeblichen Wechselkinder zu ertränken (143). Die beiden letzten Kapitel sind der "keuschen Ehe" und der höfische Liebe ohne Kinderwunsch gewidmet.
Kinderlosigkeit war im Mittelalter verbreiteter als heute, im Florenz des 15. Jahrhunderts blieben 25 % der Haushalte ohne Kinder, in manchen Berufsgruppen, wie den Gerbern Basels, sogar über 40 % (6). Gleichzeitig galt Kinderlosigkeit als Stigma und führte zur sozialen Exklusion. Kinderlosen wurde wie Selbstmördern eine Bestattung in geweihten Boden verwehrt (7). Wobei jedoch nur männlicher Nachwuchs als Ausdruck der Fruchtbarkeit galt. Frauen waren lediglich "Fortpflanzungshilfen" (38). Un*fruchtbarkeit war im Mittelalter eine relationale Kategorie, die vom Geschlecht des Kindes abhing. Hatte ein Lehensträger keinen legitimen Sohn, fiel das Lehen zurück. Mit der Geburt eines Sohnes verloren angenommene Kinder ihre Rechte, Schenkungen wurden ungültig. Die Kirche hatte als potentieller Erbe ein besonderes Interesse an Kinderlose (156).
Die Autorin interessieren jedoch nicht Zahlen und Fakten, auch nicht wie die Situation von Kinderlosen wirklich war. Ziel der Darstellung ist, die kulturelle Bedeutung von Un*fruchtbarkeit zu rekonstruieren, eine Kulturgeschichte der Kinderlosigkeit, zu verstehen "wie Kinderlosigkeit die Stellung, das Verhalten und das Selbstverständnis von Menschen" prägte (8). Es geht um Fertilität als Identitätskategorie (12). Die Studie ist "normativitätskritisch angelegt, insofern [...] Unfruchtbarkeit nicht als Abweichung von einem naturgegebenen Normalzustand, sondern als eine durch Diskriminierung geprägte Bezugskategorie" begriffen wird (13). Kinderlosigkeit ist ein soziales Konstrukt. Dies drückt sich in dem Zentralbegriff "Un*fruchtbarkeit" aus. Das "Fertilitätssternchen" signalisiert, dass Betroffene verschiedene Möglichkeiten hatten, mit Kinderlosigkeit umzugehen. Dass sie in verschiedenen Kontexten, z.B. aus herrschaftspolitischer Sicht oder im klösterlichen Umfeld, sehr unterschiedlich bewertet wurden. Die Darstellung bewegt sich im Spannungsfeld von biblischen Reproduktionsauftrag und christlichen Keuschheitsideal. Die ersten Worte, die Gott an die Menschen richtete waren "Seid fruchtbar und vermehrt euch" (Gen. 1,28).
Mit der Reformation kam es in weiten Teilen Europas zu einem grundlegenden Umbruch. Viele alternative Lebensmodelle, die Gleichgeschlechtlichveranlagten oder Asexuellen Nischen boten, Klöster für Frauen und Männer, Beginen- und Begardegemeinschaften, zölibatäre Ritterorden verschwanden. Bereits Jesus negierte seine familiären Bindungen und entschied sich für eine konkurrierende Lebensform. Mit der Reformation blieb als einziges Lebensmodell die heteronormative Ehe mit dem Zwang Nachkommenschaft zu zeugen.
Falsch ist die Behauptung, der Staat interessiere sich erst seit dem 18. Jahrhundert für Bevölkerungsregulierung (5). Nach Kriegen oder Seuchen wurden bereits im Mittelalter Restriktionen für Eheschließungen gelockert. Die augusteischen Ehegesetze, Lex Iulia et Papia, führten ab 18 v. Chr. sogar einen Ehezwang für alle römischen Bürger ein. Unverheiratete verloren das Recht auf Erbschaften, kinderlose Ehepaare das Recht auf die Hälfte der Erbschaft. Paare hingegen, die eine bestimmte Anzahl von Kindern hatten, erhielten Privilegien. So sollte gesichert werden, dass genügend künftige Legionäre geboren würden.
Das größte Manko der Publikation ist jedoch, dass gleichgeschlechtliche Veranlagung als Grund für Kinderlosigkeit und das Ende von Dynastien nicht thematisiert wird. Zwar gab es zu allen Zeiten gleichgeschlechtlich veranlagte Mütter und Väter wie auch die lustvolle Promiskuität ohne Kinderwunsch. Aber manche Dynastie endete mit einer regierenden Königin, die sich weigerte zu heiraten, die Valois, die Medicis, die Wittelsbacher auf dem schwedischen Thron starben aus, weil ihre letzten Vertreter gleichgeschlechtlich veranlagt waren. Aus demselben Grund endete die Personalunion der Niederlande, Englands, Schottlands und Irlands mit Wilhelm III. "Die Fertilitätslogik des feudalpolitischen Systems" (304) übte auch auf Männer einen erheblichen sozialen Druck aus. Die "Rollenerwartung gerade für hochadlige Männer" (311) war erdrückend. Es bestand eine "adlige Reproduktionspflicht" (312, 320). Bei der alternativen homosozialen Artusgesellschaft, Konrads von Würzburg "Alexius" (um 1274), der in der Hochzeitsnacht davonläuft oder Gottfried von Straßburgs "Tristan" (um 1210) scheint es eher um die Camouflage der zutiefst tragischen Situation gleichgeschlechtlich veranlagter Männer in einer extrem theologisch aufgeladenen heteronormativen Gesellschaft zu gehen (362-66). Tristan und Isolde mögen eines der bekanntesten Liebespaare der Weltliteratur sein. Aber der wahrhaft tragische Held ist doch König Marke, der statt zu heiraten, lieber mit dem viel jüngeren Sohn seiner Schwester, Tristan, zusammenleben und diesem auch sein Königreich vererben möchte.
Nicht berücksichtigt wird zudem auch, dass ein erheblicher Teil der vormodernen Bevölkerung, bis zu 40 %, keinen legalen Zugang zur Sexualität hatten, weil Dienstboten, Mägden, Knechten, einfachen Soldaten und anderen die Eheschließung verwehrt wurde. Eine "Kulturgeschichte der Kinderlosigkeit" die nicht auf diesen fundamentalen Umstand eingeht und gleichgeschlechtlich veranlagte Frauen und Männer nicht berücksichtigt, bleibt insgesamt substanziell ergänzungsbedürftig.
Dennoch verdient das Werk von Regina Toepfer eine breite Leserschaft. Es ist ein gut geschriebenes, sorgfältig recherchiertes, paradigmenwechselndes Buch. Thema und methodischer Ansatz sind originell und innovativ.
Wolfgang Burgdorf