Rezension über:

Arvid von Bassi: Karl Dietrich Erdmann. Historiker, Wissenschaftsorganisator, Politiker (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 129), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, VII + 464 S., ISBN 978-3-11-072811-8, EUR 69,95
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Rezension von:
Matthias Berg
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Berg: Rezension von: Arvid von Bassi: Karl Dietrich Erdmann. Historiker, Wissenschaftsorganisator, Politiker, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/36746.html


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Arvid von Bassi: Karl Dietrich Erdmann

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Was als zunächst wenig wahrgenommene Erforschung der Geschichte des eigenen Faches in den frühen 1990er Jahren begonnen hatte und nach stetigem Anstieg der Debatten-Temperatur auf dem Frankfurter Historikertag 1998 zum Ausbruch gelangt war, hat sich ein Vierteljahrhundert darauf (erneut) als eigenständiges Forschungsfeld der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert: die Historiker-Biographie. Erschüttert von der Erkenntnis, dass auch die Altvorderen des Faches sich den Zeitläuften der 1930er und 1940er Jahre im Wesentlichen nicht entzogen hatten, wurden - und werden - seitdem im Kern kritisch angelegte biographische Darstellungen zu nahezu allen großen und mittleren Geistern der Disziplin vorgelegt. Allerdings bleibt es eine fachhistorische Ironie, dass eine Vielzahl der im NS-Staat "führenden" - eine selbstredend zu diskutierende Kategorie - Historiker etwa auf dem Gebiet der Neueren und Neuesten Geschichte bis heute keine Biographen gefunden haben, genannt seien Arnold Oskar Meyer, Wilhelm Schüssler und Willy Andreas.

Denn tatsächlich entzündete sich die Debatte um "Historiker im Nationalsozialismus" vorwiegend an jenen wissenschaftlichen Karrieren, deren Höhepunkt keineswegs vor 1945, sondern in den mittleren Jahren der etablierten Bundesrepublik erreicht war, genannt seien hier Theodor Schieder und Werner Conze. Auch die Rezeptionskarriere des von Arvid von Bassi in der hier besprochenen Kieler Dissertation eingehend gewürdigten Karl Dietrich Erdmann hat einen entsprechenden Verlauf genommen: Bereits 1996 war Erdmanns Rolle in der NS-Zeit aufs Tableau gelangt und kontrovers diskutiert worden [1] - obwohl dieser vor 1945 am Wissenschaftsbetrieb noch gar nicht partizipiert, sondern als Geschichtslehrer ein der NS-Doktrin weitgehend ergebenes (allerdings nie erschienenes) Schulbuch verfasst hatte. Aber Erdmann zählte als Historiker, Wissenschaftsfunktionär und Bildungspolitiker jahrzehntelang zur Führungsriege der "Zunft" - weniger seine fachliche als seine moralische Integrität stand demnach mit der "Aufdeckung" seines Wirkens im NS-Staat zur Diskussion.

Es ist vor diesem Hintergrund zunächst einmal zu begrüßen, dass Bassi seinem Gegenstand mit Distanz und Gelassenheit begegnet, zugleich dem Ausgangspunkt des Interesses an Erdmann hinreichend Aufmerksamkeit einräumt. Nach einer kurzen, alle wesentlichen Punkte benennenden Einleitung wird seine Entwicklung bis zum Untergang des NS-Staates detailliert auf fast 100 Seiten - in etwa ein Viertel der Studie - nachgezeichnet. Als Angehöriger des Jahrganges 1910 der "Kriegsjugendgeneration" zuzurechnen, durchlief Erdmann eine typische Sozialisation, zählte zu den unter seinen späteren Fachgenossen nicht selten anzutreffenden "Bildungsaufsteigern" aus dem protestantischen Kleinbürgertum (während der Pfarrhaushalt als Nukleus der deutschen Historikerschaft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts seine teils vorrangige Stellung verlor). Trotz der Beteiligung an einem jugendbewegt-bündischen Wanderverein und der Gründung einer Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) positionierte sich Erdmann politisch jenseits des völkisch-rechten Lagers, besaß selbst Affinitäten zur Sozialdemokratie. Sein Studium, aber auch sein politisches Engagement, führte Erdmann durch die finale Krise der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Zu diesem Zeitpunkt, das kann Bassi überzeugend darlegen, war Erdmann ein Gegner der NS-Bewegung.

