Johannes von Müller: "Einen Spiegel hast gefunden, der in allem Dich reflectirt". Briefe an Graf Louis Batthyány Szent-Iványi 1802-1803. Herausgegeben von André Weibel, Göttingen: Wallstein 2014, 2 Bde., 628 S., ISBN 978-3-8353-1383-5, EUR 59,00
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Die "Hartenberg-Affäre" ist eine der schillerndsten Skandalgeschichte der Goethezeit. Der 1802 als Kustos der kaiserlichen Bibliothek Wien lebende international bekannte Gelehrte Johannes von Müller, der "Newton der Geschichte", wie ihn Zeitgenossen nannten, wurde Opfer einer Intrige seines Zöglings Friedrich von Hartenberg. Hartenberg, ein Halbweise, stammte wie von Müller aus Schaffhausen und hatte sich 1796 mit 15 Jahren in die Obhut von Müllers begeben, der sich fortan väterlich um dessen Fortkommen bemühte.
Hartenberg erfand einen ungarischen Grafen Louis Batthyány Szent-Iványi, fingierte in dessen Namen Liebesbriefe an von Müller, die dieser - naiv und von den Liebesschwüren überrumpelt - überschwänglich beantwortete. Im Laufe der elfmonatigen Korrespondenz wechselte von Müller nicht nur Briefe mit dem scheinbaren Grafen, sondern bald auch mit dessen Mutter und Kammerdiener.
Graf Louis erklärte Friedrich von Hartenberg adoptieren und materiell reich versorgen zu wollen. Gemeinsam mit von Müller wolle er sich um dessen weiteren Lebensweg kümmern und vereint mit ihm und Louis' Mutter in familiärer Weise zusammenleben. Wiederholt wurde von Müller veranlasst Geld vorzustrecken.
Im Abstand von wenigen Wochen wiederholte sich dieselbe Situation in abrupt wechselnden Szenerien: Die bevorstehende Zusammenkunft und der Beginn des gemeinsamen Lebens wurden angekündigt, um im letzten Moment durch "höhere Gewalt verhindert zu werden: Seien es die Königin von Neapel oder der ungarische Landtag, Kabinettsminister Colloredo oder der neidische Vater von Louis, ein Sturz des Grafen vom Pferd oder eine dringende Güterinspektion, der Scheintod des Vaters, seine Wiederauferstehung und seine endgültige Beerdigung, die polizeiliche Auflösung eines [...] Geheimbundes von Freunden oder der Tod der Mutter, intrigante eifersüchtige Freunde, diebische und brieffälschende Diener, ein Giftanschlag auf Fritz [von Hartenberg], Louis' Wahnsinn oder eine Intervention der Kaiserin: Müller blieb stets der geblendete 'mystifie', der immer gleich weit vom Glück entfernt gehaltene Tantalus," in einer Spielanordnung, "die nur eine Regel kannte: Zeit und Geld zu gewinnen, ohne dass Müller an Louis endgültig verzweifelte" (II, 113).
Über die Aufzeichnungen des Olivier de la Marche aus dem Herbst des mächtigen Burgund schrieb Johannes von Müller "das Gemählde der Zeit" werde durch sie "sehr lebhaft" (I, 462). Gleiches gilt für die Briefe von Müllers an seinen imaginären Freund. Sie bieten fantastische Einblicke in das gesellschaftliche und politische Leben Wiens in den Jahren 1802 und 1803, während in Regensburg, Paris und St. Petersburg um die endgültige Fassung des Reichsdeputationshauptschlusses gerungen wurde, werden in der Korrespondenz die Kämpfe zwischen Kriegs- und Friedenspartei am Wiener Hof sichtbar. Vor allem aber bieten sie einen tiefen Einblick in das 'schwule' Leben der Zeit, eine Fernsicht, die sich durch Erinnerungen und Schilderungen von lange zurückliegenden Gesprächen mit älteren Gleichveranlagten, bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts erstreckt. Es wird z.B. die Homosozialität in den Garnisonen sichtbar, wo verschiedene Formen der Prostitution üblich waren.
Von Müllers Briefe an Louis zeigen, dass sexuelle Orientierungen und Identitäten wissenschaftliche Schlüsselkategorien sind, die immer relational zu Kategorien wie Stand bzw. Klasse, Ethnie, Religion und Alter zu untersuchen sind. Für alle Fragen, die sich auf dieses Thema beziehen, ist für die Zeit um 1800 bislang keine vergleichbar ergiebige Quelle entdeckt worden.
Die Bedeutung des Briefwechsels bestand zunächst darin, den einsamen von Müller am Leben zu erhalten. "O Du lieber Mensch, der Du mich wieder zum Menschen machst, da ich beynahe zu einem Exzerptheft geworden wäre!" (I, 192) Bald ging es aber um mehr. Von Müller wollte sich gegenüber der Nachwelt offenbaren. "Geliebtester - der Allwissende weiß, alle die mich kennen, sollen es wissen, die späten Geschlechter, die fernen Jahrhunderte sollen es erfahren, dass dies ein wahres Wort ist" (I, 41).
Für den heutigen Geschmack sind die Briefe mitunter geschwätzig und voll romantischer Gefühlsduselei. Damalige Zeitgenossen werden das anders empfunden haben, wie der große Erfolg der Edition der Briefe von Müllers an Karl Viktor von Bonstetten im Jahr 1802 zeigt. Von Müller wollte diesen Liebesbriefwechsel als literarisches Denkmal für die Nachwelt gestalten und verglich ihn mit jenem von Abaelard und Héloïse.
Gegen eine damals geplante Veröffentlichung seiner Korrespondenz mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim wehrte sich von Müller, da die homoerotischen Passagen allzu eindeutig waren. In seiner Korrespondenz mit Louis traf von Müller daher Vorkehrungen, die schon auf die Absicht der späteren Publikation verweisen. Allzu anzügliches wurde auf "Beiblättchen" verbannt, wodurch druckfähige literarische Liebesbriefe blieben. "Nicht ohne Dich will ich auf die späte Nachwelt, nirgendhin ohne Dich" (I, 408).
"Immer lebe ich in Gedanken viel bey der Nachwelt u. möchte gern Beweise hinterlassen dessen was in mir war. Das wird auch unsere Freundschaft ehren" (I, 100). Von Müller glaubte sich durch seinen neuen Freund für die Zukunft von allen Regierungen und Geldgebern unabhängig. "Also schreibt Jean gantz nach seiner Ueberzeügung. Es ist nicht nöthig, es druken zu lassen. Nach uns oder wenn wir anderswo leben, kan es geschehen. Aber gewiß kömt es auf die späte Nachwelt, [...] welche erhebende Aussicht, so Hand in Hand den Strom der Jahrhunderte herunter zu schwimmen" (I, 154). Von Anfang an gestaltete von Müller den Briewechsel als "ewiges Denkmal" der Liebe (I, 179).
Dadurch unterscheidet er sich von jenen Briefen, die Friedrich 'der Große' und Michael Gabriel Fredersdorf ein halbes Jahrhundert zuvor wechselten. Die Briefe Friedrichs und Fredersdorfs sind authentischer, weil sie nur für sich schrieben und nicht für die Nachwelt.
Beeindruckend ist dennoch die Offenheit von Müllers, fern jeder "Briefscheu", wenn die Angst vor dem heimlichen Öffnen der Briefe auch immer wieder durchbrach. Schon damals thematisierte von Müller, dass die Verbindung von zwei Männern niemanden im Weg sei. Die traditionelle Verbindung von Mann und Frau verliere dadurch nichts. Der Briefwechsel sollte das "Andenken" ihrer Liebe "verewigen" (I, 304). "Uns zum Beispiel einer vollkommenden Freundschaft zu machen liegt mir mehr am Hertzen als das vortrefflichste Werk so ich schreiben könnte" (I, 318).
"Wie oft habe ich Thor, diesen Sommer nichts gethan zu haben, gewähnt; als wenn unsere Briefe Dir, mir, u. wenn (etwas purificirt) andere sie einst lesen sollten, nicht mehr, als die gelehrtesten Memoires wären. Diese hätte ich nach Büchern combinirt, jene sind reiner Ausfluß meines Hertzens - sind mein wahres Ich" (I, 358).
"Das glaube ich, daß auch in 2000 Jahren, wann sie auf so späte Nachwelt kämen, kein Mann von Gefühl sie würde lesen können, ohne den Wunsch, von den beiden Liebenden mehr [...] zu wissen" (I, 358). Jetzt seien seine Briefe "Conterbande", da sie eine verbotene Liebe thematisieren. "Aber ein feüriger Jüngling im 22sten Jahrhundert wird uns nach fühlen, u. unsere Profils in sein Petschaft stechen lassen" (I, 294).
Johannes von Müller fand sein Arkadien um 1800 nicht. Er hatte aber ein unerschütterliches Vertrauen, dass sich die Menschenrechtsituation von Gleichgeschlechtlichveranlagten in Zukunft verbessern werde, da auch Menschen wie er und Louis Teil der Schöpfung Gottes sind und wertvolles für die Menschheit leisten. Um dies zu beweisen, finden sich in den Briefen ein 'schwules' Who-is-Who der Weltgeschichte sowie eine homophile Theologie. Mit der Beschwörung der Vergangenheit, der großen Liebenden in älteren Zeiten, geht der paradoxe Versuch einher, der Vergänglichkeit ein monumentales, den Wechsel und Niedergang der Generationen überdauerndes Werk entgegenzustellen.
Durch den Briefwechsel werden 'homosexuelle' Kulturen und Lebensentwürfe am Ende der Frühen Neuzeit deutlich. Sie weichen nicht stark von heutigen Entwürfen ab. Es gab Codes in Kleidung und Verhalten, die sich vom Erkennungszeichen unter Gleichgesinnten zu Manifestationen gleichgeschlechtlichen Verlangens in der Öffentlichkeit wandelten. Und schon Johannes von Müller wollte eine Familie mit Mann und Kind.
Seine didaktische Mission, das Zeitalter zu erziehen, zu erheben und so zu einer Renaissance der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe zu führen, war für die Gestaltung der Briefe entscheidend. Mit den Briefen an Louis hatte von Müller den Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung gleichgeschlechtlich Liebender aufgenommen.
Johannes von Müllers Fernziel war, dass 'Homosexualität' als Lebensform, die das gesamte Erwachsenenalter prägt, als Gegenentwurf zur heterosexuellen Norm, als Veranlagung, nicht kriminalisiert, nicht pathologisiert und nicht mit einem kirchlichen Bann belegt werden sollte. Und er sollte, was die Fernwirkung seiner Briefe an Louis betrifft, Recht behalten. Durch die handwerklich exzellente Edition von André Weibel wurde er, das oft verspottete "Gehirntier" (Arno Schmidt) im 21. Jahrhundert zu einem Helden der Emanzipation.
Wolfgang Burgdorf