Im Laufe des Jahres 1933 schloss Erdmann nicht nur seine von Wilhelm Mommsen in Marburg als hervorragend bewertete Promotion (zur französischen Geistesgeschichte) ab, er begann auch, sich partiell den Ideen des Nationalsozialismus zu öffnen. Während Generationsgenossen wie Schieder und Conze (promoviert 1933 bzw. 1934) in der Wissenschaft verblieben, trat Erdmann - nachdem er mittels eines DAAD-Stipendiums mehrere Monate in Frankreich verbracht hatte - im Herbst 1934 sein Referendariat im Schuldienst an. Seine enge Bindung an die evangelische Kirche brachte Erdmann in Konflikte mit den Erwartungshaltungen des NS-Staates, auch die zunächst wegen Zweifel an der "Abstammung" seiner Verlobten dispensierte Hochzeit ließ ihn Distanz wahren. In diese herausfordernde Situation ordnet Bassi die Mitarbeit Erdmanns an der Schulbuchreihe "Das Erbe der Ahnen" ein, angesichts der dürftigen Quellenlage mit überaus vorsichtiger, aber insgesamt überzeugender Wertung. Erschwert wird die Lektüre der Studie durch ihre wenig differenzierte Strukturierung. Die fünf Hauptkapitel sind nur auf einer weiteren Ebene unterteilt, d.h. es werden dem Leser Unterkapitel von mittlerer Aufsatzlänge (teils mehr) ohne weitere Zwischenüberschrift zugemutet, was den Zugriff auf einzelne Aspekte einschränkt.

Schließlich schied Erdmann, um seine langjährige Verlobte heiraten zu können, im Herbst 1938 aus dem Staatsdienst zunächst aus. Nach einigen Zwischenschritten und - nachdem die Herkunft seiner Frau geklärt worden war - ersten Überlegungen einer Rückkehr an die Schule (welche ab 1940 erfolgte), trat Erdmann im August 1939 in die Wehrmacht ein, um Offizier zu werden, einen Dienst, welchen er bis zum Kriegsende versehen sollte. In einem längeren Abschnitt wird seine "Ankunft im Westen" nachgezeichnet: Nach kurzer Kriegsgefangenschaft gelang es Erdmann noch 1945, die seinerzeit nicht verfolgte Habilitation wiederaufzunehmen, seit Frühjahr 1946 als Assistent Peter Rassows am Historischen Seminar der Kölner Universität. Eine Tätigkeit, die seine Kräfte vollkommen band, allzu kritische Revisionen der NS-Zeit vermied Erdmann gleich der Mehrzahl seiner Fachgenossen, mehrmonatige Aufenthalte in England ließen seinen Blick in die Zukunft richten. Alle Vorrausetzungen für eine erfolgreiche Karriere waren gegeben. Seit 1950 gab Erdmann als Gründungsherausgeber die universitäre Forschung und schulische Vermittlung verbindende Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" heraus (trat damit in die Fußstapfen Mommsen, der bis 1936 die Vorgängerin "Vergangenheit und Gegenwart" mitgeleitet hatte). 1953 wurde Erdmann an die Kieler Universität auf einen Lehrstuhl für neuere Geschichte berufen, welchen er bis zu seiner Emeritierung 1978 innehatte.

Spät, immerhin war Erdmann bereits 43 Jahre alt, konnte er eine Karriere starten, welche in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft kaum Grenzen kannte. Neben dem enormen Einfluss im Fach selbst vermochte Erdmann als Wissenschaftsorganisator (die Vielzahl der Ämter sind hier nicht aufzuzählen) und auch als Bildungspolitiker erhebliche Wirkung zu erzielen. In drei weiteren Hauptkapiteln bündelt die Studie diese Erfolgslaufbahn, von der "Konsolidierung in der Adenauer-Ära" über Erdmanns "Intellektuelle Erfolge in den sechziger und siebziger Jahren" bis zur abschließenden internationalen Anerkennung in der "Ökumene" der Historiker. Es kennzeichnet den Debattenverlauf im Falle Erdmanns, dass auf die - ob berechtigt oder nicht - aufsehenerregende Skandalisierung seiner Mitwirkung im NS-Staat keine adäquate Gegenüberstellung der weiteren Karriere in der Bundesrepublik gefolgt ist, auch nicht seitdem mit der von Arvid von Bassi vorgelegten Darstellung dafür eine hervorragende Grundlage geboten ist. [2] Die Verstrickung Erdmanns in den und mit dem NS-Staat hat Bassi mit Akribie und differenzierter Wertung aufgeklärt. Für eine noch zu schreibende Historiographiegeschichte der Bundesrepublik in den Jahrzehnten der Systemkonkurrenz bietet seine Studie überdies zahlreiche wichtige Anknüpfungspunkte.


Anmerkungen:

[1] Martin Kröger / Roland Thimme: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik, München 1996.

[2] Selbiges lässt sich für Erdmanns Generationsgenossen Theodor Schieder sagen (der gleichwohl sehr viel tiefer in den NS-Wissenschaftsbetrieb integriert war), vgl. Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013.

Matthias Berg